NESTOR. Stefan Högn

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Название NESTOR
Автор произведения Stefan Högn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783745062748



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die tiefgraue Weite des Wolkenhimmels gerichtet. Lilly ging zu Nestor um zu erzählen was sie erlebt hatte und sah den armen Mann elend an der Reling hängen. Nigglepot war zwar nur seekrank, aber in diesem Zustand weder Hilfe noch brauchbarer Ratgeber. Sie brauchte einen klaren Kopf, also wankte sie mit den Wogen Richtung Bug und stellte sich in den erfrischenden Fahrtwind.

      Die Luft tat ihr gut. Gischt und Regen wuschen für einen Moment ihr schlechtes Gefühl ab und nachdem sie noch einmal tief durchatmete, drehte sie sich um, weil sie sich um Nestor Nigglepot kümmern wollte.

      Lilly Foo suchte trittsicher ihren Weg durch Seile und Takelage, die wirr über das Oberdeck gespannt waren und bahnte sich zielstrebig ihren Weg. Darian versuchte schon seit über einer Stunde verzweifelt das Pferd und den Esel zu beruhigen während Aaron sich an Judith klammerte, die wiederum sich selbst an einem Tau festkrallte, dass den Karren, nebst Gepäck, gegen das Wetter sichern sollte. Roxanna schimpfte wie ein Rohrspatz und war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um wirklich zu bemerken, was vor sich ging.

      Auf dem Weg zu Nestor konnte sie sehen, wie Dias sich daran machte Nestor festzubinden. Ob er das aus Nächstenliebe oder Raffgier machte, war ihr zunächst nicht klar. Aber, als sie näher kam, konnte sie sehen, wie der Kapitän es trotz des Wetters schaffte, ihrem Freund einen Knebel umzubinden. Wenige Sekunden später erreichte sie Nestor und den Seemann.

      »Du störst, Kind!«, brüllte er sie an und als er im gleichen Augenblick den Knoten des Knebels fest angezogen hatte, holte er weit aus, um Lilly mit einem festen Schlag außer Gefecht zu setzen.

      »Gib der kleinen Saures!«, brüllte der Steuermann herüber, der wieder die Ruderpinne übernommen hatte.

      Sie duckte sich unter dem Schlag weg, machte sich die rutschigen nassen Planken des Decks zunutze und flutschte flach geduckt unter dem Arm her. Mit der rechten Hand hakte sie sich in eins der vielen Seile, spannte ihre Muskeln und mit einer schnellen Fußschere schickte sie den Kapitän zu Boden, der heftig mit dem Hinterkopf aufschlug und bewusstlos liegenblieb. Das Didaktafon hatte ihr wirklich perfektes Kung-Fu beigebracht.

      Schnell stand sie auf und entfernte den Knebel aus Nestors Mund. »Wie geht es Dir?«, fragte sie hastig.

      »Ähöhhh ...«, raunte er und übergab sich ins Mittelmeer.

      Die Chinesin schnappte sich die Tasche, die Nestor seit ihrer Ankunft in der Vergangenheit stets bei sich trug, wühlte darin herum und fand schnell was sie suchte: den Desorientator.

      Wenn alle Menschen im Umkreis von zehn Metern wirklich ihr Gedächtnis für kurze Zeit verlören, hätte sie eine Chance. Sie schaute sich um und überlegte kurz. Dann nahm sie den sich übergebenden Nestor Nigglepot in den Arm und drückte den blauen Knopf unten in der Mitte, gerade noch rechtzeitig, denn der Steuermann war schon auf dem Weg, um sich die Chinesin vorzuknöpfen.

      Pluff.

      4 Minuten und 59 Sekunden.

      Lilly wühlte im Lederbeutel des immer noch bewusstlosen Dias herum, fand einen groben Schlüssel und nahm ihn fest in die Hand. Sie hetzte unter Deck und wies den Rhythmusgeber an, sich auf eine der freien Ruderbänke zu begeben, öffnete mit dem Schlüssel das Kettenschloss und rief: »Ihr seid frei!«

      In der allgemeinen Ratlosigkeit kam das zwar grundsätzlich gut an, aber einige fragten ratlos: »Wer sind wir?«, oder »Was bedeutet Freiheit?« Ein Beweis dafür, dass völlige Orientierungslosigkeit echte Weisheit nicht behindern kann.

      Lilly lief wieder nach oben und einige der Ex-Sklaven folgten ihr, wie Touristen auf einem Museumsboot. Oben angekommen lief sie zu Darian, der völlig ratlos bei den Tieren stand, die sich ebenfalls verwirrt ansahen. Sogar Arf hielt sein Maul.

      »Du musst das Schiff steuern!«, rief sie dem Perser zu und schickte ihn auf den Posten des Steuermanns. »Vorher schickst du den echten Steuermann unter Deck ... der wird angekettet!«

      Darian folgte ratlos ihren Anweisungen und auch der Steuermann war völlig desorientisiert. Er tat wie man ihm sagte und ging ein Deck tiefer klaglos seiner neuen Arbeit nach und schloss sich selber mit der Kette fest. Darian nahm den Schlüssel und übernahm dann an Deck das Steuer, ohne zu wissen, wohin er steuern sollte. Dann schnappte Lilly sich das Seil mit dem Nestor festgebunden worden war, und fesselte nun ihrerseits den Kapitän.

      Lilly Foo hatte im Handstreich das Schiff übernommen.

      Nach und nach kamen schließlich fast alle Rudersklaven an Deck, schauten sich erstmal um, diskutierten über die verschiedenen Aspekte der Freiheit, wer sie waren und wie sie nur in dieses grauenhafte Unwetter geraten konnten. Als die fünf Minuten vorbei waren, brach natürlich doch riesige Freude unter ihnen aus, weil sie nun freie, wenn auch nasse Menschen waren.

      Lilly ging zu Darian und sagte: »Verstehst du was vom Steuern?«

      »Bei diesem Sturm kann ich das Schiff wohl gerade halten, aber ich kenne die Gewässer hier nicht. Du wirst den Steuermann wieder zurückholen müssen, nur er kennt die Untiefen hier«, meinte der Perser.

      »Dreck! Daran habe ich ja nun überhaupt nicht gedacht.«

      Sie ging zu Nestor, der sich immer noch elend fühlte.

      »Lilly ... mir geht’s gar nicht gut. Hast du alles im Griff?«

      »Wie man’s nimmt. Wir werden den Steuermann wieder befreien müssen. Darian kennt das Meer hier nicht gut genug um wirklich sicher steuern zu können.«

      Neben den Zeitreisenden lag der Kapitän, der erfolglos versuchte sich zu befreien und seinem Ärger mit wüsten Beschimpfungen Luft machte: »Wenn ihr glaubt, dass er euch Pack helfen würde, habt ihr euch geschnitten!«

      »Das werden wir ja sehen!«, drohte Lilly zurück, aber sicher war sie sich keinesfalls. Dann ging sie und nahm vier kräftige Ruderer mit unter Deck. »Ihr werdet aufpassen, dass der Steuermann gleich keinen Ärger macht!«

      Und sie passten auf, führten ihn nach oben zur Ruderpinne und hielten ihn mit aller Kraft fest, was schwieriger war als man vermuten konnte. Noch immer regnete es heftig, die Planken waren schlüpfrig und das Schiff trieb antriebslos auf den Wellen wie ein Korken. Darian hatte alle Mühe das Schiff einigermaßen auf Kurs zu halten.

      »Was wollt ihr von mir?«, keifte der Steuermann.

      »Du musst das Schiff steuern!«, sagte das Mädchen ein bisschen unsicher, denn sie wusste nicht, ob der Steuermann ihrem Befehl folgen würde.

      »Den Diabolos werde ich tun!«, blaffte er zurück.

      »Du wirst steuern! Anderenfalls werden wir dich hier am Schiff wieder festketten und wenn wir gegen einen Felsen laufen und untergehen, wirst du mit uns absaufen!«, drohte Darian dem Seemann.

      »Dafür werdet ihr bezahlen!«

      »Werden wir nicht! Ich habe mir nämlich überlegt, dass wir diese Überfahrt von euch geschenkt bekommen«, grinste Lilly ihn an.

      Die Strömung trieb das Schiff langsam auf die Felsenküste zu und der Steuermann sah, dass es tatsächlich notwendig war, seine Arbeit wieder aufzunehmen.

      »Aber ohne die Sklaven an den Riemen haben wir keine Chance! Sie müssen wieder rudern, sonst werden wir an der Küste zerschmettert, weil wir hier nicht wegkommen«, gab der Steuermann wütend zu bedenken.

      »Gut. Ich werde mit ihnen reden«, antwortete Lilly und sagte zu den vier Sklaven die beim Steuermann standen: »Wenn er eine falsche Bewegung macht: schnappt ihn euch!«

      »Hoffentlich macht er eine falsche Bewegung!«, grinste einer von ihnen.

      Anschließend lief sie zu den anderen Ruderern und rief: »Hey! Hört mal alle her! Ihr müsst uns noch bis in den nächsten Hafen rudern, sonst treiben wir gegen die Küste und gehen unter!«

      Das allgemeine Gemurmel über die plötzlich unterbrochene Freude der Freiheit war nur von kurzer Dauer, als jeder sah, wie nah die Felsen inzwischen waren. Alle liefen überstürzt unter Deck, schnappten sich die Riemen und stießen sie im Rhythmus der Trommeln immer und immer wieder ins Wasser. Steuerbord schlugen die Riemen schon