NESTOR. Stefan Högn

Читать онлайн.
Название NESTOR
Автор произведения Stefan Högn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783745062748



Скачать книгу

Selber laufen konnte er zwar noch, aber für ihn war die Erfahrung neu, dass jemand anderes die Richtung vorgab.

      Daran musste sich auch Roxanna gewöhnen, denn als Lilly wieder bei ihr und dem Perser ankam, waren die beiden noch immer uneins über die zu treffenden Kaufentscheidungen. Darum wollte das Mädchen zunächst wissen, welche Tiere überhaupt infrage kamen.

      »Wir sollten den braunen Hengst hier nehmen. Seine Zähne sind gut, er lahmt nicht und ist stark«, meinte Darian.

      Roxanna befand eine braun-weiße Stute für besser, konnte aber nicht sachlich begründen warum.

      »Habt ihr denn schon nach den Preisen gefragt?«, wollte Lilly wissen.

      »Der Hengst soll eine Mine und zwanzig Drachmen kosten, die Stute eine Mine und 10 Drachmen«, antwortete Darian nüchtern.

      »Der Preis für den Hengst ist viel zu hoch! Der ist kaum eine Mine wert, verlass dich auf mich, Kind!«, mischte sich die Athenerin ein.

      »Und was ist deiner Meinung nach die Stute wert?«, hakte Lilly nach.

      »90 Drachmen … vielleicht eine Mine.« Roxanna bewegte ihren Kopf abschätzend hin und her.

      »Viehhändler!«, rief das Mädchen laut genug, um gegen den allgemeinen Lärm anzukommen, und selbstsicher genug, um Darian und Roxanna ihren Führungsanspruch zu beweisen.

      Lilly hatte inzwischen gelernt, dass Kinder, je nach Stand in dieser Zeit, oft mehr zu sagen hatten als manche Erwachsene. Aus Sicht dieser Kinder war das sicher eine der wenigen angenehmen Besonderheiten der Antike.

      »Was willst du?«, rief ein unrasierter kleiner Mann mit sonnengegärbter Haut barsch zurück und wühlte abwesend in seinem Geldbeutel, als er auf die Drei zukam.

      »Kaufen, mein Freund!«

      »Hast du Geld?«, fragte der Viehhändler, der nicht wusste, welchen Stand Lilly in dieser Gruppe hatte.

      »Hast du brauchbare Tiere?«, fragte Lilly eben so rustikal.

      »Was darf’s denn sein?«

      »Ich möchte den braunen Hengst haben«, sagte die Asiatin.

      »Der ist nicht ganz billig«, begann der Mann das übliche Feilschritual, das Roxanna sehr souverän zu ihren Gunsten bestritt. Als sie fertig waren, holte der Händler tief Luft.

      »Also gut … 94 Drachmen, aber ich werde meine Kinder in die Sklaverei verkaufen müssen, damit ich nicht verhungere!«

      »Wieviele Kinder hast Du?«, wollte Roxanna wissen.

      »Elf.«

      »Dann stell dich nicht so an. Dafür kriegst du genug zu beißen.«

      Der Händler lächelte zufrieden. Wenn jemand gut feilschen konnte, genoss dieser seine Hochachtung.

      »Wir brauchen auch noch einen Esel und einen Karren«, sagte Lilly und ergänzte: »Darian, such dir einen aus.«

      Und der Perser ging mit Sachverstand auf die drei Tiere zu und entschied sich schnell für den mit den dunkelsten Ohren: »Was soll die graue Stute hier kosten?«

      »Ohh, ich würde sie nur ungern hergeben. Aber wenn ihr mir ein gutes Angebot macht, kann ich es mir ja überlegen«, gab der Viehhändler zurück.

      Lilly blickte zu Roxanna, die das Kommando verstand und mit Darian einige leise Worte wechselte – diesmal ohne Streit, scheinbar reagierte sie auf Anweisungen unkomplizierter als ohne klare Angaben.

      »45 Drachmen … und das ist noch zuviel!«

      »Was redest du Weib? Dieses Tier stammt aus einer edlen Zucht und hat noch nie einem Herrn den Dienst verweigert. Sie ist mindestens das Dreifache wert!«

      »47 und du machst das beste Geschäft deines Lebens!«

      »Du willst mich beleidigen! Wenn du glaubst, dass diese Eselin so wenig wert ist, dann musst du mich für einen Abdecker halten. Unter 80 Drachmen gebe ich sie nicht her!«

      »50 Drachmen und ich lasse dich nicht wegen Betrugs einkerkern!«

      »Vor nicht einmal vier Tagen war ein ausgesprochen kluger Mann hier, der sagte: Ach, hätte ich nur eine Mine über … ich würde diesen Esel sofort kaufen! Und du bietest mir die Hälfte! Du kannst nicht bei Sinnen sein. 70 Drachmen, mein letztes Angebot!«

      »55 Drachmen …«

      »65 … Sonst zahle ich drauf!«

      »60 Drachmen oder wir gehen«, sagte Roxanna.

      »Einverstanden! Aber ihr zahlt sofort!«

      Roxanna nahm die Münzen aus dem Geldbeutel, den Lilly ihr anvertraut hatte und das Mädchen sah ihr genau zu. Nur so konnte sie die Werte der unterschiedlichen Münzen kennenlernen. Erstaunlicherweise wurde der Beutel nur unmerklich leerer. Nestor Nigglepot war selbst im alten Griechenland offensichtlich ein sehr reicher Mann.

      »Wenn ihr noch einen Karren sucht … dann geht zu meinem Schwager Hektor, zwei Straßen weiter, der hat Gebraucht- und Neukarren für jeden Geldbeutel.« Während er das sagte, schielte er auf den prall gefüllten Stoffsack in Roxannas Hand und ärgerte sich, dass er nicht besser gefeilscht hatte. Hier wäre mehr zu holen gewesen.

      »Danke, Viehändler!«, sagte Lilly und wies Darian und die Griechin an, ihr zu folgen. Jeder hatte nun eine Leine mit Tier an der Hand und sie trotteten zu Hektor.

      Der Viehändler hatte maßlos übertrieben, denn sein Schwager führte exakt zwei Eselskarren: einen Neuen und einen Gebrauchten. Lilly entschied sich für das Altfahrzeug, nachdem Darian seinen ordentlichen Zustand bestätigt hatte, und Roxanna handelte Hektor erwartungsgemäß von fünfunddreißig auf siebzehn Drachmen herunter.

      Nestor Nigglepot, Judith und Aaron waren in der Zwischenzeit am Hafen gewesen und hatten sich umgeschaut. Für eine Stadt am Meer lagen erstaunlich wenige Schiffe im Hafen. Die meisten waren Nussschalen, die armseligen Fischern gehörten und wenig seetauglich wirkten. Nur eine große Galeere lag am Kai und wurde gerade entladen. Sklaven trugen säckeweise Getreide an Land oder schleppten volle Tonamphoren von Bord, die gut und gerne 50 Liter Fassungsvermögen hatten und mit Wein, Olivenöl, Honig oder Datteln gefüllt waren. Eine harte Arbeit und wenn die Männer ihre Fracht abluden, gingen sie, noch immer gekrümmt, zurück an Bord um eine neue Last zu nehmen.

      Sie betrachteten das Treiben eine Weile und Aaron fragte Nigglepot: »Herr Nestor? Warum müssen wir eigentlich nach Syrakus?«

      »Ach Junge, das ist eine wirklich komplizierte Geschichte. Kannst du nicht etwas leichteres Fragen, was du auch verstehen würdest?«, blockte Nestor in seiner typischen Art ab.

      »Mhm … wenn ihr von der Insel Korfu kommt, warum seid ihr dann nicht direkt von dort nach Syrakus gefahren?«

      »Noch eine Frage mit einer schwierigen Antwort … nächster Versuch!«

      »Aaron!« Seine ältere Schwester stupste ihn unauffällig an, er möge doch mit der Fragerei aufhören.

      »Aber ich soll doch was fragen«, konterte der Junge und versuchte es wieder: »Ist Lilly schon lange in eurem Besitz?«

      »So etwas fragt man die Herrschaft nicht«, versuchte Judith ihren Bruder zurückzuhalten.

      »Lass’ gut sein, Judith! Lilly ist, je nachdem wie man es betrachtet, schon seit einer Ewigkeit in meinen Diensten«, antwortete er mysteriös und forderte damit natürlich ungewollt die nächste Frage heraus.

      »Was soll das denn heißen?«

      Judith hatte es aufgegeben, Aaron zu bremsen.

      »Warum müssen Kinder eigentlich immer so neugierig sein?«, fragte Nigglepot und wollte, dass es die anderen durchaus hörten.

      »Ich hab’ es dir doch gesagt!«, schaute das Mädchen ihren Bruder böse an. »Der Herr will mit so etwas nicht gestört werden.«

      »Wobei soll ich ihn denn stören? Der steht hier und