Kreuzweg zu anderen Ufern. Wolfgang Bendick

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Название Kreuzweg zu anderen Ufern
Автор произведения Wolfgang Bendick
Жанр Языкознание
Серия Zu Wasser und zu Lande
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753196336



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sich schier vor Lachen.

      „Und ein 1-7-5-er, ist das auch einer, der wichsen tut? “, fragte ich sie etwas zögernd. „1.Hosenladen auf, 7. Hosenladen zu, 5. Vorhaut zurück. Das find ich komisch!“ Dieses Wort, besser diese Zahl, die ich öfters in einer Unterhaltung zwischen Erwachsenen aufgefangen hatte, lag mir schon lange auf der Zunge. Die Kumpels schauten sich an, dann brachen sie wieder in ihr ordinäres Lachen aus, was sonst einen schweinischen Witz begleitete. „Das kannst du ruhig laut sagen! Das ist die Bezeichnung für einen Schwulen, einen Homo, einen von jenen Erwachsenen, die es mit Gleichen treiben. Im dritten Reich unter Hitler, wurden diese als Untermenschen betrachtet. Um die deutsche Rasse rein zu halten, wurde da so ein Paragraph erlassen, der §175, der solches Treiben verbot und mit Gefängnis, später sogar KZ oder Kastrieren bestrafte. Kastrieren war eh eine Weile große Mode, vor allem bei euch Katholiken. Oft entmannte man Kinder, damit sie im Kirchenchor oder später an der Oper weitersingen konnten. Euer heiliger Augustinus hat sich selbst entmannt, um nicht mehr den sexuellen Versuchungen ausgeliefert zu sein. ‚Lieber als Eunuche in das Himmelreich eingehen‘, soll er gesagt haben, ‚als als Sünder in die Hölle!‘“ „Aber wie hat er das gemacht?“, fragte Jürgen. „Vielleicht mit zwei Ziegelsteinen? Paff!...“, vermutete Bernd. „Brr! Wenn ich mir sowas vorstelle, da kommt mir keiner mehr hoch!“, meinte Milou.

      „Und wenn wir zusammen wichsen, sind wir dann nicht auch 175-er?“, entfuhr es mir. Es folge ein kurzes Schweigen. Jeder überlegte. „Ich glaube nicht!“, meinte Milou, der älteste von uns nach einer Weile. „Dazu muss man erwachsen sein, hatte man uns in der Berufsschule gesagt. Offiziell, das heißt, nach dem Gesetz, sind wir ja noch Kinder, solange wir keine 21 sind“. „Wie kommt es dann, dass du schon im Jugendknast warst, du bist doch erst 18?“ „Das heißt ‚sonniger Süden mit gesiebter Luft‘, das ist eine andere Art von Urlaub“, lachte er, „gewissermaßen ein Zwangsurlaub in einem Kellerraum der Residenz in Kempten. Als Kind darfst du allen Scheiß machen und man kann dich nicht einsperren. Die Eltern sind für alles haftbar. Ab 18 bist du ‚beschränkt haftbar‘ für den Unsinn, den du machst (erst seit 1974 ist man mit 18 volljährig und auch wahlberechtigt). Da man dich nicht dauerhaft einsperren darf, alleine schon wegen deiner Lehre oder dem Schulunterricht macht man das an mehreren Wochenenden. Da geht es manchmal ziemlich lustig zu!“, schnitt er auf. „Dort unterrichtet man dich auch, wie die einzelnen Missetaten einzuordnen sind. Die kleinen nennt man Ordnungswidrigkeiten, dafür muss man nicht ins Gefängnis, die großen Straftaten oder Delikte, die wiederum in Vergehen und Verbrechen unterteilt werden. Für Verbrechen wie Raub, Mord oder Vergewaltigung gibt es da ganz happige Strafen. Die happigste war die Todesstrafe. Die ist aber seit 1945, meinem Geburtsjahr, abgeschafft. Diese grausame Art der Bestrafung geht noch auf das Alte Testament zurück, ihr kennt die Bibelstelle sicherlich alle, wo es heißt ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘! Also wer getötet hat, muss gleichfalls sterben. Anfangs, im alten Rom, waren die ersten Christen gegen die Todesstrafe, da es ja meist ihnen selber an den Kragen ging. Als das Christentum dann Staatsreligion wurde, waren sie plötzlich dafür, um die Heiden zu bekämpfen und zur Bekehrung zu zwingen, hat unser Pastor erzählt. Grausam! Deshalb halte ich nicht mehr viel von Religion und dem Drumherum. Und auch nicht von Politik. Die drehen alles so hin, wie es ihnen am besten passt!“

      „Das ist ja richtig gruselig. Hast du schon mal echte Verbrecher getroffen? Wie sehen die denn aus?“, wollte Gustav wissen. „So wie du und ich. Wie ganz normale Menschen. Nur in den Kriminalfilmen erkennt man sie gleich an ihrem Aussehen!“ Das wenn meine Mutter wüsste, dass der Milou schon mal im Bau war! Die ließe mich gar nicht mehr auf die Straße raus! Ich überlegte, ob ich nach einer solchen Unterhaltung und diesem Umgang nicht gleich nochmal in den rollenden Beichtstuhl einsteigen sollte, um meine neuesten Sünden zu beichten. Aber war es überhaupt eine Sünde, wenn man etwas Schweinisches gehört hatte? Eigentlich müsste das doch nur den betreffen, der einen solchen Witz erzählt… Das müsste ich mal den PS fragen. Aber der war schon endgültig abgefahren und diejenigen, die gebeichtet hatten, waren auch weggegangen, wohl um sich nicht wieder mit Sünden anzustecken, indem sie uns zuhörten, zu schlecht war der Ruf der Buben, bei denen ich mich befand!

      Durch meinen Freund Toni erfuhr ich auch, was ein Ablass ist. Das ist der Nachlass von Sündenstrafen, die man durch Gebet, meistens ein kompletter Rosenkranz, für andere erreichen kann. Vorher muss man aber gebeichtet haben. Ablässe mit der Spende einer bestimmten Geldsumme zu verbinden (was den Anlass zu Luthers Reformation gegeben hatte), war nicht mehr erlaubt. Nur durch Gebete konnten Sündenstrafen nachgelassen werden, besonders für diejenigen, die ohne vorherige Beichte gestorben waren und deshalb im Fegfeuer brutzelten. Die Möglichkeit dazu boten die Kirchenfeste, zum Beispiel das Fest des heiligen Martins, des Schutzherrn unserer Pfarrkirche und der 2. August, das Fest der heiligen Portiunkula. Da drängten sich die alten Weiblein um und in der Kirche um einen Ablass für einen lieben Verstorbenen zu erwirken. Aber auch Kinder kamen zur Kirche, geschickt von ihren Eltern, um das Seelenheil eines verstorbenen Angehörigen zu erflehen. Da nur ein Ablass pro Kirchenbesuch und Person möglich war, hatte das Volk einen kleinen Trick erfunden: Man betrat die Kirche jedes Mal durch einen anderen Eingang und verließ sie durch einen Seiteneingang oder die Sakristei. So konnte man mehrere Ablässe an einem Tag erlangen und einer armen Seele zukommen lassen.

      Ja, der Toni meinte es richtig gut mit mir! Manchmal schien es mir, er wolle mich wieder auf den rechten Weg bringen. Gut, wir verstanden uns, hatten immer was zu bequatschen. Er war das, was man einen anständigen Buben nennt. Er hatte noch etliche Geschwister, die auch regelmäßig in die Kirche gingen. Doch waren sie auch Flüchtlinge und zudem eine kinderreiche Familie. Das machte sie schon fast zu Asozialen, und meiner Mutter war es gar nicht so recht, dass ich auch bei diesen aus- und einging. Aber immer noch besser als die Protestanten-Clique!

      DAS MAIENWUNDER

      Es war Mai. Der Wonnemonat Mai. Wo alle Blütenknospen aufgehen, auch die der Mädchen. Deshalb war dieser Monat der Jungfrau Maria geweiht. Jeden Abend fanden in allen Kirchen weltweit Maiandachten statt, bei uns im Dorf kam einmal wöchentlich eine Andacht in der ‚Grotte‘ im ‚Rauns‘ dazu. Dieses Bauwerk ähnlich einem nach einer Seite offenen Gewölbe hatte ein Bauer nach dem ersten Weltkrieg erbaut aus Dankbarkeit, dass er auf der Einzugsliste der Soldaten vergessen worden war. Es ist eine Art Nachbau einer Tropfsteinhöhle im ‚Zuckerbäckerstil‘ mit viel Beton, aber gut gemacht. Bisweilen stiegen wir die engen Treppchen hoch zum ‚Auskundschaften‘ und stibitzten ein paar Kerzenstummel, um an der Iller mit Schwemmholz ein Feuer zu machen…

      Hier im Freien waren die Maiandachten, die abends stattfanden, so bei Sonnenuntergang, sehr romantisch. Es war hauptsächlich junges Volk anwesend, vielleicht, weil für die Älteren der Weg zu weit war. Hier traf man sich unter einem religiösen Vorwand, um mal etwas zu schwofen, Händchen zu halten, oder einen ersten Kuss zu wagen. Denn über allem wachte ja die heilige Jungfrau Maria, sicherlich etwas wehmütig, wenn sie sah, was sie wegen ihrer Jungfrauschaft alles verpasst hatte… Ihr zum Lobe wurden in eintöniger Weise Rosenkränze gebetet. Fünf mal zehn Ave-Maria, wobei man hinter der Nennung des Namens Jesu einen Zusatz einfügte, während die Fingerspitzen der Betenden langsam eine Perle nach der anderen weitergleiten ließen, um im Einklang mit den anderen Betenden zu bleiben. Wie ein Windhauch in den Wanten eines Schiffes schwoll der Klang der vielen Stimmen mal mehr, mal weniger an, um dann, nach einer kurzen Pause erneut zu beginnen, während die Finger eine neue Perle ertasteten. Oft wurde anschließend noch eine Litanei angehängt, weil sich die Betenden einfach nicht aus dieser inbrünstigen Atmosphäre lösen konnten. Das passte natürlich den jungen Leuten. Während im Sonntagsgottesdienst nach einer Stunde schon alle Hinterteile ungeduldig auf den Bänken herumrutschten, um endlich die Kirche verlassen zu können, war hier jede Verlängerung willkommen. Denn gut behütete Töchter aus katholischen Familien hatten nicht viele Gelegenheiten um Buben zu treffen.

      Und hierher schleppte mich Toni. Und landete einen Volltreffer! Denn die hier herrschende Stimmung, diese Mischung von Sonnenuntergang, Kerzenflackern, Weihrauch und Gebetsrauschen drang bis in den Kern meiner Seele ein. Irgendwie war da entweder ein Vakuum gewesen, das sich jetzt auffüllte, oder aber ein Saatkorn von Mystik gelegen, das jetzt zu keimen begann.