Das Gegenteil der Wirklichkeit. Marcel Karrasch

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Название Das Gegenteil der Wirklichkeit
Автор произведения Marcel Karrasch
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754178584



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Beide Versionen gefielen ihm und er wäre fast in einen Postkartenständer gelaufen, hätte ein älteres Paar nicht noch „Vorsicht!“ gerufen. Er bedankte sich und erkannte sie wieder. Es war das Paar, dem er die Koffer in den Zug gehoben hatte. Er grüßte höflich und lief ohne Zeitschrift in Richtung seines Gleises.

      14

      Als Randolf Metzger die Augen öffnete, musste er sich erst orientieren, wo er sich befand. Die Situation war nicht ungewöhnlich für ihn, da er ja oft unterwegs war und sich oft morgens erst einmal zurechtfinden musste. Der Blick zur Zimmerdecke verriet ihm schnell, dass er in seinen eigenen vier Wänden war, da ihn eine selbstgemalte Sonne, die mit einem Auge zwinkert, anlachte. Was ihm der starre Blick nach oben nicht verriet, war, dass er neben seinen noch weitere Atemgeräusche vernahm. Rechts neben ihm lag ein dunkler Haarschopf, aus dessen ihm abgewandter Seite ein stilles und gleichmäßiges Geräusch hörbar war.

      Als es gestern klingelte, hatte er noch keinen rechten Plan für den Abend und seine hilfsbereite Nachbarin, die ihm auch den Postkasten leerte, stand vor der Tür, lächelte ihn an und erkundigte sich bei der Übergabe eines ansehnlichen Stapels Post nach seinen Befinden und ob er nun ein paar Tage länger als gewohnt in der Stadt sei. Von dem Empfinden beflügelt, sich für die vielen einseitigen Dienstleistungen, die er bisher empfangen hatte, zu revanchieren, fragte Metzger, ob er sie gelegentlich als Gegenleistung einmal einladen dürfe. Gewohnt an die floskelhafte Kommunikation, die er aus seinem beruflichen Umfeld kannte und solche Einladungen lediglich als Höflich- oder Nettigkeiten gewertet wurden, war er doch sehr überrascht, als Frau Bieler schlagfertig antwortete, dass sie die Einladung gern annehme, sie sich allerdings noch schnell umkleiden müsse und man dann ja „wieterschnörre chönt“. Ihm gefiel das lustige Schweizerdeutsch seiner schlagfertigen Nachbarin und überlegte, welche Form der Einladung die nette Frau sich nun vorstellte. Ein Abendessen in der Qualität, die er bevorzugte, konnte er sich mitten in Zürich nicht leisten. Aus seinen Notreserven an Lebensmitteln konnte er nichts Adäquates zaubern, was die andauernde Hilfsbereitschaft eventuell gefährdet hätte. Als er nochmals abwog, ob eine Dose Thunfisch, das halbe Kilo Standardpasta und die paar eingefrorenen Kräuter doch reichen würden, klingelte das Telefon und Frau Bieler fragte, ob neunzehn Uhr passen würde und sie ein gute Bar für den Start kenne, falls sie ihn mit ihrer Spontanität überrascht hätte. Er sagte: „Das ist ein guter Plan!“

      OK, er hatte innerhalb von ein paar Minuten jegliche Selbstbestimmung aus der Hand gegeben. Frau Bieler war wahrscheinlich ein wenig älter als er, eventuell auch schon über vierzig. Was für ein Etablissement würde sie vorschlagen? Fing es ab vierzig schon an, dass es ein wenig plüschig wurde oder ging man eher in die Beitz um die Ecke? Er überlegte welchen Kontervorschlag er unterbreiten könnte, schließlich ist er ja der Einladende. Die Rimini Bar schien ihm angebracht, da sie eine gewisse raue Herzlichkeit besaß, aber gute Drinks zu, für Schweizer Verhältnisse, erträglichen Preisen bot. Dazu konnte man auch ein ordentliches Club Sandwich essen.

      Sie schlug die Bar Corazon vor und es wurde ihm ein wenig unangenehm. Er kannte die Bar zwar nicht, aber der Name lies der Phantasie einen gewissen Raum, den er für heute und mit der Nachbarin nicht auszufüllen gedachte.

      Die Bar war klasse. Als sie eintraten und er die lange rechtwinklige Theke sah, die Ecke schön rund geschwungen, ging sein Herz auf. Der Name der Bar hatte ihn damit schon einmal persönlich berührt. Judith, so wurde sie vom Barkeeper begrüßt, dirigierte ihn an die kurze Seite der Bartheke, was seiner persönlichen Vorliebe ebenfalls entsprach. Diese Wahl gestatte es, dem Barmixer schön auf die Finger zu schauen, um zu lernen, aber auch ein wenig auf die hygienischen Verhältnisse zu achten. Zum Start immer einen Klassiker, Daiquiri, einen trockenen Martini oder einen Whiskey Sour, da konnte im Normalfall nichts schiefgehen.

      Eine Bewegung neben ihm im Bett riss ihn aus seinen Erinnerungsfetzen des gestrigen Abends. War doch etwas schiefgegangen?

      15

      Der Zug war bereits eingefahren, als Frank Landweil das Gleis erreichte. Männer in Anzügen und Frauen in modischen Kleidern stiegen aus. Er hatte Probleme einzuordnen, zu welchem Anlass sie gekleidet waren. Er beobachtete nur das Szenario und lächelte bemüht den vorbeiziehenden Tross an. Er fühlte sich schäbig gekleidet im Vergleich zu den vorbeilaufenden Menschen, was natürlich eine Farce war, dennoch warf er sich schnell seinen Mantel über, um eine wenig Restwürde zu wahren.

      Nach einer überdrehten Minute der Regungslosigkeit stieg er in den Zug ein und suchte seinen Platz. Auch hier hatte er wieder einen am Fenster von der Bahnschalter-Dame bekommen und er fand ihn schnell. Das nächste Déjà-Vu ereilte ihn und er nahm schnell Platz, bevor ihn auch die nächste Verzweiflungswelle erfassen konnte. Er stellte sich bildlich vor, wie eine Welle zwischen den Plätzen vorbeirollte und er meinte, gerade das Rauschen der nächsten zu vernehmen, als eine junge Dame sein Ticket sehen wollte. Erneut registrierte er erst jetzt, dass die bereits losgefahren waren. Die Kontrolleurin war Mitte Zwanzig und sah ausgesprochen gut aus. Frank Landweil gefiel sie. Seine nun schon längere Zeit andauernde Phase des Enthusiasmus erlaubte es ihm nonchalant einen kleinen Flirt einzuleiten.

      „Entschuldigen Sie, ist Kontrolleurin nun der neue Stewardess-Beruf?“, ein peinlicher Versuch, zudem wackelte seine Stimme am Ende der Frage wie die eines Pubertierenden.

      „Wie darf ich das verstehen?“, entgegnete die Frau wenig beeindruckt.

      „Sie sind hübsch und jung, das sind doch ideale Voraussetzungen für eine Stewardess“, antwortete er und suchte gedanklich nach dem Idioten, der diese Sätze sprach.

      „Oh, sehr freundlich von Ihnen. Aber nein, ich mache das nur als Nebenjob, ich studiere Kunstgeschichte“, gab sie zu seiner Verwunderung strahlend zurück.

      „Bleiben Sie bis Mailand im Zug?“, fragte nun wieder der richtige Frank Landweil.

      „Ja, dort habe ich zwei Stunden Aufenthalt bevor es wieder zurückgeht“, er verstand den Hinweis.

      „Darf man Sie auf einen Kaffee einladen?“

      „Ich habe in einer Stunde Pause, in Wagon Nummer 7 ist unser Boardbistro“, gab sie zurück, während sie schon den nächsten Fahrgast kontrollierte.

      Er wurde noch euphorischer. Er hatte plötzlich wieder das Gefühl der absoluten Überlegenheit gegenüber der Situation. Er war in seinem Terrain unterwegs. Unbeschwerte Schmeicheleien gingen ihm flüssig von den Lippen. Mitte Zwanzig war dazu noch seine Zielgruppe. Er schaute wieder aus dem Fenster und sah, wie die Landschaft vorüberflog, unterbrochen von schwarzen Tunnelsequenzen. Er begann erneut von Siena zu träumen und schlief ein.

      Er stand in einer kleinen Gasse vor einem Eiscafé, von dem er meinte, es aus seiner Kindheit zu kennen. Vor ihm eine Familie mit einem kleinen Jungen. Der Kleine bekam eine Kugel Erdbeereis in der Waffel und strahlte sein Eis an, wie es nur Kinder können. Dann dreht er sich ruckartig um, kippte das Eis zur Seite, sodass die Kugel zu Boden fiel. Er schaute ihn an und begann, ihm mit der spitzen Seite seiner Waffel in den Bauch zu stechen. Frank Landweil war überfordert mit der Situation, als der kleine Junge plötzlich mit einer bekannt klingenden weiblichen Stimme „Hey Sie!“ sagte.

      Frank Landweil schreckte aus dem Traum und blickte in das lächelnde Gesicht der Kontrolleurin. Er blickte erschrocken auf seine Uhr. Es war eine halbe Stunde vergangen, er hatte nicht verschlafen.

      „Ich mache schon ein wenig früher Pause und dachte mir, dass ich Sie abhole“, durchbrach sie die Stille. „Ich heiße übrigens Monique“, schob sie nach.

      „Maximilian, freut mich“, entgegnete Landweil.

      Es war nicht unüblich, dass er sich mit einem anderen Namen bei Frauen vorstellte, den Namen seines Vaters zu verwenden, hatte er jedoch noch nie gewagt.

      16

      Warum ihn bei der Erkenntnis, nicht allein im Bett zu liegen, der Gedanke durchzuckte, dass etwas schiefgelaufen war, ging mit seinem seit Jahren verinnerlichten