Das Gegenteil der Wirklichkeit. Marcel Karrasch

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Название Das Gegenteil der Wirklichkeit
Автор произведения Marcel Karrasch
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754178584



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Himmel erhellte sich ein wenig. Sein Kopf fühlte sich leer an. Es war jener paradoxe Moment, in dem ein Sturm an Gedanken und Eindrücken durch den Kopf fegten, man aber keinen fassen konnte. Als versuche man, Schnee zu fangen. Und doch hallte es dumpf in seiner inneren Ödnis, wenn er einen Schluck von seinem Kaffee trank. Es verging fast eine Stunde, die er in diesem transzendenten Zustand in seiner Küche verbrachte. Als sich sein mentales Unwetter zu legen begann, kramte er sein Handy aus der Innentasche seines Jacketts hervor und rief im Büro an. Er verwendete die gleiche Ausrede wie gestern bei Marie. Er müsse ein paar Tage weg, helfen alles zu organisieren, für seine Familie da sein. Frank Landweil war jemand, dem man gerne freie Tage gewährte, nicht zuletzt seiner Position in der Firma geschuldet und dem jahrelang nicht eingereichten Urlaub. Er überlegte kurz, ob er seine verbalen Entgleisungen des Vortages gleich mitentschuldigen sollte, ließ es jedoch bleiben. Mischek und Zufer waren weder von ihrem Selbstbewusstsein noch von ihrer Stellung in der Hierarchie in der Lage, ihm ernsthaft Probleme bereiten zu können. Die beiden Kunden, die er höchstwahrscheinlich verärgert hatte, waren da schon eher ein Problem. Allerdings eines der Zukunft, nicht seiner Gegenwart.

      Nach dem Rasieren und seiner üblichen Badroutine kleidete er sich mit Hemd, Kaschmirpullover und Anzughose. Einen Stil, den Landweil als casual bezeichnen würde, dabei war nicht mal Freitag. Er nahm seinen Übergangsmantel vom Bügel und verließ die Wohnung. Es war immer noch früh und er traf weder im Treppenhaus noch in seiner Straße jemanden, den er kannte. Er war dankbar, in seinem Zustand wusste er nicht wie er auf einfache Fragen antworten sollte. Die Straßenbahn war spärlich gefüllt, Frank Landweil stand trotzdem. Er empfand das Stehen in öffentlichen Verkehrsmittel als Privileg, nicht als Nachteil. Es zeigte, dass er körperlich fit war, dass er seinen Platz anderen anbot, dass er ein Gentleman war - sein wollte. Am Hauptbahnhof stieg er aus.

      Auf dem ganzen Weg hierher hatte er seine Entscheidung über ein mögliches Ziel vertagt. Jetzt war er gezwungen zum Handeln. Er blickte auf die große Anzeigetafel und dachte nach. Eine andere Stadt, gar ein anderes Land? Nach langem Abwägen von Für und Wider hatte er einen Entschluss gefasst. Er lief zielstrebig Richtung Gleis 8, entschied sich für das Bahnhofscafé und suchte einen Platz in einer hinteren Ecke. Das Café war etwas zu schick für einen Bahnhof, es hatte etwas von einem Wiener Kaffeehaus. Shabby chic, das hätte Zufer jetzt dazu gesagt. Ein verschlafener junger Mann kam auf ihn zu und fragte, ob er das Business-Frühstück haben wollte. Er bejahte, wie er es immer tat, wenn ihm etwas in einem Restaurant nahegelegt wurde. Oder eben in einem Bahnhofscafé an einem Mittwochmorgen.

      6

      Er fühlte sich wie im Mathematikunterricht. Sein Vortrag hatte etwas von einer Gleichung mit zwei Unbekannten. Eigentlich waren es noch viel mehr, aber die offensichtlichen Unbekannten, die in seinem Fall treffender als Gefahrenstellen bezeichnet werden sollten, waren der Gast mit der vermeintlichen Lebensmittelallergie und seine Eroberung von vor drei Tagen. Größere Ausfälle oder nennen wir es hier lieber „direkt spürbare Unverträglichkeiten“ hatte es anscheinend nicht gegeben. Alle Stühle waren besetzt und der schnelle Blick in Küche hatte darauf hingedeutet, dass niemand größere Reste auf den Tellern übriggelassen hatte. Trotz der zusätzlichen Herausforderungen - Probleme kannten heutzutage ja nur Pessimisten oder Querulanten - genoss er diese Situationen. Es war einfach faszinierend, mit welch kleinen Details in Aufzug, Accessoires und Sprache man eine selbstbestimmte Distanz schaffen und dadurch leichter die Spielregeln bestimmen konnte. Er hatte sich heute für die dunkle Kochjacke, das Symbol der modernen Küche, entschieden. Das sah mehr nach Fusion-Küche, denn nach französischer „ich will Sternekoch sein“ aus. Das Bier in der Hand unterstrich seine Avantgarde, denn alle, außer den Autofahrern, tranken guten, ja sehr guten Wein.

      Er startete mit der Erzählung an einer rauen Küste, den Menschen, die schon seit Jahrhunderten dem Fischfang nachgingen und die Seele des Meeres kannten. Er zog einen weiten Bogen zu den schreienden Möwen, das verlieh dem Fisch nachträglich in der Vorstellung der zufriedenen und satten Gäste Frische und das verbal unterstrichene unvergleichliche Geschmackserlebnis, das sich jeder bei dem stolzen Preis, den natürlich nur die Gastgeber kannten, erhoffte. Die Gefahr der Lebensmittelallergie im Hinterkopf wollte er das Thema Gewürze, denn daran konnte er sich noch erinnern, betont zurückhaltend behandeln. Hier musste er die Kurve kriegen und aus der Not eine Tugend machen. Was liegt da näher, als den Fisch in seinem quasi natürlichen Element garen zu lassen und die besonderen Gewürze vermeidend nur das grobe Meersalz zu erwähnen. Dass er in diesem erfundenen bretonischen Städtchen erst als Gast und dann gleich für mehrere Wochen der Köchin zur Hand ging, malte ein rundes und authentisches Bild. Er war mit sich bis dahin zufrieden und lief Gefahr, sich in eine Reise an der Atlantikküste entlang durch verschiedene gastronomische Betriebe und Privathaushalte im südlich gelegenen Bordeaux zu verlieren. Die plötzlich einsetzenden ruckartigen Bewegungen des gut aussehenden Mann mit Bart rissen ihn aus der Erzählung. Dieser atmete plötzlich stoßartig und er befürchtete, der eben noch so wortreich beschriebene Fisch könnte als Puzzle wieder auf dem Tisch zum Leben erweckt werden. Glücklicherweise konnte dieser die unappetitliche Reinkarnation unterdrücken und wurde leichenblass von seiner Begleiterin aus dem Zimmer geführt.

      Das nennt man Glück oder war es mathematisches Geschick, eine Gleichung quasi in einem Zug zu lösen? Die Lebensmittelunverträglichkeit und seine ungewollte Detektivin waren in einem Zug zum Ergebnis gelangt, seine literarische Nachbetrachtung des Menüs nicht länger zu belasten. Er konnte sich nun auf das normale Drehbuch konzentrieren, die Geschichte mit Zufällen und Anekdoten würzen und die Köder in den See schmeißen und dabei beobachten: Wem hat es besonders geschmeckt, wer war sein Feind, der selbst sowieso alles besser konnte, und wer war der Schlüssel für seinen nächsten Auftritt? Den Gastgebern sah man eine gewisse selbstgefällige Zufriedenheit an, also war alles ihren Erwartungen entsprechend gelaufen. Auf der Vier, linke Seite, saß eine attraktive Mittvierzigerin, die bis jetzt sichtlich interessiert seinen Ausführungen gefolgt war und wahrscheinlich versuchte, die Dörfer und Restaurants zu verorten und mit diesen imaginären Orten vielleicht ähnlich schöne Erinnerungen verband. Hinten, am zweiten Platz an der Stirnseite, saß der Skeptiker, das klassische Magengesicht, der eigentlich nur aß, um satt zu werden, den aber die gesellschaftlichen Verpflichtungen zwangen mitzuspielen. Er beeilte sich, seine Geschichte zu Ende zu bringen, da er schon genug Angeln ausgeworfen hatte und fürchtete, dass die beiden Unbekannten aus der mathematischen Gleichung wieder auftauchen könnten. Und außerdem war sein Bier leer.

      7

      Zwei Brötchen, Erdbeerkonfitüre, Nuss-Nougat-Creme, eine Scheibe Kochschinken, eine Scheibe Salami, zwei kleine Päkchen Butter und ein Kaffee waren das Business-Frühstück, das Landweil um halb acht zu sich nahm. Er aß lustlos, mehr prophylaktisch, um besser denken zu können. Er musste weg. Wieder hatte ihn die Zukunft schneller eingeholt, als es ihm lieb war. Er bestellte noch einen Kaffee, nachfüllen lassen war kostenlos, doch er tat es nur, um Zeit zu gewinnen. Sekundenbruchteile nachdem er dem jungen Mann zugewinkt hatte und seine leere Tasse hob, um kurz darauf zu zeigen und anschließend den Zeigefinger zu heben, hatte er den Kampf gegen die Zeit gewonnen. Seine Gedankenbahnen ordneten sich, es wurde ein Netz mit klaren Strukturen und Wegen – er musste nur loslaufen und die Richtung wählen.

      „Nach Siena möchten Sie? Der nächste Zug geht in 40 Minuten, sie müssen in Bern, Mailand und Florenz umsteigen, das dauert knappe elf Stunden. Wollen Sie das wirklich?“, die Dame am Bahnschalter schaute ihn fragend und sichtlich irritiert an. Den Mann, der etwas zu gut gekleidet war für eine Bahnfahrt, die einen halben Tag dauerte, der kein Gepäck bei sich hatte und zudem nicht aussah, als ob er sich ein Flugticket nicht hätte leisten können.

      „Ja, bitte! Das ist perfekt. Ich mag Bahnfahrten sehr gerne“, antwortete Frank Landweil und lächelte dabei, als würde er gleich in die Karibik fliegen.

      Das Gleis 15 lag im hinteren Abschnitt des Bahnhofs. Hier standen keine Pendler, keine Mittzwanziger mit Rollkoffer und blauem Anzug. Mit ihm warteten noch ein älteres Ehepaar und eine Familie mit zwei Kindern auf den Zug. Die Eltern der Kinder waren unwesentlich älter als er selbst. Er beobachtete die junge Familie und wusste nicht, ob er neidisch oder froh sein sollte. Dem kleinen Jungen, er musste