Tschapka. Mike Nebel

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Название Tschapka
Автор произведения Mike Nebel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748592488



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Einen Kiosk zu haben, fand ich schon immer gut. Man trinkt das, was man verkauft und raucht das, was in den Regalen liegen bleibt. Ich trank an diesem Tag achtzehn Wodka-Colas, allerdings ohne Pause zwischen Mittag und Nachmittag, also in bestem Tempo in einem durch. Billigstes Gemisch am Kiosk. Ich dachte wieder an die traumatische Vertreterkommission, die zu Beginn meiner Prüfung in meinem Kopf herumspukte. Die Kommission war zusammengekommen, weil ich Kunden über den Leisten gezogen haben soll. Was ich ihnen verkaufte, war mir nicht klar, war mir anfangs noch nicht klar, doch musste es etwas sehr Spezielles gewesen sein. Etwas, was nicht in einem der üblichen Läden angeboten wird, beispielsweise in einem Möbelhaus, oder in einem Elektrofachhandel, sondern ich musste etwas feilgeboten haben, was ich mit mir schleppte. In einem Koffer. Ein Aktenkoffer voller Prospekte und Verträge. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich, wie ich an Wohnzimmertischen die Schlösser aufschnappen lasse, meine Kataloge ausbreite, und Geschichten über die Unbeschreiblichkeit dieses unverzichtbaren Produkts erzähle, um schließlich den Kuli mit selbstsicherem Blick dem Gatten des ahnungslosen Ehepaars zur Unterschrift rüberzureichen. „Heinz, sollen wir wirklich? Bist du dir sicher, dass wir uns nicht finanziell damit übernehmen? Und brauchen wir das überhaupt?“ „Gertrud, Herr Luschke hat uns doch alles so gut erklärt, wir können ihm vertrauen.“ Genauso könnte es sich abspielen. Ein Vertreter von, keine Ahnung was, vielleicht von Markisen für die Veranda derer, die sich ihre Reihenhäuser in den Vorstädten gerade so leisten können. Der Vertreter biss sich in meinem Kopf fest. Vielleicht hatten diese Leute nicht den allerbesten Ruf – warum saß ich sonst traumatisch in dieser Kommission? –, doch um meinen Ruf machte ich mir am wenigsten Sorgen. Wer keinen hat, dem stehen alle Türen offen. Vielleicht werde ich Spirituosenvertreter und könnte meinem Kioskmann jede Woche einen Besuch abstatten.

      In den Wochen und Monaten nach meiner Prüfungsbruchlandung zeigte sich mir allerdings, wie steinig der Weg zum kleinen Ruhm sein kann. Und beiläufig am Rande erwähnt: Egal mit wem ich sprach, egal, wem ich voller wildem Enthusiasmus von meinem Vorhaben erzählte, die Reaktionen waren immer dieselben. Sprachloses, angewidertes Kopfschütteln war noch die höflichste Form meiner Gegenüber, oft wurde ich überschüttet mit Kommentaren, die nur auf eines hinausliefen: Wie tief kann ein Mensch sinken, wie widerwärtig müssen die Gedanken in meinem Kopf sein, doch am wenigsten verstand ich: Was stimmt mit dir nicht Ronny?

      Während Violetta – sie war die Einzige, die sich ernsthaft um hilfreiche Bemerkungen bemühte – mir an die Hand gab, dass ich menschliche Regungen wie Skrupel und Mitleid entwickeln und empfinden würde, wobei sie vollkommen recht damit hatte, und schon allein diese Umstände ihrer Meinung nach ausreichen würden, um mich als wenig geeignet für einen schmierigen Vertreter betrachten zu müssen, war es mit Sofie ganz anders. Sofie sagte nur in abfälligem Ton: „Solltest du tatsächlich irgendwann einmal im Eingangsbereich einer Shopping Mall mit deiner dämlichen Art Teppich Schampoonierer anbieten, ich sag´s dir schon jetzt, dann werde ich dich nicht kennen, du wirst Luft für mich sein!“ „Natürlich liebe Sofie, darauf können wir uns einigen, auch du wirst in diesem Moment Luft für mich sein, obwohl ich dir nur zu gern eine Flasche Shampoo für deine schäbigen Läufer angedreht hätte.“

      Mein erstes Vorstellungsgespräch war eine einzige, für mich nicht verstehbare Merkwürdigkeit. Ich hatte eine Einladung zu einem Gespräch für einen Montagmorgen um 09.00 Uhr erhalten. Irgendwo im Norden von Berlin. Auf einem Flohmarkt erstand ich Tage vorher meinen ersten Aktenkoffer. Nicht die schmale Variante, eher die breite und wichtig erscheinende Ausgabe. Genau so stand er – neben dem Verkaufstisch des Händlers mit den unzähligen Kunstlederartikeln, meist Geldbörsen und Handtaschen – einsam in einer Pfütze und wartete nur darauf, von mir für fünf Mark mitgenommen zu werden. Diesen, meinen ersten Aktenkoffer. Er war nicht schwarz wie all die anderen, er war braun, zwar etwas durchnässt, doch die Verschließschnapper und Zahlenschlossrädchen waren aus Messing und wirkten sehr edel. Oder es war pures Gold? Der Zahlencode war ganz einfach: 999. Für beide Schlösser. Nur 999. Dies konnte sich jeder Idiot merken. Das Öffnen des Koffers war eine erhabene Prozedur. Das Klacken der Verschließsysteme war laut und tief, nicht dünn und billig. Synchrones Öffnen oder innerhalb einer zehntel Sekunde versetzt – wo und wann mir danach war, ließ ich die Schnapper meiner Neuanschaffung aufschnappen, oft auch im Takt der Gleise während meiner U-Bahn Fahrten. Und der Koffer roch nach afrikanischem Büffelleder. Von der sengenden Steppenhitze warf das Leder fast Blasen. Mit diesem Koffer hätte ich nackt und betrunken durch die Straßen torkeln können, die Leute hätten mir trotzdem noch den seriösen Vertreter abgenommen.

      Als ich später einmal im kleinen Kreis mein Erlebnis mit dem nicht stattgefundenen Vorstellungsgespräch erzählte, erntete ich von einigen nur Hohn und Spott. „Bist du so blauäugig Ronny, dass du diesen Trick nicht durchschauen konntest?“, war der entscheidende Vorwurf, den ich mir anhören musste. Was hatte ich damals nicht durchschaut? Alles hatte sich wie folgt abgespielt:

      Bei der Firma handelte es sich um eine Firma, die mit dem Verkauf von Büro- und Schreibartikeln beschäftigt war. Jeden Tag. Kulis und Bleistifte beispielsweise. Oder Schnellhefter. Die gängigen Artikel der Schüler, Studenten und Bürogestalten. Ich erhielt im Einladungsschreiben auch die Information, eine Seitentür, linke Hand vom Haupteingang, kurz um die Ecke, zu benutzen. An der Tür bitte läuten und dann würde diese, bei einem ertönenden Surren, zu öffnen sein. Das mit dem Surren stand so zwar nicht in dem Brief, aber es surrte tatsächlich, und ich trat durch eine Aluminium- oder Stahltür in einen Raum, der stark an ein Wartezimmer bei den Doktoren erinnerte. Was mich etwas irritierte, war, dass dieser Raum nicht automatisch irgendwohin führte, sondern er war vollkommen abgekapselt. Nach allen Seiten. Keine Fenster, folglich kein Tageslicht, nur eine Neonröhre an der Decke sorgte an einem Sommermorgen für künstlich grelles Licht. Direkt gegenüber der massiven Eingangstür war eine zweite Stahltür in die Wand eingelassen, leider ohne eine surrende Taste. Der Stahlkoloss musste der Zugang tief ins Innere der Firma gewesen sein, hinter dem ich eine Empfangsdame vermutete, die sicher darauf wartete, mir einen Begrüßungskaffee anbieten zu können. Nur leider waren wir durch zehn Zentimeter dicken Stahl getrennt. Ich war hermetisch abgeriegelt, und zwar so hermetisch abgeriegelt, dass ich nicht einmal einen kleinen Blick auf diejenigen werfen konnte, die sich gerade damit beschäftigen, eine noch nie da gewesene Verkaufstaktik für das neue Radiergummi-Sortiment zu entwickeln. Es war ein Wartezimmer, welches ohne Probleme auch als Schutzraum vor möglichen Angriffen seinen Zweck erfüllen konnte. Um einen großen Glastisch konnten ein Dutzend Besucher oder Schutzsuchende Platz nehmen. Ich nahm Platz und kramte in den ausgelegten Zeitschriften. Autohefte, ein paar Illustrierte, auch was Spezielles für die Frau von heute und auf Hochglanz polierte Wirtschaftsmagazine. Ich las etwas Spezielles für die moderne Frau und stellte fest, die moderne Frau mag den modernen Mann, und im Handumdrehen war die erste halbe Stunde rum. Ohne dass irgendetwas passierte. Ich hatte um 09.00 Uhr einen Termin und es war nun mittlerweile 09.30 Uhr. Ich vertrat mir die Beine und machte zehn Kreise um den Tisch. Jetzt war es gerade mal 09.32 Uhr, trotz langsamer Gangart um den Glastisch. Hatte man mich vergessen? Nur, wie kann eine moderne Firma, in der moderne Frauen und Männer ihre Schreibartikel mit noch moderneren, ausgeklügelten Verkaufsstrategien an die Schreib- und Malwütigen bringen, den angehenden Top-Vertreter Ronny Luschke derart lang warten lassen, oder gar komplett schon aus ihren Gedanken gestrichen haben? Einen Augenblick später bemerkte ich etwas, was der ganzen Angelegenheit für mich einen neuen Blickwinkel gab. Ich sah Kameras. Zwei Kameras, die gegenüberliegend an der Decke in den Ecken angebracht waren. Ich zog einen Stuhl in Position, stellte mich drauf und nahm eine der beiden genauer unter die Lupe. Ich blickte aus nächster Nähe direkt in die Linse, konnte nicht erkennen oder hören, ob sie lief oder nicht, und versuchte am Gehäuse etwas zu drehen. Es war nichts zu machen, sie ließ sich nicht hoch zur Decke bewegen. Vollkommen festgezogen das Teil. Und still war sie, wie tot war die Kamera. Doch das hatte nichts zu bedeuten, überzeugt war ich davon, dass ich beobachtet wurde, dass man mich unter die Lupe nahm. Und nicht nur das – ich war mir sicher, irgendwo in einem Kontrollraum saßen sie an einem Pult, sahen mich und betrieben längst eine merkwürdige Tiefenanalyse.

      „Frau Psychologin, was sagen Sie zu diesem Fall?“

      „Ich habe ein derartiges Verhalten noch nicht gesehen, mit diesem Mann stimmt etwas nicht, aber lassen sie uns nicht vorschnell urteilen, sehen wir, wie er sich weiter verhält.“ Nur so konnte ich es mir vorstellen. Ich sah mein Spiegelbild