Название | Tschapka |
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Автор произведения | Mike Nebel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783748592488 |
„Nun, Herr Luschke, es geht um folgendes: Ihnen wird vorgeworfen, systematisch und in großer Anzahl, Kunden im Nordhessischen mit überzogenen Preisen und falschen Angaben zu Materialstärken betrogen zu haben.“
„Wo war das? Ich bin noch nie im Nordhessischen gewesen. Kunden? Ich habe noch nie irgendetwas an irgendjemandem verkauft. Materialstärken? Was in aller Welt sind Materialstärken?“
„Herr Luschke, natürlich können wir ihre Aufregung verstehen. Dies ist für Sie sicherlich keine alltägliche Situation. Aber verstehen Sie bitte auch uns. Wir treten immer genau dann auf den Plan, wenn es in der Branche zu Fehltritten einzelner kommt. Häufig sind es leider auch Vertreter wie Sie, die gutgläubigen Kunden gegenüber nicht ganz sauber arbeiten, um es mal etwas höflicher auszudrücken.“
„Vielleicht war das alles im nordhessischen nur ein böser Traum, und vielleicht ist auch das hier mit Ihnen nur ein schlechter Traum.“
„Herr Luschke, ich werfe Ihnen jetzt dieses zusammengeknüllte Kaugummipapier an den Kopf und Sie sagen mir dann, ob dies ein Traum ist oder nicht.“ Ich spürte einen leichten Aufschlag an meiner Stirn.
„Sie haben recht, es ist kein Traum. Nur, was ist es dann?“
Erst jetzt wachte ich tatsächlich auf. Und wenn es schon kein echter Traum war, hatte sich unzweifelhaft mein Gehirn für einige Momente aus dem tatsächlichen Geschehnis um mich herum abgemeldet und mir heimtückisch eine andere Szenerie vorgespielt. Eine Szene, die ich irgendwo bereits einmal sah, ein Verhör, welches mir nicht fremd war. Und dann fiel es mir wieder ein, und ich sah Danny de Vito vor mir: Danny in einer Anhörung, Danny, der nach Worten und Erklärungen rang. Ich nickte den vor mir sitzenden Herrschaften bestätigend zu, da ich mir nun sicher war, alles zeitlich und gedanklich sauber zuordnen zu können.
„Herr Luschke, ist mit Ihnen alles in Ordnung? Sie wirken etwas abwesend. Können wir beginnen?“
„Ja, mit mir ist alles in Ordnung. Ich hatte eben gerade nur …bitte, nur um ganz sicher zu sein, dies ist nicht eine Kommission, die Betrügern der Vertreterzunft auf die Schliche gekommen ist, nicht wahr?“
„Herr Luschke, ihre letzte mündliche Prüfung steht an, was reden Sie denn da. Nun, ich hoffe, Sie sind bestens vorbereitet.“
Bestens vorbereitet? Bis auf den kleinen Fehltritt, der sich in den letzten Minuten in meinem Kopf abspielte, war ich der Meinung, wenn schon nicht bestens, dann doch aber einigermaßen vorbereitet gewesen zu sein. Natürlich, mündliche Prüfung, genau deswegen war ich in diesem Prüfungsraum. Keineswegs eine Anhörung und nun bitte ich dich, mein umherträumendes Gehirn, um vollste Konzentration.
Sechs ältere Herrschaften saßen mir gegenüber, die in ihren grauen Jacketts, mit ihren grau melierten Haaren und ihren nicht weniger grauen und ernsten Blicken mich so sehr verwirrten und bedrängten, dass ich vor Minuten zu träumen begann. Der Traum war wieder meine Flucht. Jetzt war ich wach, aber es war nicht die Wachheit, die man benötigt, um erfolgreich durch eine mündliche Prüfung gepeitscht zu werden. Zu viel Benommenheit war im Schädel, so, wie damals im Kunstunterricht. Es war die letzte große Prüfung für mich, alles hing nur davon ab, was ich sagen, erzählen oder antworten werde. Es war morgens um 11.00 Uhr und ich hatte in der Früh vier Wodka-Colas getrunken, recht schnell und auf nüchternen Magen. Andere, die mit sich zu kämpfen hatten, nahmen Betablocker, ich trank dagegen meine Mischungen. Gute, wirksame Mischungen, doch wohin mich das an diesem Morgen bringen würde, war mir wenig klar. Einem Ronny Luschke hockte ein halbes Dutzend Prüfer gegenüber, wie aneinandergereihte Pärchen. Einer grauen Hochsteckfrisur folgte ein kurzgeschorener grauer Altherrenkopf. Wie eine Achterbahnfahrt, große Frau gefolgt von kleinem Mann. Ich konzentrierte mich auf den gedrungenen Mann mir direkt gegenüber. Er war der Prüfungsvorsitzende, der Gruppenanführer, derjenige, der seine Fragen auf mich losließ. Es war nicht einfach, konzentriert zu bleiben, oft genug wanderte mein Blick immer wieder zur Dame nach ganz links außen. Ihr hochtoupiertes Haar verdoppelte fast die Länge ihres eh schon sehr ovalen Kopfes, ein Anblick, dem ich mich kaum entziehen konnte. Nie zuvor sah ich eine Frau mit einem derart strengen Gesichtsausdruck und einer, passend zu ihrer Miene, strengen Frisur. Ich versuchte, bei der Sache zu bleiben, doch wollte ich in diesem Moment nur noch mit ihr schlafen. Jetzt gleich wird die Prüfung losgehen und ich dachte an Sex mit einer Professorin. Mann Ronny, steuere wenigstens etwas dein Gehirn. Vielleicht jetzt erst mal eine Raucherpause, vielleicht könnte ich die Prüfung mit einer Raucherpause beginnen, damit alle wieder runterkommen. Dann wurde ich müde, dann nicht richtig wach, dann wieder müde, dann wieder nicht richtig wach, dann kam die erste Frage.
„Herr Luschke, da Sie etwas benommen wirken, vielleicht ihre Art auf Stress zu reagieren, und bitte seien Sie sicher, wir wollen Sie keineswegs unnötig stressen, möchte ich Ihnen mit folgender Frage einen guten und sicherlich beherrschbaren Einstieg in die Prüfung geben: Erklären Sie uns bitte das Prinzip der begrenzten Wahl von Begrenzungen strukturbezogener Wahlmöglichkeiten.“
Was für eine Frage, was für ein unnütze, für mein Leben belanglose Frage. Ich begann in meinem Kopf zu kramen. Auf welcher der neunhundertsechzig Seiten stand eigentlich genau dieser Unsinn? Im vorderen Drittel, war ich mir sicher, doch die genaue Seite in meinem Kopf zu finden war unmöglich, oder wenn überhaupt, viel zu zeitaufwendig. Dafür fand ich andere. Viele andere. Auch mit Prinzipien, reichlich Prinzipien. Ich hatte fast das ganze Buch auswendig gelernt, man hätte mich mit Leichtigkeit in eine Quizshow zum Blindlesen schicken können, aber für gezielte Fragen bedurfte es ein zielgenaues Abtauchen auf genau die richtige Seite, den korrekten Absatz, dort irgendwo im Dschungel von zweihunderttausend Worten. Ich erzählte drei Seiten aus dem Mittelteil des Buches, das passende Kapitel hatte ich nur knapp verfehlt, wie ich später herausfand.
„Herr Luschke, Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Sie haben lediglich aus meinem Buch zitiert, zwar richtig wiedergegeben, nur darum geht es hier nicht. Also, bitte, auf ein Neues!“
Es folgten drei weitere Seiten des Zitierens, aus einem Kapitel weit vor dem von mir zuerst gewählten, dann war ich staubtrocken im Mund und verstummte. Es war wie ein Umkreisen des Themas, ein langsames Annähern, wie der Haifisch es mit seiner Beute macht.
„Herr Luschke, so kommen wir nicht voran. Dies ist nicht ein Vorsprechen eines auswendig gelernten Theaterstückes, sondern Sie sollen uns, eines Studenten würdig, einen Aspekt der Managementforschung erklären, bewerten und seine Rolle im Gesamtkontext mitteilen.“
Jetzt hatte ich eine Eingebung. Ich machte einen Sprung auf Seite hundertdreiundfünfzig und malte ein Diagramm in die Luft, welches, und da war ich mir sicher, genau zum Thema passen sollte. Nebenbei roch ich selbst immer mehr den Wodka Geruch aus meinem Mund und redete in speziellen Winkeln nur noch nach schräg unten oder schräg oben. Es gefiel dem Professor zwar, dass ich die richtige Seite getroffen hatte und meine Darstellung seines Diagrammes war auch gar nicht so schlecht, nur gab es von mir keine weiteren Ergänzungen, Erklärungen, Analysen und, ach, der von ihm gewünschte Gesamtkontext, der war sowieso ganz weit weg. Die Sechserbande machte noch einen neuerlichen Versuch mit einer Frage, die ich zwischen den Seiten dreihundertfünfzig und vierhundertachtzig dachte zuordnen zu können, doch lag ich letztlich um satte zweihundert Seiten eindeutig daneben. Minuten später fiel ich durch. Erst durch die Prüfung, dann durch den Holzstuhl, auf dem ich saß.
„Herr Luschke, kommen Sie im nächsten Semester wieder zu uns, dann sehen wir weiter. Einen schönen Tag noch.“
„Herr Professor, ich habe ihr ganzes Buch auswendig gelernt, ich kann es sogar rückwärts lesen. Lassen Sie es mich doch rückwärts lesen, sie werden schon sehen, das schafft außer mir keiner.“
Der Herr Professor war an derartigen Kunststückchen nicht interessiert und so trottete ich mundverklebt von diesem Ort meiner Niederlage. Wenn man einen Tag schon mit vier Wodka-Colas beginnt, dann kann man auch gegen Mittag mit vier weiteren weitermachen, um am späten Nachmittag die letzten vier drauf zu kippen, nur um das Dutzend komplett zu machen. Möglich, dass ich dann zwar nicht mehr mit der Professorin schlafen kann, aber ein paar Gedanken über mein zukünftiges Leben werden sicher noch drin sein.
Ich