DER WIDERSACHER. Eberhard Weidner

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Название DER WIDERSACHER
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия Anja Spangenberg
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750214880



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des Gastes, dann eine weitere für seine Großzügigkeit im Hinblick auf das Trinkgeld. Denn da der Beruf des Kellners zu den schlechtbezahltesten überhaupt gehörte, bildete das Trinkgeld einen wichtigen Bestandteil des Verdienstes. Aus diesen beiden Noten bildete Wimmer anschließend eine Durchschnittsnote. Natürlich war er nicht in der Lage, sich sämtliche Gäste und ihre Noten zu merken, aber sowohl die schlimmsten als auch die positivsten Fälle behielt er im Gedächtnis.

      Der schlechteste Gast war bis zum heutigen Tag ein Mann gewesen, der schon schimpfend zur Tür hereingekommen war und anschließend über alles und jeden lautstark gemeckert hatte: über das trostlose Ambiente, die langweilige Tischdekoration, die Lautstärke der anderen Gäste, den miserablen Service – womit er vor allem Wimmer meinte, der ihn bediente –, die zu geringe Füllmenge seines Getränks, die Temperatur, die Menge sowie die Qualität seines Essens, die berufliche Eignung des Kochs und schließlich die mangelnde Sauberkeit der Toiletten. Am Ende hatte er auch noch versucht, um den Preis zu feilschen, als wären sie auf einem türkischen Basar. Aber da war es Wimmer schließlich zu bunt geworden, und er hatte kurzerhand seinen Chef geholt, damit der sich mit dem Querulanten herumärgern konnte. Am Ende hatte der Gast, nachdem der Chef mit Polizei, Anwalt und einem Gerichtsverfahren gedroht hatte, widerstrebend bezahlt, natürlich ohne einen Cent Trinkgeld zu geben, und war, weiterhin vor sich hin motzend, gegangen. Der Mann war nie wiedergekommen, was Wimmer nicht verwunderte und worüber er insgeheim sogar froh war. Dennoch hatte er den Gast, ebenso wie einige andere, in denkbar schlechter Erinnerung behalten. Er hatte dem Mann zweimal die Note sechs gegeben, wodurch er sofort zum Spitzenreiter seiner Liste der unangenehmsten Gäste aufgestiegen war. Und bis heute war Wimmer davon ausgegangen, dass ihn niemand von dort verdrängen würde, schließlich gab es bekanntlich keine schlechtere Schulnote als die sechs.

      Doch der heutige Tag hatte ihn, wie es das Leben seiner Meinung nach immer wieder tat, eines Besseren belehrt. Denn er hatte es mit einem Gast zu tun bekommen, für den er eine neue Notenstufe einführen musste, nämlich eine sechs minus. Und diese Benotung hatte der unsympathische Kerl sich in beiden Kategorien auch redlich verdient.

      Als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht, stand der Mann an diesem Abend urplötzlich hinter Wimmer, als dieser sich mit einem Tablett voller Getränke von der Theke wegdrehte und eilig losmarschierte. Da der Kellner sofort abrupt abbremsen musste, um eine Kollision zu verhindern, geriet das runde Tablett auf seiner Handfläche unweigerlich in Schieflage, und die vollen Gläser, die darauf standen, neigten sich zur Seite und kamen bedenklich ins Rutschen. Reaktionsschnell gelang es ihm, das Tablett gerade noch rechtzeitig wieder aufzurichten, bevor es auf einer Seite Übergewicht bekommen, von seiner Hand kippen und mit allen Getränken zu Boden stürzen konnte. Anschließend atmete Wimmer erleichtert auf und warf dem anderen Mann einen irritierten, leicht verärgerten Blick zu.

      »Sie müssen schon ein bisschen besser aufpassen«, sagte dieser herablassend und schüttelte den Kopf. »Nicht auszudenken, wenn Sie durch Ihre Ungeschicklichkeit Hannibal und mir eine Dusche aus Bier, Wein und Cola verpasst hätten.«

      Wer zum Teufel ist Hannibal?, fragte sich Wimmer, bevor er den Yorkshire Terrier entdeckte, den der Mann auf dem Arm trug, und der, als wäre sein Name das Kommando dazu gewesen, in diesem Moment mehrere Male bellte.

      »Jetzt sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben!«, sagte der Gast theatralisch und sah Wimmer mit aufblitzenden Augen zornig an. »Mit Ihrer Tollpatschigkeit haben Sie Hannibal einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«

      Wimmer war zu perplex, um etwas darauf zu erwidern. Außerdem hätte er ohnehin nicht gewusst, was er darauf sagen sollte.

      Da der Mann ihm im Weg stand und keine Anstalten machte, zur Seite zu treten, um den Weg freizumachen, während er seelenruhig seinen Hund streichelte und beruhigend auf ihn einredete, blieb dem Kellner nichts anderes übrig, als zu warten. Der Raum zwischen den beiden voll besetzten Tischen rechts und links wäre ohnehin nicht breit genug gewesen, als dass sich Wimmer, obwohl er von schlanker Statur war, an dem Mann mit dem Hund auf dem Arm problemlos hätte vorbeiquetschen können. Erschwerend kam hinzu, dass der Kerl unglaublich dick war. Wimmer, der bei einer Körpergröße von 1,77 Meter siebzig Kilo auf die Waage brachte, schätzte, dass sein Gegenüber, obwohl er mindestens fünf Zentimeter kleiner war, 170 bis 180 Kilogramm wiegen musste. Er war vermutlich Ende dreißig, Anfang vierzig, obwohl er auf den ersten Blick älter wirkte, was vor allem an der Halbglatze und dem Kranz aus langem dunkelblonden, fettigen Haar liegen mochte. Seine Gesichtshaut war gerötet, die feinen Blutäderchen unter der Haut waren deutlich zu erkennen. Außerdem hatte er eine mit Knötchen und Pusteln übersäte gerötete Knollennase, auf der eine Brille mit auffallend rotem Rahmen saß, die nach Wimmers Ansicht nicht zu seinem Gesicht passte. Er trug eine khakifarbene Outdoorweste mit unzähligen Taschen, darunter ein kurzärmliges dunkelblaues Hemd mit Blumenmuster und gewaltigen Schweißflecken unter den Armen und eine enge beige Baumwollhose, alles in Übergröße. Dazu an den Füßen braune Herren-Slipper in der Größe von Kindersärgen.

      Da Wimmer nicht ewig Zeit hatte, weil die Gäste auf ihre Getränke warteten, räusperte er sich schließlich. Allerdings schluckte er seinen Zorn auf diesen merkwürdigen Gast herunter, so wie er es stets tat, und fragte höflich: »Kann ich Ihnen helfen?«

      Das gerötete Gesicht des anderen Mannes richtete sich ruckartig auf den Kellner, und seine kornblumenblauen Augen schienen dabei Funken zu sprühen. »Was soll das?«, fragte er aufgebracht. »Sehen Sie denn nicht, dass ich mit meinem Hund gesprochen habe?«

      Da der Kerl beim Sprechen feine Speicheltröpfchen versprühte, hob Wimmer automatisch das Tablett mit den vollen Gläsern, um sie vor dem ekligen Sprühregen in Sicherheit zu bringen. Die wenigen Augenblicke in der Gegenwart dieses Mannes hatten ihm bereits gereicht, um sich aufgrund seiner langjährigen Berufserfahrung und Menschenkenntnis ein umfassendes Bild von ihm zu machen. Deshalb verlieh er ihm schon jetzt in Sachen Freundlichkeit kurzerhand die Note sechs. Da er jedoch andererseits über ausreichend Erfahrung mit schwierigen Gästen verfügte, blieb er weiterhin ruhig, freundlich und gelassen. Und daher verkniff er sich jede Erwiderung, die ihm unweigerlich in den Sinn kam, und wartete schweigend ab.

      Der Mann schnaubte kurz und wischte sich mit der linken Hand den Schweiß von der Stirn. Dann deutete er damit auf einen Tisch am Fenster. »Ich möchte den Tisch dort drüben haben.«

      Ohne einen Blick in die Richtung werfen zu müssen, in die der dicke Mann zeigte, wusste Wimmer, dass der Tisch reserviert war, was auch deutlich zu erkennen war. »Tut mir leid, mein Herr, aber dieser Tisch ist reserviert. Ich kann Ihnen aber gern einen anderen …«

      »Ich will diesen Tisch und keinen anderen!«, unterbrach ihn der Mann mit dem Hund auf dem Arm in höchst aggressivem Tonfall. »Und nachdem Sie mir beinahe ein Tablett mit vollen Gläsern auf den Kopf geworfen und fast meinen lieben, kleinen Hund ertränkt und zu Tode erschreckt haben, ist das noch das Mindeste, was ich verlangen kann.«

      Wimmer seufzte. Er warf einen raschen Seitenblick zum Wirt des Gasthauses, der Josef Drexl hieß und von allen Sepp genannt wurde. Er stand nur wenige Meter entfernt hinter der Theke, zapfte ein Bier und war mittlerweile von selbst auf das Gespräch zwischen seinem Kellner und dem Gast aufmerksam geworden. Wimmer hob fragend die Schultern und die Augenbrauen, woraufhin der Chef mit einem widerwilligen Nicken seine Zustimmung erteilte.

      »Natürlich bekommen Sie den gewünschten Tisch«, sagte Wimmer daraufhin zu dem dicken Mann vor ihm, obwohl ihm ganz andere Worte auf der Zunge lagen, die er allerdings wie immer für sich behielt und hinunterschluckte. Denn der Gast war bei ihnen nun einmal König und bekam in der Regel auch, was er verlangte.

      Der dicke Mann lächelte selbstzufrieden. »Na also. Warum nicht gleich so?« Dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab und marschierte zu dem Fenstertisch.

      Wimmer atmete erleichtert auf, dass er den Kerl vorerst los und der Weg endlich frei war. Er setzte sich unverzüglich in Bewegung, um die Getränke auf seinem Tablett zu verteilen, bevor die Gäste ungeduldig wurden. Dann nahm er an einem der anderen Tische gleich noch die Essensbestellung auf und meldete diese an die Küche weiter. Während er anstelle des Tisches, den der dicke Mann verlangt hatte, einen anderen freien Tisch mit einem Reserviert-Schild versah, vermied er es bewusst, in dessen Richtung