Blaues Feuer. Thomas Hoffmann

Читать онлайн.
Название Blaues Feuer
Автор произведения Thomas Hoffmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748598398



Скачать книгу

gehen, aber seine Füße bewegten sich nicht vom Fleck. Er war wie gelähmt in diesen Träumen.

      Wenn er am späten Nachmittag die Ziegen zum Stall zurücktrieb, blieb er oft stehen und starrte hinüber zu den Elbenruinen am Rand der Flussaue. Grauer Nebel stieg aus den Ruinen auf, hüllte das Erlengehölz ein und zerfaserte zwischen den Baumkronen. Dort war die Grenze. Und konnte er nicht leise Flötenklänge hören aus dem Nebel? Weinte dort nicht ein Mädchen?

      Die Tage wurden kürzer. Erste Brauntöne erschienen im dunklen Grün der Baumkronen. Die letzten Handschläge der Tagesarbeit waren noch kaum getan, wenn die Abenddämmerung die Hütten in unterschiedsloses Grau zu tauchen begann.

      Eines Abends ging Norbert nicht zum Treffpunkt der Gefährten am Waldrand. Er ging hinunter zur Flussaue. Der Fluss hatte sich weit in sein Bett zurückgezogen und man konnte trockenen Fußes durch die Auenniederung gehen bis zu der von Büschen überwucherten Erhebung, auf der das Ruinendorf stand. Zwischen den Erlenbüschen war es feucht. Es war kälter als in der Niederung. Nebel stieg vom Boden auf. Norbert spähte durch die Büsche zu den Ruinen hinüber. Er wusste, dass sie dort war, dass sie auf ihn wartete. Vorsichtig bog er die Zweige zur Seite und ging den verfallenen Hüttenresten entgegen. Hinter den Ruinen, wo das Flussufer sein sollte, glühte ein tiefblauer Horizont. Es wunderte Norbert nicht. Zwischen den Hütten standen Gestalten.

      Norbert hatte keine Ahnung, was er tun würde. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Aber er würde dem Mädchen helfen. Irgendwie.

      „Ich will euch nichts klauen.“ Er bekam nur ein ersticktes Flüstern heraus. „Ich... ich will euch helfen.“

      Die Schattengestalten hatten Bögen in den Händen.

      „Bitte, sagt mir, wie!“

      Er trat aus dem Dickicht auf die Ruinen zu. Die Elben spannten die Bögen. Ein kurzes Knurren in seinem Rücken ließ ihn anhalten. Die Wölfin stand keine drei Schritt von ihm entfernt. Mit hochgezogenen Lefzen grollte sie die Bogenschützen an. Mit einem Schlag wurde Norbert sich der Gefahr bewusst. Er drehte sich um, stolperte zurück ins Dickicht. Etwas surrte an seinem Kopf vorbei.

      In der Niederung, in der der warme Spätsommerabend noch fortdauerte, hielt er an und blickte sich heftig atmend um. Die Elbensiedlung lag in dichtem Nebel. Die Wölfin war verschwunden.

      ***

      In den Höfen begannen die Frauen, Kränze für das Herbstopfer zu flechten. Es war ein gutes Jahr gewesen. Viele Lämmer und Kälber waren geboren worden und die kleinen Felder oberhalb der Siedlung hatten reichlich Emmer und Einkorn eingebracht. In den Gemüsegärten bei den Höfen wuchsen jetzt Kürbisse und Winterkohl.

      Wenn in Hans Lederers Hofgemeinschaft beim Essen das Gespräch auf das Herbstopfer kam, blickte Norbert auf seine Essschale und löffelte stumm seinen Eintopf. Er spürte den drohenden Blick des Vaters. Manchmal blickte auch Leika prüfend nach ihm. An den Festvorbereitungen beteiligte er sich nicht. Mit zusammengekniffenen Lippen ging er seiner Arbeit nach. Aber er schrie auch nicht auf vor Wut und rannte nicht hinaus, wenn in der Familie die schwarze Dame für das ertragreiche Jahr gepriesen wurde. Nur einmal, als Mutter mit zitternder Stimme ein besonders ausführliches Lob an „unsere gnadenreiche, segnende Dame der Grotte“ aufsagte, blickte er trotzig den Vater an. Hans Lederer schaute seinem Sohn streng in die Augen, aber als Norbert in Erwartung der unvermeidlichen Ohrfeige mit zusammengebissenen Zähnen dem Blick des Vaters standhielt und wütend zurückschaute, schlug Hans Lederer nicht zu. Er wandte den Blick von seinem Sohn und blickte stumm und bitter zur Seite.

      Am Tag des Herbstopfers ging Norbert als letzter der Hofgemeinschaft in der Prozession den Felsensteig am Bach entlang. Er hielt den Blick auf seine Füße gesenkt und versuchte, nicht daran zu denken, was geschah.

      Björn Feldnersohns Hofgemeinschaft führte die Prozession an. Die anderen Familien folgten hinter Norbert. Am Eingang zur Klamm drängten die Wildenbrucher sich zusammen. Die Familien von Björn Feldnersohn und Hans Lederer schlichen sich seitlich nah an der Felswand in die Klamm, dem dunklen Höhlenschlund ehrfürchtige Blicke zuwerfend. Beinahe ängstliche Blicke, fand Norbert. Niemand schien der Höhle zu nahe kommen zu wollen. Norbert war froh darüber. Er konnte die Anwesenheit von etwas Wildem, Lauernden in der Schwärze des Grottenschlunds nahezu körperlich spüren.

       Wenn sie jetzt herauskommt, zerfetzt sie uns alle!

      Der Dämon kam nicht heraus. Aber Norbert wusste, dass er dort in der Dunkelheit harrte, witterte.

      Hans Lederer und Björn Feldnersohn legten die Gaben vor der Grotte ab: Herbstblumenkränze, Körbe mit Äpfeln und Brot, Rüben, Korngarben. An Vaters Filzumhang glänzte die Silberfibel. Vor dem dunklen Höhleneingang kam es Norbert vor, als strahlte sie ein eigenes helles Licht aus. Norbert sah, dass der Vater den Dolch an der Seite trug, den er auf der Marktreise dabeigehabt hatte. Im Höhlenschlund war nichts zu erkennen, aber Norbert spürte, wie die bösartige Macht, die dort lauerte, sich tiefer in die Höhle zurückzog.

      Die Dorfgemeinschaft stimmte schüchtern den Dankgesang an. Sehr verhalten klang das Erntedanklied hier vor der Grotte, das doch unten im Dorf so glücklich und froh klang.

      Da liegt Smetas Gerippe, dachte Norbert, den die Zeremonie plötzlich ekelte. Wenn ich Krieger geworden bin, komme ich zurück und schlage die schwarze Dame tot. Ich hole Smetas Knochen da raus und begrabe sie in der Flussaue. Und niemand wird mich jemals mehr verprügeln können.

      Beim Festessen im Dorf stopfte sich Norbert stumm und hastig ein paar Frikadellen in den Mund und schlich sich an den vollbesetzten Tischen mit Schlachteplatten, gekochtem Kohl, duftendem Brot und Körben voller Früchte vorbei zum Hof seiner Familie. Lene rief ihn, aber er hörte nicht hin. Auch als der Vater wütend seinen Namen rief, reagierte er nicht. Er rannte ins Haus, lief zu seiner Schlafstelle, warf sich hin und zog sich die Decke über den Kopf.

      Durch seine unruhigen Träume in dieser Nacht hallte wieder und wieder aus der Ferne das einsame Heulen der Wölfin herüber.

      ***

      Herbststürme fegten das Laub von den Bäumen. Der Regen peitschte über das Dorf und die Kinder wickelten sich Decken und Lumpen um, wenn sie Wasser vom Bach holen gingen und wenn sie an den späten Nachmittagen in der Dämmerung zu Lutz Torstensohns Scheune huschten. Um die Hütten heulte der Wind. Wenn die Hofgemeinschaft am späten Abend im flackernden Licht eines Kienspans vom Tisch aufstand und sich um die Herdglut versammelte, flüsterte die Mutter:

      „Jetzt regt sich der alte Gornwald. Geht nicht hinaus, Kinder, geht nicht hinaus.“

      Der Winter brach ein mit Schneestürmen und klirrender Kälte. In den Tagen vor Sonnenwend starb Ruthild, Kurt Morgners alte Mutter. Mit dem Beginn der Herbststürme hatte ein trockener Husten sie befallen, der sie beutelte und nicht schlafen ließ, aber dennoch schleppte die abgezehrte Alte noch bis zwei Tage vor ihrem Tod Tag für Tag Klaubholz aus dem Wald in ihrer Kiepe heran. Sie starb röchelnd im Fieber, ihr ausgetrockneter Körper war glühend vor Hitze. Mit Hacken hieben die Männer der Siedlung den gefrorenen Boden in der Flussaue auf. An Sonnenwend begruben die Wildenbrucher Ruthild Morgner und bedeckten ihr Grab mit frischen Tannenzweigen.

      Drei Tage später begegnete Norbert ihr am Waldrand. Mit einer Fuhre Heu im Handkarren hatte er sich durch den dichten Neuschnee zum Schafgatter gequält und den Schafen das Heu in den Verschlag gebracht. Sie drängten sich blökend um ihn. Es dämmerte bereits und er hatte keine Lust, zum Hof zurückzugehen, wo es doch nur noch mehr Arbeit vor dem Abendessen geben würde. Er stapfte ein paar Schritte in den Wald, wo der Schnee weniger hoch lag, ging auf und ab und klopfte sich die Wolljacke gegen die Kälte. Da sah er sie.

      Lautlos, mit demselben mühseligen Schritt wie zu Lebzeiten schleppte die dürre Alte sich heran, in denselben Lumpen wie früher, so viel Klaubholz auf ihre Schulterkiepe gebunden, wie die gerade noch fassen konnte. Langsam schwankte sie mit ihrer Last heran. Norbert konnte das blasse, vom Bluthusten ausgezehrte Gesicht erkennen. Eine Flut von Mitleid überkam ihn. Er trat an die Erscheinung heran.

      „Warum schleppst so dich so ab,