Название | Samuel, der Tod |
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Автор произведения | Nadja Christin |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847697251 |
Erst gegen acht Uhr morgens, müssen die beiden die letzten Gäste förmlich hinauskehren.
Liam spült die Gläser und räumt sie ordentlich in die Schränke, während Alice die Einnahmen zählt. Gewissenhaft legt sie das Geld für die alkoholischen Getränke, die Blutbeutel und das rohe Fleisch in eine Kassette. Von dem restlichen Geld zweigt sie einen Anteil für Liam ab, legt es ihm auf die Theke und besieht sich das kleine Bündel Scheine in ihrer Hand. Das ist herzlich wenig, überlegt sie, diesmal bringe ich es nicht zur Bank. Ich werde mir davon etwas Neues zum Anziehen kaufen.
Mit einem Lächeln meint sie zu dem Vampir:
»Pass mal kurz auf den Laden auf, ich komme gleich wieder.«
»Wo gehst du denn hin?« Liam stellt das letzte Glas in den Schrank und schließt die Tür.
»Shoppen.« Mit einem Zwinkern nimmt Alice ihre kleine Handtasche, verstaut das kleine Bündel Scheine darin und zieht die Türe auf.
»Na dann bis Morgen.« Liam grinst von einem Ohr zum anderen.
Das heisere Klingeln des Glöckchens übertönt Alices leises Kichern. Sie besieht sich die Auslage des Wunderlandes von außen und murmelt:
»Das müssen wir aber noch dringend neu machen. Er hat die verkauften Sachen gar nicht ersetzt, sieht schlimm aus.«
Gegenüber, an einem Mehrfamilienhaus, geht in diesem Augenblick die Eingangstür auf.
Ein Mann tritt auf den Gehsteig, sieht links und rechts, bevor er die Rue Denfert Rochereau überquert. Alice wirft nur einen flüchtigen Blick auf den Unbekannten. Er kommt ihr riesengroß vor und auf eine merkwürdige Weise angenehm. Er trägt Jeans und eine leichte Lederjacke. Alltagsklamotten, denen Alice keine sonderliche Beachtung schenkt. Wer allerdings eine Sonnenbrille, um kurz nach neun am Vormittag und das noch im November trägt, der fällt ihr auf. Schmunzelnd geht sie um die Ecke und verschwindet aus dem Blickfeld des Unbekannten.
Einen Moment denkt sie noch darüber nach, ob er wohl gestern zu viel getrunken hat, und seine Augen deshalb das Tageslicht nicht vertragen, aber dann nimmt das hübsche, schwarze Kostüm, das sie letztens bei Carven‘s gesehen hat, ihre gesamten Gedanken ein.
Alice möchte heute Abend ausgehen und dazu will sie sich hübsch machen. Auch wenn sie nur vorhat, den größten Drogendealer von ganz Paris zu treffen, um ihn zu töten, so will sie dabei doch bezaubernd aussehen.
*
Es ist neun Uhr morgens, als Charlie aus seinem Zimmer in das gemeinsame Wohnzimmer schlurft. Es ist zwar ein Samstag und er muss nicht arbeiten, dennoch hat er sich den Wecker gestellt, um noch einige Einkäufe zu erledigen. In der Zeit, die Samuel hier alleine wohnte, ging nur eines niemals aus und das war der Whisky, etwas Essbares suchte man hier vergeblich. Aber Charlie ist ein Mensch und noch dazu einer, der für sein Leben gerne gut isst. Als Ausgleich geht er drei Mal die Woche ins Fitnessstudio, damit er bloß kein Gramm zunimmt.
»Guten Morgen, Charlie«, erklingt es vom Fenster her. Der Junge zuckt erschrocken zusammen. Er hat Samuel, der einen Vorhang zurückgezogen hat und aus dem Fenster blickt, nicht bemerkt.
»Morgen«, gibt er undeutlich zurück. »Stehst du schon die ganze Nacht hier?«
»Du bist doch erst um vier ins Bett, Junge«, erwidert Samuel. »Wie spät ist es denn jetzt?«
»Neun … oder so« Charlie gähnt ausgiebig und wankt in Richtung Badezimmer.
Dann steh ich doch schon fünf Stunden hier, überlegt der Tod, ist mir gar nicht so lange vorgekommen. Er trinkt sein Glas leer und stellt es auf den Esstisch. Mit einem Blick auf die Flasche ruft er laut:
»Du musst dringend was zu trinken mitbringen.«
»Steht schon auf meiner Liste«, erwidert Charlie mit dem Mund voller Zahnputzschaum.
Samuel gießt sich den restlichen Whisky ein und stellt sich auf die gewohnte Stelle vor dem Fenster.
Nach ein paar Minuten kommt sein Freund aus dem Badezimmer, frisch geduscht und warm angezogen geht er in die Küche.
»Kaffee?«
Der Tod schüttelt den Kopf und hebt sein Glas an. Interessiert beobachtet er die Leute auf der Straße, vor und gegenüber seinem Haus.
Dem kleinen, schäbigen Laden, namens Alices Wunderland sollte er auch beizeiten mal einen Besuch abstatten. Ihn gibt es schon so lange und noch nie war er da drin. Wie er letzte Nacht festgestellt hat, gehen dort einige Anderswesen des Nachts ein und aus. Er wohnt nun bereits seit Jahren hier, aber bis heute wusste er noch nicht, dass das Wunderland auch nachts geöffnet hat, geschweige denn, dass es von Dämonen heimgesucht wird. Das interessiert den Tod, er will wissen, was in seiner unmittelbaren Nachbarschaft geschieht und wer dort wohnt.
»Was gibt’s denn da so Geheimnisvolles zu sehen?« Charlie steht mit einer großen Tasse heißem Milchkaffee neben ihm.
Samuel zeigt auf das Geschäft gegenüber.
»Kennst du den Laden?«
Sein Freund nickt mit dem Kopf und trinkt vorsichtig einen Schluck Kaffee.
»Ja, ich war schon mal drin. Die haben nur Bücher und jede Menge anderes Zeugs. Nutzloser Ramsch.«
»Hm.« Samuel überlegt einen Moment.
»Ich glaube, ich muss da mal hin.«
»Wieso? Du liest doch nichts, außer der Bibel und sonst haben die echt nichts Interessantes.«
»Dennoch«, Samuel wiegt seinen Kopf hin und her. »Ich habe das unbestimmte Gefühl, ich sollte dem Wunderland mal einen Besuch abstatten.«
»Tu was du nicht lassen kannst.« Charlie zuckt mit den Schultern und stellt seine leere Kaffeetasse auf den Esstisch.
»Ich geh jetzt einkaufen und hinterher noch ins Studio. Bist du heute Abend da?«
Er blickt fragend zu Samuel, der weiterhin aus dem Fenster starrt.
Der schüttelt nur den Kopf. »Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Gut«, meint Charlie und zieht sich eine Jacke an. »Ich hab nämlich heute Abend eine Verabredung. Wird bestimmt spät.«
»Okay«, murmelt der Tod geistesabwesend. »Viel Spaß.«
Ohne ein weiteres Wort zieht Charlie die Tür hinter sich ins Schloss.
Irgendwas an dem Laden ist merkwürdig, überlegt Samuel, es ist einfach nicht zu erfassen. Von Alices Wunderland geht eine Macht aus, die selbst der Tod nicht ganz begreifen kann.
»Ich muss es wissen«, sagt Samuel zu sich selbst. »Und zwar jetzt sofort.«
Energisch stellt er sein halbvolles Glas auf den Tisch, zieht sich Turnschuhe an, schlüpft in die Lederjacke und setzt sich die Sonnenbrille auf.
Ohne weiter darüber nachzudenken, greift er sich die Schlüssel, zieht die Türe hinter sich zu und geht die paar Stufen hinunter.
Auf der Straße angekommen, beobachtet er zuerst das Geschäft von außen, besieht sich auch die Auslagen. Aber das ist es nicht, das den Tod so in Aufregung versetzte.
Es muss aus dem Inneren kommen, oder von seinem Besitzer.
Samuel betritt das Wunderland, die kleine Glocke über der Türe gibt ein heiseres Krächzen von sich.
Beinahe wäre er rückwärts wieder aus dem Geschäft gefallen. Der Geruch, der ihm wie eine Wolke entgegen schwebt, ist eine Mischung, bestehend aus den verschiedenen Dämonen, die in der letzten Nacht diesen Laden betreten haben. Diese Geruchsvielfalt trifft Samuel wie ein Schlag mit dem Hammer.
Anderswesen, denkt er entsetzt, so viele und das alles genau vor meiner Nase.
*