Mirabella und die Neun Welten. Isabelle Pard

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Название Mirabella und die Neun Welten
Автор произведения Isabelle Pard
Жанр Языкознание
Серия Mirabella
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754172490



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an den Iden des Julis, was in diesem Monat der fünfzehnte bedeutete, fand das nächste und für sie erste Treffen statt. Sie würde endlich ihren Halbbruder Nikolaos wiedersehen, der mit seiner Mutter, seinem Adoptivvater, seiner kleinen Halbschwester Olympia und seinem Hund Platon in Brüssel lebte und die letzten zwei Wochen mit seiner Familie durch Kalifornien gereist war, während Mirabella zuhause in München noch Schule hatte. Sie hatte ihn trotz regelmäßiger Meldungen aus dem Urlaub furchtbar vermisst. Zumindest hatte sie nun etwas mehr Zeit für Antonia und Lukas gehabt, ihre menschlichen besten Freunde, die Mirabellas Geheimnis kannten. Sie hatten gemeinsam viel Zeit im Schwimmbad verbracht und den Besuch von Nikolaos geplant, der in gut zwei Wochen stattfinden sollte. Zwischenzeitlich würde Mirabella mit ihren Eltern nach Tansania fliegen. Eigentlich verspürte sie gar keine Lust auf den Urlaub, obwohl sie immer ganz wild auf eine Safari durch Afrika gewesen war, aber sie freute sich sehr, mit ihren Adoptiveltern Marcus und Yasmin Zeit zu verbringen. Marcus war der Bruder von Mirabellas Mutter Helena, die bei ihrer Geburt gestorben war. Jupiter hatte sich über die Trauer um Helena zurückgezogen, er hatte Mirabellas Mutter sehr geliebt, sie jedoch nicht retten dürfen, da auch er nicht über dem Schicksal stand. Mirabella erfuhr von ihrer Adoption erst durch Jupiter. Noch vor einem knappen Jahr schien sie ein ganz normales Mädchen aus bürgerlichem Haus zu sein, sie haderte mit ihren roten Locken, die niemand in der Familie hatte und über die sich eine Klassenkameradin immer lustig machte, aber sie hatte wunderbar(e) normale Eltern und Menschenfreunde. Nun war alles anders.

      Mirabella saß in ihrem Zimmer auf dem Bett, auf ihren Beinen lag ein Buch, das ihr Vesta, die älteste Schwester Jupiters und ihre göttliche Patentante, gegeben hatte. Es erzählte, im wahrsten Sinne des Wortes, in Bildern und gesprochenen Worten die Geschichte des Krieges zwischen den Olympischen Göttern des Südens und den Asen, den Göttern des Nordens, der vor vielen Jahrhunderten stattgefunden hatte. Heutzutage bestand ein fragiler Frieden, den man mit dem Kalten Krieg im letzten Jahrhundert auf der Erde vergleichen konnte. Sie hatte das Buch aufgeschlagen, jedoch nach wenigen Momenten die Lust an diesem traurigen Kapitel der Göttergeschichte verloren, und ließ lieber eine kleine güldene Ziege vor sich in der Luft schweben. Sie hatte die kleine Statue beim Training im letzten Schuljahr erhalten. Das Bewegen von Gegenständen mit reiner Geisteskraft - Telekinese - wurde von allen Halbgöttern beherrscht. Als Tochter des Donnergottes war sie zudem fähig, Blitze zu erzeugen. In der Kindheit waren diese Fähigkeiten noch nicht sehr ausgeprägt und auch nicht bewusst, mit Beginn der Pubertät wuchsen sie jedoch zu einer Stärke an, die Schulung und Kontrolle erforderten. Sie hatte mit anderen jugendlichen Halbgöttern aus Südeuropa Unterricht erhalten, der auf ein Leben als Halbgöttin vorbereiten sollte. Alle Olympischen Götter hatten sich vorgestellt, die Jugendlichen hatten die verschiedenen Heiligtümer, den Unterwasserpalast von Neptun, das Totenreich von Pluto und Proserpina, den geheimnisumwitterten Vesta-Tempel und das Orakel von Delphi besucht. Letzteres hatte mittels Mirabella zu ihnen gesprochen und unheilvolle Dinge vorhergesagt.

      Die goldene Figur vollführte einen Salto, als Mirabella ein leises Knacken vernahm und Bert aufgeregt pfiff. „Es kommt!“ Sie sah auf, ließ die Figur aufs Bett plumpsen und stürmte zum Nest der Beo-Familie. Greta hatte ihr vor vielen Jahren den sprechenden Vogel Bert geschenkt. Die geheimnisvolle Isar-Nymphe Greta war nach Mirabellas Geburt als Kindermädchen engagiert worden, ohne dass ihre Adoptiveltern etwas von Göttern, Nymphen oder Halbgöttern ahnten. Letztes Weihnachten hatte Jupiter die exotische Beo-Dame Maya zu Mirabella nach Hause gebracht. Bert hatte sich bei den regelmäßigen Zoobesuchen schwer in Maya verliebt und nun bekamen sie ihren ersten Nachwuchs. Drei Eier lagen in dem liebevoll gebauten Nest und Mirabella starrte gebannt auf das zart grünliche Ei mit kleinen hellbrauen Flecken, in dem ein kleiner Riss zu sehen war. Das Vogelbaby klopfte von innen mit dem Schnabel gegen die Schale, der Riss wurde größer, schließlich entstand ein Loch, man sah eine kleine gelbe Schnabelspitze. „Wie süß!“, entfuhr es Mirabella, die unwillkürlich lächelte. Nach ein paar weiteren Klopfern steckte der kleine Beo den Kopf aus dem Ei und befreite sich schließlich ganz. Sein grauer spärlicher Flaum lag feucht an, aber er krähte vergnügt, bis ihn Maya unter ihre Fittiche nahm und ihm etwas Nahrung aus ihrem Schnabel anbot. Bert und Mirabella beobachteten die Szene verzückt und das Mädchen vergaß zum ersten Mal seit der Prüfung ihren Kummer.

      Als sie ohne Jupiters Kette den Olymp nicht hatte betreten können, war eine innere Unruhe aufgetreten, die sie nur selten ignorieren konnte. Juno, Jupiters göttliche Gemahlin, hatte ihr die bei der Prüfung verlorene Kette zukommen lassen und bei der Feier eine Unterredung mit ihr gehabt. Sie hatte angedeutet, Mirabella könnte eventuell nicht-olympischen Ursprungs sein, was das Mädchen innerlich in Panik versetzte. Das durfte einfach nicht sein, Jupiter, Nikolaos und all die anderen, sie waren zu ihrer neuen Familie geworden, die sie liebte und brauchte. Sie hatte nicht einmal Nikolaos, dem sie sonst alles anvertraute, davon erzählt. Juno hatte zudem klargemacht, dass sie eine Enttäuschung für Jupiter, der Mirabella liebte, nicht dulden würde. „Aber merke dir, wenn du Jupiter Schmerzen bereiten solltest, werde ich zu deiner Feindin“, waren ihre Worte gewesen. Falls Mirabella nicht Jupiters Tochter war, wollte sie es gar nicht wissen.

      Pünktlich um neunzehn Uhr öffnete sie ihr Amulett mit einem Kuss und den Worten „Te aper-i!“ und holte Jupiters Haar heraus. Für den Unterricht waren sie täglich in den Olymp teleportiert worden, eine Technik, die selbständig nur die Vollgötter beherrschten. Die Halbgötter waren auf den Bulla-Express, schwebende Blasen, angewiesen, wenn sie alleine reisten. Von den Heiligtümern und im Olymp konnte man in Blasen, die von außen nicht einsehbar waren, an jeden beliebigen Punkt reisen. Mit Jupiters Haar konnte sie sich jedoch direkt von ihm in den Olymp holen lassen. Sie drehte es zwischen ihren Fingern und dachte an den Göttervater und Herrscher des Olymps. Im nächsten Augenblick stand sie im Thronsaal und sah sich verwundert um. Niemand außer ihr und Jupiter waren anwesend. Sie nahm zumindest an, dass es Jupiter war, denn vor ihr stand Barack Obama. Die Götter lebten noch immer von der Verehrung durch die Zwischenweltwesen und die Menschen - heutzutage in anderer Form als in der Antike. Jupiter trat besonders gern als Weihnachtsmann oder Double bekannter Persönlichkeiten auf.

      „Bin ich zu früh?“, fragte Mirabella irritiert.

      „Es liegt nahe, einen Witz zur deutschen Pünktlichkeit zu machen, aber ich glaube, es liegt eher daran, dass du nicht bedacht hast, dass ihr Sommerzeit habt.“

      „Oh, natürlich, wie dumm von mir.“ Sie wollte gerade Jupiter bitten, sie zurückzuschicken, als Nikolaos vor ihr materialisierte. Mirabella grinste über beide Ohren. Sie freute sich, ihn zu sehen, aber war auch froh, dass er denselben Fehler wie sie gemacht hatte.

      „Vater“, er nickte Jupiter zu und lächelte dann beim Anblick seiner Schwester. „Hi, Mira!“

      „Hi, Nick“, sie hatte in den zwei Wochen vergessen, wie gut ihr Bruder in natura aussah, diese Erkenntnis ließ ihr Grinsen verschwinden, was er jedoch nicht sehen konnte, da er sie spontan kurz umarmte.

      „Was grinst du denn so?“, fragte er vergnügt, als er sie wieder losließ.

      „Ich? Oh, du hast denselben Fehler gemacht wie ich!“ Diese Tatsache zauberte das Grinsen zurück. „Wir haben Sommerzeit…“

      Man konnte zusehen, wie der Groschen bei Nikolaos fiel. Er schlug sich mit der Handfläche leicht an die Stirn. „Ah, klar! Naja… ist doch gar nicht schlecht, können wir eine Stunde quatschen, oder?“

      Er sah zu Jupiter, der einverstanden wirkte. „Ich komme dann später wieder.“ Obama verschwand.

      „Lustig“, meinte Nikolaos, sich auf den Boden setzend, „wo ich gerade in den Staaten war, also eigentlich noch bin, wir fliegen morgen früh zurück. Obama wird vielerorts nachgetrauert.“

      „Naja, das war ja auch der coolste Präsident, den sie je hatten, oder?“ Sie setzte sich neben ihren Bruder.

      Nikolaos nickte und sah sie dann lächelnd an. „Ich hab‘ dich vermisst. Wie geht es dir?“

      Mirabella errötete leicht, sie hätte ihm so gerne von ihren Zweifeln erzählt, aber ihr Entschluss stand fest, sofern niemand etwas Anderes behaupten würde, war sie eine waschechte Olympierin.

      „Gut, bisschen