Das Phänomen. Karin Szivatz

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Название Das Phänomen
Автор произведения Karin Szivatz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754171868



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Beine in den rostrotgelben Sand ein und beobachtete die Wellen, auf denen blaubraune Schaumkronen tanzten. Sie sah dem bunten Sand zu, wie er Körnchen für Körnchen von ihrer Haut rieselte und ein kaum wahrnehmbares Kitzeln hinterließ. Langsam gewöhnte sie sich an das bizarre Farbenspiel und es erinnerte sie daran, dass sie einige Tests durchführen lassen wollte. In diesem Moment schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass dieses prächtige Farbenspiel von einer chemischen Verunreinigung stammen und giftig sein könnte. Sofort sprang sie auf und fegte panisch mit den Händen die Sandkörnchen von ihrer Haut.

      Dann nahm sie Kurs auf ihr Haus um im Labor anzurufen. Doch vorher stattete sie dem Haus von Marisha noch einen Besuch ab. Die alte Lady war bereits vom Bestatter abgeholt worden, der Totenschein war weg. Rosalie seufzte, denn mit diesem Tag begann eine neue Ära für sie; ein Leben ohne die verwirrte Dame, der sie immer wieder aus einem Buch vorgelesen hatte. Sie vermisste sie jetzt schon.

      Noch bevor Taylor von der Uni nach Hause kam, bereitete sie einen schnellen Mango-Joghurt-Kuchen ohne ihn backen zu müssen zu und stellte ihn im Kühlschrank kalt. Er diente als Teil des Abendessens, das lediglich aus Sandwichscheiben mit Salat, Tomaten, Schinken, Käse und sauren Gurken bestehen sollte. Sie hatte keine Lust, sich noch an den Herd zu stellen um zu kochen und Taylor war ein äußerst dankbarer Futterverwerter. Er aß, was auf den Tisch kam und lobte es auch noch. Auch dafür liebte sie ihren Mann. In vielen Bereichen war er völlig unkompliziert, doch in wenigen Belangen konnte er sie und auch viele andere zur Weißglut treiben. Vor allem dann, wenn er sich in ein Thema verbissen hatte. Dann konnte man ihn durchaus mit dem Leittier einer Vielfraßgruppe vergleichen; auch wenn der Vielfraß ein Einzelgänger ist. Hin und wieder nervte sie diese Art, dass er mit dieser Vehemenz vorging, aber dieses Mal war sie darüber froh. Sie konnte nämlich spüren, dass sich dieses Problem nicht von selbst lösen würde.

      Taylor kam gut gelaunt von der Arbeit und stürzte sich über die Sandwiches als wären sie feinster Lachs, garniert mit teurem Kaviar. „Ich habe heute übrigens mit Melvin telefoniert, du weißt schon, dem Rektor der Stadlin Universität für Biologie. Natürlich habe ich ihm von unserem Phänomen erzählt und er hat mir seine gesamte Bibliothek zur Verfügung gestellt. plus jeden Professor und Dozenten, wenn ich mit jemandem ein Problem diskutieren möchte. Normalerweise ist er sehr zurückhaltend, wenn es um seine Bücher und sein Personal geht. Scheinbar interessiert ihn dieses Phänomen und er möchte mehr wissen.“

      Rosalie strahlte ihn an. „Das ist ja fantastisch! Vielleicht handelt es sich tatsächlich nur um eine chemische oder biologische Verunreinigung der Luft durch die Industrie. Ich habe bereits Messungen angeordnet, sie werden noch heute durchgeführt. Luft, Boden, Gras, Blätter und Gebäudeoberflächen. Das war’s mal für den Anfang. Wenn wir mehr brauchen, werden wir überlegen, was sinnvoll scheint.“

      „Und die Ergebnisse nehme ich an die Stadlin Uni mit. Eine bessere Adresse zur Aus- und Bewertung gibt es wohl kaum“, freute sich Taylor.

      „Was ist aber, wenn es keine Umweltgifte sind, die das Farbspiel verursachen?“, fragte Rosalie und nahm den Mangokuchen aus dem Kühlschrank. Damit hatte sie die Aufmerksamkeit ihres Mannes verloren, der schon nach dem Messer griff noch ehe sie die Dessertteller auf den Tisch gestellt hatte. „Damit hast du dich wieder mal selbst übertroffen!“, lobt er sie und leckte die Kuchengabel mit Hingabe ab. „Ist auch noch ein zweites Stück drin?“, fragte er, als er die Krümel mit der Fingerbeere vom Teller pickte. „Der ist echt fantastisch“, kommentierte er und ließ sich ein weiteres Stück auf den Teller legen.

      „Heute hatten sieben Frauen in meiner Praxis einen handfesten Streit“, versuchte Rosalie wieder auf das Thema Phänomene zu lenken. Die Komplimente bezüglich des Kuchens waren zwar sehr nett gemeint, aber in Anbetracht der prekären Situation empfand sie dieses Thema als absolut oberflächlich. „Mrs. Blackwood hat sogar auf eine andere Patientin mit ihrer Handtasche eingeschlagen!“

      Taylor prustete los und musste sich die Hand vor den Mund halten, um nicht winzige Kuchenstücke, vermischt mit Speichel, auf dem Tisch zu verteilen. „Was? Die alte Blackwood? Das wundert mich ehrlich gesagt nicht. Sie war schon in früheren Zeiten eine bissige Ziege. Worum ging es bei dem Streit?“

      „Die andere Patientin musste zur Arbeit und wollte deshalb vorgelassen werden.“

      Taylor sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. „Uhh, das ist natürlich ein Grund, jemanden zu vermöbeln, da verstehe ich die gute Mrs. Blackwood nur zu gut“ witzelte er, bekam aber sofort wieder einen ernsten Gesichtsausdruck als er das Missfallen seiner Frau spürte.

      Nach ein paar Sekunden des Schweigens fuhr sie fort: „Es war jetzt kein normaler Streit, sondern ein richtig aggressiver, mit eindeutigen Schlägen unter die Gürtellinie. Und es haben nicht nur die beiden gestritten, sondern alle sieben! Es wurden auch Themen aufgegriffen, die nichts mit dem ursprünglichen Thema zu tun hatten. Mrs. Drawling warf einer Patientin vor, jedes Kind von einem anderen Mann zu haben und Mrs. Blackwood wurde beschuldigt, ihr Leben lang die Beine breit gemacht zu haben, nur um finanziell von ihrem Mann ausgehalten zu werden.“

      Taylor pfiff durch die Zähne. „Na das ist aber schon starker Tobak. Ob das nicht auch vielleicht mit dem Phänomen zu tun hat? Normal ist das jedenfalls nicht. Nicht in dieser Intensität.“

      „Genau darauf will ich hinaus“, ereiferte sie sich und erzählte gleich darauf die eigenartige Geschichte mit den Hunden vor der Greißlerei. Während sie sie erzählte, erschien sie ihr immer merkwürdiger, obwohl sie sie im Laden noch als völlig harmlos abgetan hatte.

      Taylor hatte währenddessen sein zweites Stück Kuchen verputzt und schon zu seiner Mappe gegriffen, um die wichtigsten Fakten der beiden Vorfälle zu dokumentieren. Jeder Fall bekam natürlich wieder ein eigenes Blatt.

      „Mich fasziniert die Vielfalt der Ereignisse, die sich seit vorgestern abspielen. Oder wir jagen hier einem Phantom nach, weil es solche Vorfälle schon immer gegeben hat, wir aber nicht sensibel genug darauf reagiert haben. Mit Ausnahme der unnatürlichen Landschaftsfärbungen natürlich. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir aufmerksam genug waren, um solche Vorkommnisse zu registrieren und in einen Kontext zu bringen.“

      Rosalie nickte nachdenklich. „Das kann gut möglich sein. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir die Häufigkeit solcher Vorfälle früher nicht gesehen haben oder ob sie jetzt wirklich gehäuft auftreten. Wir sollten von offizieller Seite her nichts überstürzen, sonst machen wir uns lächerlich und das wollen wir nicht, oder?“

      Taylor pfiff erneut durch die Zähne. „O yeah, du hast vollkommen recht, Baby!“, gab er betont lässig von sich und streckte ihr seinen Zeigefinger entgegen.

      „Aber du könntest vielleicht mal mit diesem, na, wie heißt er noch gleich? Lionel reden. Mit dem Psychiater. Vielleicht hat er eine plausible Erklärung für die Aggressivität unter deinen Patientinnen und für das atypische Verhalten von Sandy und Benny. Eventuell löst sich nach einem Gespräch mit ihm alles in Wohlgefallen auf oder er kann helfen, die Fälle zu klären. Oder er hat einfach nur eine Erklärung für alles. Mir würde schon eine Einschätzung von psychiatrischer Seite reichen. Es ist auf alle Fälle eine Absicherung für uns.“

      Rosalie fiel ihm um den Hals. „Du bist ein Genie! Darauf wäre ich nie gekommen“, rief sie aus und küsste ihn.

      Dann griff sie nach dem Handy, suchte die Nummer Lionels heraus und rief ihn an. Leicht nervös trommelte sie mit den Fingern auf den Tisch und biss sich leicht auf die Unterlippe ohne es zu bemerken. Während ihres Studiums waren Lionel und sie einander nähergekommen, auch wenn es keine richtige Beziehung war. Sie gingen häufig miteinander aus, knutschten in dunklen Ecken und versuchten, sich gegenseitig die Rätsel der Medizin zu erklären. Nur zu gut konnte sie sich an jenen Abend kurz vor dem Ende des dritten Semesters erinnern. Sie waren in einer schmierigen Bar, in der Burger um neunzig Cent serviert wurden und sie teilten sich einen, weil das Geld für zwei nicht langte. Der Barkeeper wies sie nach drei Stunden darauf hin, dass sie nun entweder noch etwas konsumieren oder den Laden verlassen müssten. Rosalie benutzte noch die Toilette, trank Wasser aus dem Hahn und verabschiedete sich mit einem frechen „Das ist hier ohnehin ein Saftladen“ vom Barkeeper. Vor der Tür nahmen sie allerdings die Beine in die Hand, da der ziemlich