WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN. Eberhard Weidner

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Название WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847651130



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einen Moment sah es ganz so aus, als wollte Bauer sich weigern. Seine Finger schlossen sich noch fester um die obere Hälfte der Beweismitteltüte, sodass seine Knöchel weiß wurden. Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass Schäringer glaubte, er könnte sie leise knirschen hören. Dann verzog Bauer jedoch das Gesicht und zeigte ein falsches Grinsen, bevor er sagte: »Na gut, Schäringer, für den Moment haben Sie vielleicht gewonnen, weil es momentan tatsächlich noch Ihr Fall ist. Aber sobald Sie feststellen, dass diese kleine Drecksau, die zwei junge Frauen ermordet hat, sich tatsächlich durch einen feigen Selbstmord seiner Festnahme und Verurteilung entzogen hat, erwarte ich, dass Sie mir augenblicklich alle Unterlagen und Beweise übergeben.«

      »Selbstverständlich«, sagte Schäringer, ohne eine Miene zu verziehen, und griff nach dem Beutel mit dem Bettelarmband. »Darf ich?«

      Bauer ließ los, sodass Schäringer das Beweisstück an sich nehmen konnte, wandte sich wortlos ab und marschierte davon.

      »Wuff, wuff!«, rief ihm Baum hinterher und grinste schadenfroh.

      Ohne sich von jemandem zu verabschieden, ging Bauer zu seinem Wagen und stieg ein.

      »Der Arsch soll bloß aufpassen, dass er beim Ausparken nicht gegen unser Auto fährt!«, sagte Baum und beobachtete mit Argusaugen, wie der verhasste Kollege aus der Lücke fuhr, seinen Wagen auf dem schmalen Feldweg wendete und davonbrauste. »Dem haben wir’s aber gegeben, Franz!«

      »Wozu auch immer diese Diskussion gut war?«, sagte Schäringer und seufzte. »Aber wenigstens können wir jetzt anfangen, ungestört unsere Arbeit zu machen. Also komm und lass uns mal ein Wörtchen mit Krautmann reden.«

      3

      »Was sollte denn das gerade?«, fragte Christian Krautmann, der Leiter der Abteilung Spurensicherung und -verwertung, als Schäringer und Baum sich zu ihm gesellten. Er verstaute eine leere Bierdose, die er in der Nähe der Holzbank gefunden und mithilfe einer Pinzette aufgehoben hatte, in einer Kunststofftüte, auf der er in seiner gewohnt krakeligen Schrift alle notwendigen Daten notierte.

      »Nur das übliche Kompetenzgerangel eines überehrgeizigen Kollegen«, antwortete Schäringer und übergab Krautmann die beiden Beweismittelbeutel, die er von Bauer bekommen hatte. »Hier. Mit freundlichen Grüßen von Kriminaloberkommissar Stefan Bauer und verbunden mit der Bitte um kriminaltechnische Untersuchung. Bauer sagte, dass ihr das Papier und die Kette in der Hosentasche des Toten gefunden habt.«

      »Das stimmt«, sagte Krautmann, bückte sich und verstaute alle Beweismitteltüten in einem Pappkarton, der am Boden stand und bereits zur Hälfte gefüllt war. Dann richtete er sich wieder auf, schob mit dem Ballen seiner rechten Hand, die in einem Einweghandschuh steckte, die randlose Brille wieder nach oben, die beim Bücken heruntergerutscht war. Durch die Gläser sahen seine stets etwas angriffslustig funkelnden Augen unter den dünnen, schwarzen Brauen noch größer aus. Er hatte einen runden Kopf, der jedes Jahr mehr an einen Ball erinnerte, weil sein dunkles Haar immer lichter wurde, obwohl er sich bemühte, durch geschickte, aber letztendlich untaugliche Kämmtechniken die ständig größer werdende Kahlstelle auf seinem Kopf zu kaschieren. Krautmann liebte guten Wein, was er mit Schäringer gemeinsam hatte. Die Vorliebe für einen guten Tropfen hatte dafür gesorgt, dass sie sich nicht nur beruflich trafen, seit beide etwa zur selben Zeit bei der Kripo Fürstenfeldbruck angefangen hatten, sondern gelegentlich auch privat miteinander verkehrten. Krautmann und seine Frau waren Verehrer sogenannter Bollywood-Filme, die in Indiens Metropole Mumbai in großer Zahl gedreht werden, grell, bunt, schwülstig und oft bis zu vier Stunden lang sind, in der Regel mehrere Tanzszenen enthalten und für den gewöhnlichen mitteleuropäischen Fernsehzuschauer gewöhnungsbedürftig sind.

      »Was kannst du uns über den Zettel und die Kette sagen, Christian?«, fragte Schäringer seinen Freund. »Stammt das Schreiben von dem Jungen? Und ist die Kette tatsächlich dieselbe, die Nadine Blume trug, als sie vor über einer Woche verschwand?« Bauer hatte es ihnen zwar schon erzählt, aber Schäringer wollte von Krautmann nicht nur eine Bestätigung, sondern auch seine objektive Meinung zu den Beweisstücken.

      »Ob es wirklich die Handschrift des Toten ist, kann ich natürlich noch nicht sagen. Dazu benötigen wir zunächst eine Schriftprobe, die eindeutig von ihm stammt, um einen Schriftvergleich durchführen zu können. Allerdings befand sich der Zettel zusammengefaltet in seiner hinteren, linken Hosentasche. Es scheint sich um die herausgerissene Seite aus einem Notizbuch oder Schreibheft im Format DIN-A5 zu handeln, die augenscheinlich mit einem blauen Kugelschreiber beschrieben wurde.«

      »Und die Kette?«

      »Ein sogenanntes Bettelarmband. Tatsächlich trug Nadine Blume ein derartiges Armband bei sich, als sie verschwand. Ob es sich allerdings wirklich um das Bettelarmband des verschwundenen Mädchens handelt, kann ich noch nicht bestätigen. Für eine eindeutige Identifizierung müssen wir es erst ihren Angehörigen und Freunden vorlegen. Die Beschreibung von Nadine Blumes Armband und der sieben Symbole stimmt allerdings exakt mit dem hier überein.«

      Schäringer nickte nachdenklich. Also hatte Bauer tatsächlich die Wahrheit gesagt. Aber weshalb sollte er lügen. Ihm musste klar sein, dass Schäringer und Baum seine Angaben leicht überprüfen konnten und das vermutlich auch tun würden. »Wissen wir eigentlich schon, wer der junge Mann ist?«

      »Wissen wir. Er hatte nämlich freundlicherweise sein Portemonnaie bei sich. Es steckte in seiner rechten, hinteren Hosentasche. Darin befanden sich neben etwas Bargeld eine EC-Karte, ein Führerschein und ein Personalausweis. Sämtliche Papiere sind auf einen Niklas Kramer ausgestellt, wohnhaft im Willy-Buchauer-Ring in Fürstenfeldbruck. Er wurde im vergangenen Januar volljährig und ging anscheinend auf das Graf-Rasso-Gymnasium. Zumindest steht das in dem Schülerausweis, den er ebenfalls bei sich hatte.«

      »Dieselbe Schule, die auch Nadine Blume besuchte«, sagte Schäringer, der diese Information in einem der zahlreichen Zeitungsartikel, die nach ihrem Verschwinden erschienen waren, gelesen und sich gemerkt hatte.

      »Wenn die beiden auf dieselbe Schule gingen, dann hat er das Mädchen vermutlich auch gekannt«, stellte Baum fest. »Vielleicht hat Bauer ja doch recht, auch wenn ich das ungern zugebe, und der Junge hat die beiden Mädchen tatsächlich entführt und umgebracht. Und weil er mit der Schuld nicht mehr leben konnte, hat er sich hier aufgehängt. Macht doch Sinn, oder?«

      Krautmann nickte. »Diese Version würde zumindest zu den Beweisstücken passen, die wir gefunden haben.«

      »Aber wieso soll er ganz plötzlich Gewissensbisse bekommen haben, nachdem er zwei Mädchen entführte und tötete?«, fragte Schäringer, ohne sich an jemand Bestimmtes zu richten. Es war eher so, als würde er laut nachdenken. »Wenn es bereits nach dem ersten Entführungsopfer, das er aus der Schule kannte, geschehen wäre, würde ich es eher verstehen. Aber wieso erst jetzt, so kurz, nachdem er eine weitere junge Frau kidnappte und umbrachte?«

      Baum schürzte die Lippen und zuckte mit den Achseln. »Vielleicht wollte er die Mädels gar nicht töten, sondern nur irgendwo gefangen halten, wo er mit ihnen machen konnte, was er wollte. Aber dann passierte ein Unfall, und die Mädchen starben. Und weil er daran schuld war, wollte er nicht mehr weiterleben.«

      »Vielleicht war es ja tatsächlich so«, stimmte Schäringer zu, klang aber alles andere als überzeugt. »Immer vorausgesetzt, die beiden Schülerinnen sind tatsächlich tot und der junge Mann hat sich wirklich selbst umgebracht. Kannst du uns dazu schon etwas sagen, Christian?«

      »Vermutlich kann euch der Doc bald mehr darüber erzählen, wie der Junge wirklich ums Leben gekommen ist. Ich kann dazu nur so viel sagen: Da wir nichts gefunden haben, auf das er sich stellen konnte, um den Ast zu erreichen, muss er auf den Baum geklettert sein, um den Strick zu befestigen. Anschließend muss er sich die Schlinge um den Hals gelegt und heruntergesprungen sein. Anders wäre es ohne fremde Hilfe nämlich nicht möglich gewesen. Am Baum und auf der Oberseite des Astes fanden wir auch tatsächlich mehrere Stellen, an denen die Rinde abgeschabt oder beschädigt wurde. Es ist also tatsächlich jemand hochgeklettert. Ob es der Junge war, konnten wir aber nicht feststellen. Wahrscheinlich sind wir schlauer, sobald wir seine Kleidung im Labor auf Spuren