Die Legende von Assan. Carola Schierz

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Название Die Legende von Assan
Автор произведения Carola Schierz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738004953



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Dieses Kind wird die Macht haben, eure Herzen zu heilen und euch zu vereinen. Hass und Liebe, fleischgeworden, werden sich in die Augen sehen und einander erkennen, wie zwei Teile einer Seele. Dies wird euch euren Irrweg vor Augen führen. Und nur wenn ihr euren Frevel erkennt, werdet ihr gerettet werden.“ Dann war sie für alle Zeit verschwunden.

      Die eitlen Menschen sahen darin zunächst kein Problem. Sie bemerkten den Verlust kaum. Doch ihre Herzen begannen zu frieren. Freundschaften verkamen zu gefühlsarmen Verbindungen, die ihren Nutzen abzuwägen begannen. Das Böse gewann immer mehr die Oberhand. Viele der einst so edlen und furchtlosen Kämpfer Assans gierten nach Macht. Heiler setzten ihr Wissen zur Umkehr ein und brachten Krankheit über ihre vermeintlichen Gegner. Die Menschen kürten die beiden machtgierigsten Männer unter ihnen zu ihren Anführern - Tosman und Meditee, deren Nachfahren noch heute über das geteilte Land regieren. Bald kam es zu blutigen Fehden unter beiden und damit zum Bruch zwischen dem einst so einigen Volk. Es entstanden getrennte Reiche. Tosman und Mediterra.

      Als die Götter sahen, wie unwürdig mit ihren Gaben umgegangen worden war, folgten einige von ihnen Eras Beispiel und wandten sich ab. Sie nahmen ihre Gaben zurück und überließen die Unwürdigen ihrem Schicksal. Die Elixiere verschwanden aus den Tempeln und damit auch die besonderen Fähigkeiten. Nur in wenigen Auserwählten bestanden sie unerkannt fort. In jenen, die den Samen des Guten und der Hoffnung noch in sich trugen. Viele von ihnen, ohne zu ahnen, dass sie auserwählt waren, die Gaben der Götter zu vererben. Verängstigt baten sie Era immer wieder um Beistand und wurden auf eine lange Probe gestellt. Bis zum heutigen Tag warten sie sehnlichst auf das verheißene Kind.“

      Tana machte eine Pause und sah Laniki an. „Hast du irgendwelche Fragen?“

      „Ja! Welche Götter schlossen sich Era an? Welche Gaben wurden den Menschen entzogen?“

      „Nun, da war zum Beispiel Sita, die Göttin der Heilung. Sie nahm ihnen die Fähigkeit, mit ihren bloßen Händen zu heilen. Dann noch Telos, Gott der Seher. Er nahm ihnen die Gabe, Visionen zu empfangen und zu deuten.“ Wieder unterbrach sie ihre Rede und schaute erwartungsvoll auf Laniki. Deren Gedanken begannen zu kreisen.

      „Was fällt dir dabei auf?“, fragte Tana schließlich.

      „Ich habe zwei dieser Fähigkeiten - glaube ich. Manchmal sind Schmerzen unter meinen Händen verschwunden und ich wusste nicht warum. Und damals, als ich Lukas Mutter in die Augen geschaut habe, überkam mich ihr ganzes Leid! Aber es passierte einfach so. Wenn es eine Gabe wäre, dann könnte ich es doch sicher herbeiführen, wann immer ich will, oder?“

      „Richtig! Du hast diese Gaben wirklich und auch noch weitere. Du bist obendrein in der Lage zu Sehen, Visionen zu empfangen und die Gefühle deiner Mitmenschen zu empfinden und zu beeinflussen. Ich werde dir beibringen, damit sicher und rücksichtsvoll umzugehen, denn das solltest du. Wenn du deine Gaben zum eigenen, rein egoistischem Vorteil missbrauchst, ist alles verloren.“

      Mit diesen Worten hielt sie inne und blickte Laniki eindringlich an.

      „Ich werde es lernen!“, sagte das Mädchen mit fester Stimme.

      „Also gut. Wenn die Zeit kommt und du bereit bist, wird dich der Ruf ereilen. Du wirst dich auf den Weg machen müssen, um die verschwundene Amphore mit Eras Tugenden zu suchen.“

      „Aber wie soll ich denn ...“

      Doch Tana brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Eins nach dem anderen! Jetzt wirst du dich erst einmal auf deine Ausbildung konzentrieren müssen!“

      Und das tat Laniki dann auch. In den folgenden Jahren lehrte Tana sie das Meditieren, um ihre eigenen Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Heilkraft erprobte sie an kranken Tieren, die sie auf ihren Streifzügen durch den Wald fanden. Dabei machte sie gute Fortschritte. Immer wieder musste sie versuchen, in Tanas Gedanken und Gefühle einzutauchen und diese zu beeinflussen. Anfangs setzten sie sich Rücken an Rücken auf den Boden und Tana konzentrierte sich auf ein bestimmtes Objekt. Laniki musste dann versuchen, das Bild aus dem Kopf ihrer Lehrerin vor ihrem eigenen inneren Auge zu sehen. Nur sehr langsam erlangte sie Kontrolle über diese Gabe und bekam bald Zweifel, es überhaupt irgendwann richtig zu erlernen. Tana erklärte ihr, wie wichtig es war, dass sie miteinander ohne Worte kommunizieren konnten, da dies später der einzige Weg sein würde, über den sie Kontakt halten könnten. Weil Laniki bei ihrer Aufgabe nicht auf Tanas Rat verzichten wollte, strengte sie sich um so mehr an.

      Visionen hatte sie keine, außer diesem immer wiederkehrenden Traum von den beiden kämpfenden Männern und dem zerbrechenden Glas. Auch Tana konnte ihr dazu nichts hilfreiches sagen. „Wenn du es erkennen sollst, wird es dir schon offenbart werden.“

      Die Zeit verging und Tana wurde so etwas, wie eine zweite Mutter für das Mädchen. Sie verstanden sich prächtig und immer öfter auch ohne Worte. Im wahrsten Sinne. Irgendwann schafften sie es wirklich, sich mit purer Gedankenkraft zu verständigen. Sie führten ganze Gespräche auf diese Weise. Es war am Anfang sehr anstrengend und erforderte die volle Energie und Konzentration Lanikis, doch es war auch eine gute Übung, um die Sinne des Mädchens zu schärfen. Bald jedoch hatten sie beide viel Spaß an dieser Form des Lernens.

      Eines Tages kam Tana mit einem überraschenden Vorschlag. „Wir werden heute zu einer Wanderung aufbrechen und unter Menschen gehen. Nur so können wir prüfen, wie weit du inzwischen gekommen bist.“

      Völlig überrascht und sogleich erfreut ob dieser Aussicht, fiel ihr das Mädchen um den Hals. Es war nun schon mehr als fünf Jahre her, dass sie ihre Familie verlassen musste. Seit jenem Tag hatte sie zu niemandem außer Tana Kontakt gehabt. Geduldig ergab sich Laniki in ihr Schicksal und versuchte das Heimweh und die Sehnsucht nach den geliebten Menschen mit sich allein auszumachen. Tana war das natürlich nicht verborgen geblieben, doch sie hatte mit Wohlgefallen beobachtet, wie das Mädchen ihre eigenen Sehnsüchte und Interessen hinter das Wohl aller anderen stellte. Ein Wesenszug, der unabdingbar war für das, was Laniki noch vor sich hatte.

      Nach einem etwa zweistündigen Fußmarsch quer durch den Wald, kamen sie auf eine Weide. Unten im Tal lag eine größere Ortschaft. Zielstrebig gingen sie darauf zu und stellten erfreut fest, dass gerade Markttag war. Sie nutzten die Gelegenheit zu ein paar notwendigen Einkäufen und ließen sich mit der Menge treiben. Es gab alles, was das Herz begehrte. Stände mit gebrannten Mandeln, die verführerisch dufteten, bunte Stoffe und Tücher, Schmuck, ein breites Sortiment an verschiedenem Geschirr, Fleisch, Obst, Gemüse. Laniki konnte sich nicht sattsehen. Doch gleichzeitig zogen die Menschen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Laniki konnte all die fremden Gefühle spüren. Es war alles nur undeutlich, brachte sie aber dennoch völlig durcheinander. Bisher war sie immer mit Tana allein gewesen und ständig bemüht, ihre Fähigkeiten diesbezüglich auszubauen. Doch mit dem, was hier auf sie einströmte, war sie vollkommen überfordert. Sie wurde nervös.

      Tana, die damit wohl gerechnet hatte, zog Laniki zur Seite.

      „Jetzt kommt der andere Teil der Lektion. Du musst lernen dich zu verschließen und deine Gabe nur dann einzusetzen, wenn du es für nötig hältst.“

      „Ja, aber wie?“, fragte das Mädchen ratlos.

      „Versuch es einfach! Nutze, was du beim Meditieren gelernt hast. Ruhe in dir. Am Anfang wird es dir noch schwerfallen, aber irgendwann übernimmt dein Unterbewusstsein automatisch die Kontrolle und du kannst es leicht steuern.“

      Laniki kamen Tanas Worte vor wie blanker Hohn. Doch sie wollte es wenigstens versuchen. Und nach ein paar Stunden hatte sie mäßigen Erfolg. Mit viel Willensstärke schaffte sie es, sich gegen die äußeren Einflüsse abzuschirmen und nur noch ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen.

      „Ich glaube, du hast es begriffen“, sagte Tana nur knapp. „Dann würde ich vorschlagen, dass wir uns langsam wieder auf den Rückweg machen.“

      Als sie die Ortschaft schon fast verlassen hatten, kamen sie an einer Menschenansammlung vorbei und wurden Zeuge eines üblen Vorfalls. Ein Mann war gerade damit beschäftigt, auf einen kleinen Jungen einzuschlagen, der ihm angeblich etwas gestohlen hatte. Sofort musste Laniki an Luka denken und vergaß ihren Schutz. Deutlich spürte sie die Angst des Kleinen und auch die Wut des Mannes.