DAS BUCH ANDRAS II. Eberhard Weidner

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Название DAS BUCH ANDRAS II
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия DAS BUCH ANDRAS
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738007473



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bevor dieser auch nur in der Lage war, den Angriff abzuwehren oder ihm zu entgehen.

      Ich stellte mir unwillkürlich die Frage – auch wenn der Moment alles andere als passend für derartige Überlegungen war –, ob es sich um denselben Pflock handelte, an dem der selbst ernannte Vampirjäger vor wenigen Stunden in der geheimen Bibliothek so ausdauernd und kunstvoll herumgeschnitzt hatte.

      Gehrmann ächzte vor Schmerz. Ein geisterhaft wirkender Laut, der wie ein leichter Windhauch aus seinem weit aufgerissenen Mund drang und kaum hörbar war. Er senkte die Hand mit der Schusswaffe, um eine Kugel auf seinen Peiniger abzufeuern. Doch van Helsing verstärkte den Druck auf den Pfahl, der im Brustkorb des anderen Mannes steckte, und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Mit einem ekelerregenden, nassen Geräusch, das sich anhörte, als würde jemand seinen Fuß aus dickflüssigem, klebrigem Morast ziehen, drang die Spitze des Holzpflocks noch tiefer in Gehrmanns Körper.

      Die Pfahlspitze musste schließlich das Herz des Mannes durchstoßen haben, denn jäh erzitterte Gehrmanns Körper von Kopf bis Fuß wie unter einem Stromstoß. Die Finger der rechten Hand öffneten sich, bevor er die Pistole abfeuern konnte, und die Waffe fiel zu Boden, wo sie mit einem lauten Poltern landete.

      Erneut drang ein gespenstischer Laut aus dem Mund des tödlich getroffenen Mannes, der mich unwillkürlich an das nächtliche Stöhnen auf einem verlassenen Friedhof denken ließ und mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Ich war in diesem Augenblick fest davon überzeugt, dass mich dieser Laut noch jahrelang in meinen Träumen verfolgen würde.

      Dann erstarb das Zittern so rasch, wie es entstanden war, als scheinbar von einer Sekunde zur nächsten alles Leben aus Gehrmanns Körper entfloh. Starr und in aufrechter Haltung kippte Gehrmann wie ein gefällter Baum nach hinten und landete hart auf dem Boden. Er blieb auf dem Rücken liegen und zuckte ein letztes Mal spasmisch.

      Im schwachen Licht, das aus dem Gang ins Zimmer fiel, nur undeutlich erkennbar, sah ich, dass ein dünner Blutfaden aus seinem Mundwinkel lief und an seiner Wange nach unten rann. Seine Augen hatte er vor Entsetzen und Agonie weit aufgerissen, doch sie starrten nur blick- und ausdruckslos zur Decke.

      Trotz des Schocks, den mir das soeben Erlebte und vor allem die Rasanz und Unaufhaltsamkeit der Geschehnisse versetzt hatten, erholte ich mich erstaunlich schnell wieder. Wahrscheinlich hatte ich in letzter Zeit einfach zu viele schreckliche Dinge erlebt, sodass inzwischen ein Gewöhnungseffekt eingetreten war. Ich quetschte mich aus meinem Versteck und rannte am Bett vorbei, in dem van Helsing noch immer aufrecht saß und, mit sich und der Welt anscheinend vollkommen zufrieden und im Einklang, lächelnd auf sein blutiges Werk herabblickte.

      Neben Gehrmanns gefälltem Körper ging ich in die Hocke. Ich brauchte mir gar nicht erst die Mühe zu machen, nach seiner Halsschlagader zu tasten und seinen Puls zu fühlen. Es reichte ein Blick in seine starren, vollkommen leblosen Augen, um sofort zu erkennen, dass der Mann tot war und nichts und niemand in der Lage sein würde, ihn zu retten. Wie der abgesägte Schaft einer monströsen Lanze ragte der hölzerne Pfahl aus seiner linken Brustseite. Van Helsings Hieb war so kraftvoll gewesen, dass fast die Hälfte des Holzpflocks in Gehrmanns Körper eingedrungen war. Im schwachen Lichtschein konnte ich große Mengen Blut sehen, die aus der Wunde geflossen waren, als sein Herz noch geschlagen hatte, und die schwarze Kleidung um die grässliche Wunde herum noch dunkler erscheinen ließ.

      Ich erinnerte mich daran, dass die gefährliche Situation noch längst nicht ausgestanden war, denn im Gang stand ein weiterer Mann mit einer geladenen, schussbereiten Waffe. Und wenn er den Lärm aus diesem Zimmer gehört hatte – und davon musste ich ausgehen –, dann war er sicherlich schon längst hierher unterwegs, um nach seinem Kollegen zu sehen.

      Ich durfte also nicht länger herumtrödeln und kostbare Zeit verlieren. Also riss ich mich von dem Anblick des toten Mannes los, dessen Ableben in meinen Augen ohnehin nicht völlig unverdient erfolgt war – wer Gewalt sät usw. –, auch wenn die Brutalität und Vehemenz, mit denen es eingetreten war, mich dennoch schockiert hatten. Rasch griff ich nach Gehrmanns Pistole, die neben dem Bett am Boden lag und matt glänzte.

      »Bleib lieber, wo du bist, van Helsing!«, raunte ich und richtete mich gleichzeitig auf. »Draußen ist nämlich noch einer von denen.«

      Kapitel 3

      Während ich auf leisen Sohlen zur Tür huschte, konnte ich hören, dass auf der Station inzwischen auch andere Stimmen und Geräusche laut wurden. Der für diese Uhrzeit ungewohnte Lärm, angefangen bei den abgewürgten Schreien der Nachtschwester über das Splittern der zerschossenen Trennscheibe bis hin zu van Helsings gellendem Schrei, der dem Ganzen die Krone aufgesetzt und vermutlich auch den letzten Erwachenden davon überzeugt hatte, dass in der heutigen Nacht auf der Station etwas nicht in Ordnung war, war natürlich nicht ungehört geblieben. Zahlreiche Insassen in der unmittelbaren Umgebung mussten mittlerweile geweckt worden sein und rührten sich nun. Und allmählich, wie ein Waldbrand, breitete sich die Unruhe aus und zog weitere Kreise.

      Die Bewohner des Sanatoriums, die psychisch ohnehin in den allerwenigsten Fällen ausreichend gefestigt und durch den ungewohnten nächtlichen Lärm nun auch noch aus dem Schlaf geschreckt worden waren, reagierten verständlicherweise panisch auf die Durchbrechung ihrer gewohnten Routine, die für viele von ihnen für eine erfolgreiche Behandlung ihrer Krankheiten von entscheidender Bedeutung war.

      Stampfendes Getrampel war zu hören, als jemand panisch umherlief. Laute Schreie in unterschiedlichen Lautstärken und Tonhöhen erklangen aus allen Richtungen, teils langgezogen wie schrille Sirenen, teils abgehackt und in rhythmischer Folge. Außerdem wurden ringsum auch hysterische Rufe, Gejammer und fragende Stimmen lauter.

      Als ich die Türöffnung erreichte, herrschte auf der ganzen Station bereits ein höherer Lärmpegel, als es tagsüber der Fall war. Wenn man die Augen schloss, konnte man das Gefühl haben, sich inmitten eines erwachenden Zoos oder im tropischen Regenwald zu befinden angesichts der Kakophonie und Vielfältigkeit der Geräusche, die oftmals eher an die Laute von Tieren als an von Menschen verursachte Töne erinnerten. Die Station war also mittlerweile akustisch im wahrsten Sinne des Wortes das reinste Tollhaus.

      Ich musste mir nicht mehr besonders viel Mühe geben, mich lautlos oder zumindest möglichst leise zu verhalten, da jedes Geräusch, das ich verursachte, ohnehin in der sich weiterhin steigernden und um sich greifenden Unruhe unterging. Vor der Tür ging ich erneut in die Hocke und spähte um den Türstock herum nach draußen in den Flur.

      Klapp war selbstverständlich auf den Lärm aus diesem Zimmer aufmerksam geworden. Vermutlich war er anfangs noch etwas irritiert gewesen, was der Schrei zu bedeuten hatte, und hatte erst noch eine kleine Weile abgewartet, ob sein Kollege wieder heraus in den Gang kam oder nach ihm rief. Als das allerdings nicht geschehen war, musste er selbstständig eine Entscheidung getroffen und sich in Marsch gesetzt haben, um nach dem Rechten zu sehen. Deshalb marschierte Klapp nun mit schussbereit vor sich gehaltener Waffe direkt auf diesen Eingang und damit auf mich zu. Allerdings hatte er mich noch nicht entdeckt, da ihn der lauter werdende Lärm um ihn herum erschreckte und seine weit aufgerissenen Augen hektisch in alle Richtungen zuckten, als hätte er Angst, jeden Moment von einer Meute Wahnsinniger hinterrücks angefallen zu werden.

      Ich sah, dass sich bereits einige Türen geöffnet hatten und vereinzelt Patienten mehr oder weniger zögerlich auf den Flur traten, um nachzusehen, was los war. Dann zog ich jedoch lieber den Kopf zurück, bevor ich von Klapp gesehen werden konnte.

      Ich überlegte fieberhaft, was ich tun sollte. Ich hielt zwar ebenfalls eine Schusswaffe in der Hand, was mich meinem Gegner zumindest hinsichtlich der Bewaffnung ebenbürtig machte. Ich war mir jedoch keineswegs sicher, ob ich auch dieselbe Kaltblütigkeit und Skrupellosigkeit wie er besaß, um im entscheidenden Moment abzudrücken, sollte die Situation es erfordern. Am liebsten wäre es mir natürlich, wenn ich erst gar nicht in die Lage geriet, eine derartige Entscheidung treffen zu müssen. Aber so, wie es momentan aussah, würde es mir wohl nicht erspart bleiben, denn Klapp würde, wenn kein Wunder geschah, nur allzu bald im Türrahmen auftauchen.

      Da nahm ich völlig überrascht wahr, dass eine flinke Gestalt an mir vorbeihuschte. Ich blickte rasch auf und erkannte van Helsing.