DAS BUCH ANDRAS I. Eberhard Weidner

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Название DAS BUCH ANDRAS I
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия DAS BUCH ANDRAS
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738007527



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verstummte und blickte nun doch überrascht von seinen Papieren auf, da er die widersprüchlichen Reaktionen von Dr. Jantzen und mir auf seine Worte natürlich, wenn auch verzögert mitbekommen haben musste.

      Dr. Jantzen hatte eine Verwünschung gemurmelt. Die Tatsache, dass der Facharzt für jegliches Psychozeug überhaupt in der Lage war, derartige Flüche auszustoßen, schockierte mich dabei nur unwesentlich weniger als der Umstand, dass es hier allem Anschein nach um eine Mordermittlung ging. Und zwar augenscheinlich nicht nur um einen einzelnen Mord, denn der Kriminalbeamte hatte die Mehrzahl verwendet. Ich hatte daher, während Dr. Jantzens Worte noch in der Luft hingen, überrascht nach Luft geschnappt wie ein Fisch, der sich plötzlich an Land wiederfindet, und die Hand vor den Mund geschlagen, um zu verhindern, dass sich ein Aufschrei des Entsetzens Bahn brach, denn mit einem Mal schienen meine furchtbarsten Schreckensvisionen, die ich kurz zuvor noch als unrealistisch betrachtet hatte, wahr geworden zu sein.

      Mit geweiteten Augen, in denen sein Unverständnis deutlich zu lesen war, sah Hauptkommissar Gehrmann erst mich und dann den Arzt an. »Was hat das zu bedeuten, Dr. Jantzen?«

      Bevor der Doktor ihm eine Antwort gab, sah er zunächst zu mir und fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich gab ihm durch ein kurzes Nicken zu verstehen, dass es mir gut ging. Erst dann wandte sich Dr. Jantzen an den Polizisten und gab ihm eine Erklärung. »Frau Dorn hat durch die traumatischen Umstände, deren Zeugin sie wurde, eine dissoziative Amnesie erlitten.«

      »Amnesie?«, wiederholte der Beamte in fragendem Tonfall den Begriff, der es von allen Fachausdrücken, die Dr. Jantzen benutzt hatte, noch am ehestens geschafft hatte, von Gehrmann verstanden worden zu sein. »Sie meinen, Frau Dorn kann sich an nichts erinnern?«

      »Genau so ist es. Frau Dorn ist im Augenblick überhaupt nicht in der Lage, sich an die belastenden Ereignisse oder irgendein anderes autobiografisches Detail ihres Lebens zu erinnern. Der Versuch einer Befragung über Dinge aus ihrer Vergangenheit ist daher absolut unnütz. Das hätte ich Ihnen natürlich auch vorher sagen können, wenn Sie mir Gelegenheit dazu gegeben hätten. So haben wir nur kostbare Zeit vergeudet.«

      Ich konnte sehen, dass der Polizist sich bemühte, diese neuen Informationen zu verdauen. »Und Sie können mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, dass Frau Dorn diesen … diesen Gedächtnisverlust nicht nur simuliert?«, fragte er dann den Arzt, als wäre ich überhaupt nicht anwesend.

      Ich schnaubte entrüstet angesichts dieses empörenden Vorwurfs, doch der Kriminalbeamte beachtete mich gar nicht. Lediglich Dr. Jantzen warf mir einen kurzen besänftigenden Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Hauptkommissar Gehrmann richtete. »Natürlich kann ich mir über so etwas nicht hundertprozentig sicher sein, schließlich kann ich ebenso wenig wie Sie in Frau Dorns Kopf hineinsehen. Es ist schlichtweg unmöglich, eine dissoziative Amnesie eindeutig von einem simulierten Gedächtnisverlust zu unterscheiden. Dazu liegen bisher weder Untersuchungsmethoden noch Vorgehensweisen vor. Zwar weisen Patienten mit dissoziativer Amnesie im Gegensatz zu Simulanten grundsätzlich eine deutlich höhere Hypnotisierbarkeit auf, allerdings stehen wir erst am Anfang der Heilbehandlung. Wenn Sie allerdings meine persönliche Meinung als behandelnder Facharzt dazu hören wollen, dann kann ich Ihnen sagen, dass ich im Augenblick davon ausgehe, dass Frau Dorn keineswegs simuliert, sondern tatsächlich große Erinnerungslücken hat. Was sie mir dazu geschildert hat, klingt für mich überzeugend genug, um einen Fall von dissoziativer Amnesie zu diagnostizieren und den Verlauf der bevorstehenden Psychotherapie auch auf diese Diagnose abzustimmen.«

      Gehrmann wirkte zwar, seinem zweifelnden Blick nach zu urteilen, alles andere als überzeugt, ließ das Thema aber fürs Erste auf sich beruhen. »Sie kann sich also an überhaupt nichts erinnern?«, vergewisserte er sich stattdessen erneut.

      Dr. Jantzen beschränkte sich auf ein einmaliges, entschiedenes Nicken als Antwort.

      »Und was haben Sie ihr über diese ganze … äh, Angelegenheit erzählt?«

      »Im Grunde überhaupt nichts. Ich habe Frau Dorn bisher lediglich ein paar autobiografische Daten genannt, die in ihrer Patientenakte stehen. Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass es verfrüht wäre, sie schon jetzt mit den Ereignissen zu konfrontieren, die die Beeinträchtigung ausgelöst haben. Es besteht nämlich die akute Gefahr einer Retraumatisierung.«

      »Aber unter Umständen könnte das Wissen über das, was vorgefallen ist, in Frau Dorns Gedächtnis auch eine Wiedergewinnung der verschütteten Erinnerungen auslösen. Können Sie das bestätigen, Dr. Jantzen?«

      Dr. Jantzen nickte zögerlich. Auch wenn er diese Information nur widerwillig an den Polizeibeamten weitergab, so war er doch nicht in der Lage oder willens, diesen zu belügen.

      Der Polizist dachte nach. Ich war mir aufgrund des Bildes, das ich mir auf der Grundlage seines bisher gezeigten Verhaltens über seinen Charakter erstellt hatte, ziemlich sicher, dass die von Dr. Jantzen angesprochene Gefahr einer Retraumatisierung in Gehrmanns Überlegungen nur eine untergeordnete Rolle spielte, sofern er sie überhaupt in seine Gedankenspiele einbezog. Er würde eine derartige Gefährdung billigend in Kauf nehmen, wenn er dafür im Gegenzug neue Informationen in Erfahrung bringen konnte, die ihm bei seinen Ermittlungen halfen.

      Womit der Kriminalbeamte und ich – wenn auch nur in diesem speziellen Punkt – übrigens einer Meinung waren. Auch ich war bereit, die theoretisch bestehende Gefahr, erneut traumatisiert zu werden, auf mich zu nehmen, wenn nur so die Möglichkeit bestand, das klaffende Loch in meinem Gedächtnis zu stopfen. Denn eigentlich konnte mein Zustand meiner Ansicht nach nur unwesentlich schlimmer werden als im Moment.

      Also fasste ich, ohne länger darüber nachzugrübeln, meinen Wunsch in Worte und richtete diese direkt an Gehrmann. »Warum erzählen Sie mir nicht, was in der Nacht meiner Einlieferung geschehen ist, Herr Kriminalhauptkommissar. Was hat dazu geführt, dass ich sämtliche Erinnerungen an meine Vergangenheit verloren habe? Sie sprachen vorhin von Morden. Wer wurde ermordet? Und was habe ich damit zu tun?«

      Sowohl der Polizist als auch der Arzt fuhren zu mir herum, als ich mich so überraschend und zum ersten Mal, seitdem der Kriminalbeamte auf der Bildfläche erschienen war, zu Wort meldete. Beide sahen mich mit großen Augen an und begannen dann, als sie ihre Überraschung überwunden hatten, gleichzeitig zu sprechen.

      »Ich rate Ihnen, das nicht zu tun, Frau Dorn«, sagte Dr. Jantzen.

      »Wir können uns unter Umständen gegenseitig helfen«, bot mir hingegen Hauptkommissar Gehrmann an.

      Der Vergleich, der sich mir in diesem Augenblick förmlich aufdrängte, hätte mich trotz des Ernstes der Lage beinahe zum Lachen gebracht, denn die beiden Männer gebärdeten sich wie Engel und Teufel, die mich in ihrem jeweiligen Sinne zu beeinflussen versuchten. Der Doktor personifizierte in diesem Fall den himmlischen Boten, der mich davon abhalten wollte, eine – zumindest in seinen Augen – Dummheit zu begehen. Und der Polizist stellte Beelzebub dar, der mich im Gegensatz dazu zu irgendwelchen Untaten verführen wollte. Für einen kurzen Augenblick war ich hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Polen, gewissermaßen zwischen Gut und Böse, doch schlussendlich siegte die Wissbegier über die Vorsicht. Wenn ich nichts wagte und mich aus Angst in einem Schneckenhaus der Unwissenheit verkroch, dann konnte ich auch schwerlich neue Erkenntnisse gewinnen und auf eine erfolgreiche und gegebenenfalls rasche Wiederherstellung meiner Erinnerungen hoffen.

      Ich schenkte daher zunächst Dr. Jantzen ein um Verzeihung bittendes, etwas schief geratenes Lächeln, in dem darüber hinaus mein schlechtes Gewissen zu lesen sein musste. »Tut mir leid, Dr. Jantzen, aber ich muss das Risiko eingehen.«

      Der Arzt zuckte die Schultern. »Es ist Ihre Entscheidung, Frau Dorn. Ich hoffe nur, dass Sie sie nicht bereuen.« Und wie um mir zu verdeutlichen, dass er es mir nicht übel nahm, zeigte er die Andeutung eines schmallippigen Lächelns und fügte hinzu: »Vielleicht hilft es Ihnen ja tatsächlich dabei, Ihre Erinnerungen wiederzuerlangen.«

      Ich nickte dankbar und wandte mich dann an den Polizisten. »Also, Herr Kriminalhauptkommissar. Erzählen Sie mir bitte, was ich noch nicht weiß! Und das ist eine ganze Menge, das kann ich Ihnen versichern.«

      Ein knappes Nicken seinerseits, und damit war die