Название | Morgensonnenschein |
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Автор произведения | Alina Haag |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783754928622 |
Kapitel 1
„Zelda, wir kommen noch zu spät!“ Meine Mutter hatte nun den Höhepunkt ihrer Nervosität erreicht.
Schon seit Tagen war sie zappelig und schreckhaft gewesen und obwohl der Termin für die Zeremonie schon seit der Geburt des Jungen vor zwei Wochen feststand, hatte mich schließlich meine Mutter doch mit ihrer Aufregung angesteckt und auch ich war unruhig geworden. Ein letztes Mal zupfte ich an meinem Zopf herum, gab es schließlich auf, ihn zu verschönern, und zwängte mich aus dem eh schon engen Badezimmer in den noch schmaleren, düsteren und schmuddeligen Flur mit der dreckgrünen Wandfarbe und dem grauen Steinboden. Schmuddelig war dieser nicht etwa, weil meine Mutter nicht putzte, sondern weil wir uns jenen, genauso wie das Bad, mit zwei weiteren Familien teilten. Mit drei langen Schritten hatte ich den Gang passiert und traf vor der Haustüre auf meine Mutter, in ihrem blauen Gänseblümchenkleid, dem wertvollsten Kleid, das sie besaß, da es keine Flicken hatte, meine kleine Schwester Dora und meinen neugeborenen Bruder. Eigentlich durfte den Kindern vor der Zeremonie noch kein Name gegeben werden, aber meine Mutter, die der festen Überzeugung war, dass der Junge bei uns bleiben durfte, hatte ihn schon benannt: Leo- Löwe.
Natürlich könnte sich jetzt so mancher fragen, warum ich nicht einfach meiner Mutter erzählte, welchen Preis der kleine Leo hatte, aber so einfach war es dann doch nicht. Besonders bei noch sehr jungen Menschen brauchte es als Preisrichter ein geübtes Auge, um den Wert seines Lebens zu erkennen. Bei Erwachsenen dagegen war es sehr einfach: Ein Blick auf ihre Stirn und du wusstest wahrscheinlich mehr über ihren Wohnort und ihr Leben als die meisten anderen auf der Straße. Zahlen verraten einem vieles…Und selbst wenn ich mehr Übung gehabt hätte, hätte ich meiner Mutter Leos Preis nicht sagen können, zum ersten, weil ich ihr mein Geheimnis nicht einfach verraten konnte und zum zweiten, weil ich nicht diejenige sein wollte, die diese unendliche Trauer in ihren Augen auslöste, falls ihr Kind nicht bleiben durfte. Dies war der Fall, wenn sein Preis den Bereich unter 300 sprengte. Dann kam er zu den „normalen“ Familien, zu der Art von Familie, die es sich leisten konnte, einmal im Jahr in den Urlaub zu fahren, deren Kinder die Schule auch nach dem Beenden ihres 15. Lebensjahres noch besuchen konnten und die ein gesundes und glückliches Leben führten. Schon dieser soziale Aufstieg war selten, fast unmöglich erschien da die Überschreitung der 450 Marke. Von da an gehörte man nämlich zu den Reichen, vielleicht noch nicht zur Elite, die ab 600 begann, aber doch zur höheren Bevölkerungsschicht, die kleinere politische Ämter bekleideten oder in großen Konzernen so etwas wie die rechte Hand ihres Chefs waren. Die Elite bildeten wenige Professoren an renommierten Universitäten, Chefs großer Konzerne, Politiker und natürlich die Preisrichter. Jetzt wäre es wohl interessant zu wissen, warum ich diese Chance auf einen so großen sozialen Aufstieg einfach wegwarf. Der Grund dafür war meine Mutter: Regelmäßig zog sie über die, ihrer Ansicht nach, korrupten Preisrichter her. Ich hatte Angst sie würde mich dafür hassen, was ich war und dafür, dass ich sie verlassen würde.
Kapitel 2
Gerade hatten wir nach einem Fußmarsch von etwa zehn Minuten durch mein Heimatviertel Limestone die Straßenbahnstation, einen nichtssagenden hölzernen Überstand mit einem ramponierten Ticketschalter vor den verwitterten Bahngleisen, erreicht und stiegen dort in eine Bahn nach Marpel City, dem politischen Zentrum von Stones, ein. Das Kribbeln in meiner Magengegend verstärkte sich zunehmend und um diese Nervosität abzubauen trommelte ich mit meinen Fingern beliebige Rhythmen auf den dreckigen Scheiben unseres Abteils. Warum unseres Abteils? Natürlich hatte meine Familie in dem blauen Zug mit den dynamischen gelben Streifen an der Seite nicht ein einziges Abteil für sich allein. Mit uns meinte ich nämlich auch die vierte Bevölkerungsschicht. Wie die Stadt nach Vierteln für Menschen gleicher Preisklasse aufgeteilt wurde, so wurden auch Straßenbahnabteile oder Bänke für verschiedene Bevölkerungsschichten errichtet, die sich dann natürlich auch in ihrer Ausstattung unterschieden. Die fünfte Bevölkerungsschicht war zusammen mit der vierten in einem Abteil. Die dritte Schicht hatte ihr eigenes und es gab auch eine kleine Loge für höhere Schichten, die mit allem möglichem Schnickschnack ausgestattet worden war, wie ledernen Sitzen oder goldumrandeten Abteilungstüren. In unserem Bereich waren nur wenige Sitzplätze errichtet worden. Diejenigen, die sich am Bahnhof vorgedrängelt hatten, saßen auf unbequemen Holzbänken, die anderen standen. So näherten wir uns der nächsten Haltestelle nach Limestone: Ardesia. Das Viertel der dritten Schicht stellte den puren Gegensatz zu Limestone dar. In Ardesia waren die Straßen sauberer, die Häuser schöner und größer, der Himmel klarer, nicht verrußt vom Schornsteinrauch, und die Menschen besser gekleidet und wohlgenährter. Dieser Anblick Ardesias in den frühen Morgenstunden war einfach unbegreiflich schön: die roten, taunassen Dächer und verlassenen Straßen, die Bäume und Grünflächen, die kleine Parks mit Spielplätzen erahnen ließen und im Sommer mit ihrem kühlen Schatten und den Badegelegenheiten viele Ardesianer anlocken würden. Erst einmal zuvor war ich hier gewesen, vor zwölf Jahren, zur Zeremonie meiner damals neugeborenen Schwester, als ich gerade einmal vier Jahre alt gewesen war. Dieser Gedanke brachte mich in die Gegenwart zurück. Die Zeremonie meines Bruders! Leichte Übelkeit stieg in mir hoch, als ich daran dachte, was letztes Mal, als ein Sohn meiner Mutter an der Zeremonie teilgenommen hatte, geschehen war… Damals hatte mein Vater noch gelebt. Ich kannte die Geschichte nur aus Erzählungen, da ich damals, vor 17 Jahren, noch nicht auf der Welt gewesen war. Meine Eltern waren mit ihrem ersten gemeinsamen Kind zur Zeremonie gegangen, ihre Zukunft als glückliche Familie fest im Blick. Doch dann war das fast unmögliche geschehen: mein Bruder hatte den Preis 451 und dieser Wert stufte ihn in die zweite Schicht ein. Meine Eltern flehten die Preisrichter an, ihnen ihren Sohn zu lassen, hatten sie sich doch mit dem Gehalt meines Vaters als Leiter der Schmiede seines Vaters ein kleines Häuschen mit Garten am Rande der Stadt zulegen können, doch vergebens. Die Preisrichter hatten sich von den Tränen meiner Mutter nicht erweichen lassen und auf ihrem Urteil beharrt. Die Starrsinnigkeit der Richter hatte damals meinen Vater so erzürnt, dass er versucht hatte, sich auf diese zu stürzen. Gerade noch hatte sein Freund, der ebenfalls mit seinem Neugeborenen da gewesen war, ihn zurückhalten können, um Schlimmeres zu verhindern, doch die Botschaft war klar angekommen. Anstatt die Frist von drei Tagen abzuwarten, war mein Bruder sofort eingezogen worden. Doch vieles war noch ungeklärt, auch nach diesem Tag. Wie konnte es sein, dass ein Junge, dessen Eltern beide aus der vierten Schicht stammten, einen Preis von 451 hatte? Es wurde gemunkelt, dass meine Mutter einen Liebhaber gehabt hatte oder dass der hohe Preis eine Generation übersprungen hatte und meine Großeltern, die zur damaligen Zeit nicht mehr lebten, etwas damit zu tun hatten, schließlich war der Preis erblich bedingt wie die Haarfarbe, und ich fragte mich in meinen rebellischsten Momenten oft, ob dieser wohl genauso leicht verändert werden konnte wie die angeborene Haarfarbe durch Färben. Jedenfalls bewiesen werden konnte keine jener Anschuldigungen jemals. Den Preisrichtern jedoch war egal gewesen, ob meine Eltern die Spekulationen um ihren Sohn vehement zurückwiesen. Sie sahen nur das Vorliegen eines Gesetzesverstoßes, das Anderssein und aus der Reihe tanzen befürwortete bei den Preisrichtern schon die Annahme eines solchen, und dieser musste geahndet werden, wozu sie sich den auffälligsten und aufrührerischsten aus meiner Familie aussuchten: meinen Vater. Er war in einer Nacht, etwa ein dreiviertel Jahr nach dem Tag der Zeremonie auf dem Weg zwischen seiner Schmiede und seinem Haus tot aufgefunden worden, ermordet. Niemand wusste bis heute, wer ihn getötet hatte, doch viele gingen davon aus, dass es die Strafe der Preisrichter gewesen war. Für meine Mutter brach damals eine Welt zusammen. Sie hatte in einem Jahr ihr Kind, ihren Mann, ihr Zuhause und ihre Zukunft verloren. Dazu war sie mit mir schwanger und mittellos gewesen, ein Umstand, der in der harten Welt Limestones einer Frau nicht viele Wahlmöglichkeiten ließ. So kam es, dass sie den unmenschlichen Job einer Näherin in einer der Fabriken annehmen hatte müssen, und das war auch ein weiterer Grund, warum ich ihr niemals davon erzählen durfte, dass ich selbst eine war, eine Preisrichterin.
Kapitel 3
Inzwischen wurde der Zug langsamer, bis er schließlich ganz zum Stehen kam. Meine Familie richtete sich auf und zusammen mit der nun vergleichsweise geringen Menge anderer in trostlose, graue Gewänder gekleideter Fahrgäste verließen wir die Straßenbahn. Wir hatten nun, nach einem kurzen Zwischenstopp in Ardesia, Marpel, das Viertel, das zwischen Ardesia und Pebble, dem Wohnort der Reichen lag, und dessen Zentrum Marpel City bildete, erreicht. Vor uns erhob sich eine Mauer, nicht eine von der kalten, hässlichen Sorte, sondern