Single Malt Weihnacht. Matthias Deigner

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Название Single Malt Weihnacht
Автор произведения Matthias Deigner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754925966



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sehe dich viel zu selten.« Der raue Tonfall des Herrn im perfekt sitzenden Nadelstreifenanzug war unüberhörbar. Noch ist er nicht in diesem Moment angekommen, noch hat er nicht losgelassen. Ihn umgab weiterhin eine Aura, die es erschwerte, ihm zu widersprechen.

      »Weil ich es so wollte.« Meine Mundwinkel zuckten. Ihre Stärke imponierte mir. Die knallroten Lippen formten die Worte mit aller Bestimmtheit, ohne einen Anflug von Ärger preiszugeben. Ich hing an ihnen und konnte mich nicht sattsehen. Er beugte den Oberkörper vor.

      »Wie lange ist es her?« Er schenkte Wasser aus der Glaskaraffe ein.

      »Das weißt du genau.«

      Der Anzugträger nickte und senkte den Blick auf die Tischplatte.

      »Eine Ewigkeit seit Paris.« Heiserkeit lag in seiner Stimme. Er räusperte sich und rieb sich ein Auge unter der Brille. In aller Stille polierte ich die Whiskeytumbler. Gemeinsam verloren sich unsere Blicke aus dem Fenster. Vom sechsundsechzigsten Stock betrachtet glichen die Häuser Spielzeugbausteinen. Einzelne Lichtpunkte aneinandergereiht zu endlosen Straßenzügen zeichneten ein chaotisches Muster auf die Erdoberfläche. Niemals erlaubten sie der Finsternis, auf die Stadt hinabzusinken.

      »Das war eine wunderbare Auszeit«, flüsterte er, bevor er mit den Fingerkuppen sanft über ihre Hand strich.

      »Hoffentlich vergeht nicht mehr so viel Zeit bis zu deinem nächsten Besuch.«

      »Ich bin doch gerade erst angekommen«, schmollte sie. Er nickte.

      »Hoffentlich bist du nicht enttäuscht. Wir feiern Weihnachten nicht so, wie du es ...«

      »In dieser Stadt ist mir nie langweilig«, unterbrach sie ihn und deutete mit dem Blick auf den bunt erleuchteten Tokyo-Tower. Diesmal war er es, der eine Schnute zog. Ich schniefte auf und schüttelte den Kopf. Er hatte wohl erwartet, sie wäre wegen ihm gekommen.

      »Wie war dein Flug?«

      »Zu lang ... – ein tolles Restaurant. Danke.« Sie ließ den Blick durch den Saal schweifen und zupfte die Träger ihres Abendkleids zurecht.

      »Alles in Ordnung?«

      »Der Jet-Lag ... Die Zeitumstellung haut mich immer um.«

      »Wie lange bleibst du? Das hast du mir über Skype nicht gesagt.« Sie schaute wieder aus dem Fenster, antwortete aber nicht.

      »Wie geht es deinem Vater? Kommt er allein klar?«, fragte sie stattdessen.

      Er neigte den Kopf von links nach rechts, was sein schwarzes Haar hin und herfallen ließ.

      »Seit meine Mutter ihn verlassen hat, trifft er sich zweimal die Woche in einem Izakaya zum Kartenspielen. Er gewinnt immer ...«

      Sie lachte lauthals auf und zwinkerte ihm zu.

      »Das passt zu dem alten Schlitzohr.«

      Er prustete los. Sie hatte es geschafft. Der knallharte Geschäftsmann hatte sich innerhalb von Minuten in einen fühlenden Menschen verwandelt.

      »Siehst du Akira oft? Du sprichst nur noch selten von ihr.« Aus seinem Gesichtsausdruck entwich jede Fülle wie Luft aus einem kaputten Fußball.

      »Sie ist mit ihrer Mutter nach Osaka gezogen ...«, sagte er mit gesenktem Blick.

      »Ah, daher bist du öfter in der Zweigstelle.«

      Er lächelte und wandte den Kopf kurz ab.

      »Auch ...«

      »Läuft die Firma gut?«

      Eifriges Nicken. »Wir übernehmen gerade einen amerikanischen Konkurrenten. Ich werde in der nächsten Zeit öfter nach San Francisco fliegen.« Dabei lehnte er sich zurück und streckte sich über die Rückenlehne des Stuhls aus.

      »Mmmhhh«, knurrte sie.

      »Keine Angst, wenn du kommst, bin ich hier.« Er grinste breit, doch sie reagierte nicht darauf.

      »Und bei dir?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.

      »Alles steht Kopf.«

      »Klingt nicht begeistert.«

      »Immer dasselbe. Die Firma will Stellen abbauen ...«

      »Deine Abteilung ist wohl kaum betroffen.«

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Ich überlege trotzdem, ob ich was anderes mache.«

      Er zog die Brauen hoch und schaute sie gespannt an.

      Lautlos pirschte ich mich an ihren Tisch und entzündete eine Kerze in der Mitte. Ich reichte die Aperitifs, die sie dankend annahmen.

      Plötzlich vibrierte ihr Telefon.

      »Ganz genau. Lagern Sie die Sachen bitte ein, bis ich mich melde.« Sie legte auf. Ihr Gegenüber wog den Kopf schräg. Sein jungenhaftes Gesicht verriet weder sein wahres Alter noch eine emotionale Regung. Nur die zusammengekniffenen Augen zeugten von Misstrauen.

      »Mein Gepäck. Ich lasse es später liefern.«

      »Wieviel hast du dabei?«, fragte er irritiert.

      »Zu viel für einen Koffer ...«

      Ihr Lächeln war aufrichtig, trotzdem verbarg sie etwas. War sie verlegen? Er bedeutete ihr mit der Hand, fortzufahren.

      »Ich habe gekündigt.«

      Der Herr im Anzug zuckte zurück. Mit geöffnetem Mund saß er da und hielt sich an der Tischkante fest.

      »Ich verstehe nicht. Der Job kam bei dir immer an erster Stelle ...«, antwortete er einen Moment später.

      »Ich fange neu an«, sagte sie felsenfest überzeugt.

      »Mit weniger Gehalt.«

      »Mit mehr Verantwortung.«

      »Mit längeren Arbeitszeiten.«

      »Mit freien Wochenenden.«

      »Ohne Dienstwagen.«

      »Mit weniger Reisen.«

      »Was für ein Job soll das sein?« Die Schroffheit kehrte in seine Stimme zurück.

      »Ich bin Großunternehmen leid. Es ist ein Mittelständler.«

      Er wog den Kopf hin und her, als taumelte er wie Treibgut im Wasser.

      »Wann?«

      »Zum neuen Jahr.«

      »Mmmh, du fliegst in ein paar Tagen zurück«, seufzte er. Sie griff in ihre Handtasche und wühlte darin umher. Unter dem Tisch blätterte sie in einem roten Büchlein, bis sie die Seite gefunden hatte. Sie legte sie ihm vor.

      Ungläubig nahm der das Heft in die Hand. Erst lehnte er sich zurück, nickte dann aber anerkennend. Ehrfürchtig fuhr er mit den Fingern über das Visum.

      »Du bleibst ...«

      Er schaute sie mit leuchtenden Augen an, rieb sich mit der Hand das Kinn und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. Gebannt starrte er erneut auf das Dokument, um ihm all die Geheimnisse zu entlocken, die er noch nicht entschlüsselt hatte.

      »Warum hast du nichts gesagt? Lass mich raten: Weil du nicht wolltest?« Er lachte auf.

      »Mmmh.«

      »Daraus soll einer schlau werden. Und wie geht’s weiter?«

      »Die Firma vermittelt mir eine Wohnung. Bis dahin bleibe ich im Hotel.« In ihren Augen blitzte es, aber er schien ihr Spiel nicht zu durchschauen.

      »Ah ...« Er reichte ihr den Pass. Eine Weile schwiegen sie und nippten an ihren Gläsern.

      »Was hast du?«, fragte sie schließlich, um die Stille zu durchbrechen. »Ich dachte, du würdest dich freuen.«

      »Ich freue mich ...«

      »Aber?«

      »In einem solchen Fall