Adelsspross. Katharina Maier

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Название Adelsspross
Автор произведения Katharina Maier
Жанр Языкознание
Серия Die Erste Tochter
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752931006



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für Vairrynn. Er war der große Bruder, er trug die Verantwortung für mich. Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen, während Vater Vai vor versammelter Mannschaft einen Vortrag über Pflichtbewusstsein hielt und seine dunklen Augen ärgerlich funkelten. Ich hasste es, wenn mein großer Bruder wegen mir in Schwierigkeiten geriet, aber wenn ich vorgetreten wäre und die Schuld auf mich genommen hätte, hätte ich alles nur noch schlimmer gemacht. Singisen haben nicht auf ihre kleinen Schwestern zu hören. Und so ließ Vairrynn Vaters Vortrag mit ein paar in passenden Momenten eingebrachten Gesten der Zustimmung über sich ergehen. Dass Vai mich unterrichtete, war unser wohlgehütetes Geheimnis; wir wollten uns beide gar nicht ausmalen, was Vater tun würde, würde er je herausfinden, was vor sich ging, wenn sein Erstgeborener mit seiner Tochter verschwand. Es geziemte sich für eine singisische Frau nicht, zu viel zu wissen. Ich glaube, weder ich noch mein großer Bruder machten uns damals bewusst, wie gefährlich dieses zu große Wissen tatsächlich werden konnte.

      Endlich wurde Vai mit der Versicherung, er würde sich bemühen, seiner Verantwortung in Zukunft gerecht zu werden, entlassen. Gleich darauf belegte ihn die Erste Dienerin mit Beschlag, und den Rest des Abends steckten die beiden die Köpfe zusammen; anscheinend hatte sich Jorngiss Mutters schnippischen Ratschlag zu Herzen genommen. Leider bekam ich keine Gelegenheit, herauszufinden, was es nun eigentlich war, das sie von Vairrynn wollte. Mutter schickte mich nämlich sofort in die Küche, um Dlindgy beim Kochen zu helfen. Da ich später auch zusammen mit unserem Mädchen für alles beim Abendessen auftragen musste, hatte ich den starken Verdacht, dass sich Mutters Ansicht darüber, wen die Schuld für unser Zuspätkommen traf, ein wenig von Vaters unterschied.

      »Na, was hast du jetzt wieder angestellt?«, fragte mich mein kleiner Bruder leise und mehr als ein wenig schadenfroh, als ich den Tisch abräumte. Er kannte seine Geschwister gut genug, um sich denken zu können, dass ich meinen Anteil an unserer Verfehlung gehabt hatte. Als Antwort streckte ich ihm die Zunge raus; der kleine Störenfried brauchte sich nichts darauf einzubilden, dass es heute mal Vairrynn und mich erwischt hatte. Mudmal lachte und überließ mich mit einem durchaus boshaften Glitzern in den Augen meiner Arbeit. Ich spielte einen Moment mit dem Gedanken, ihm meinen feuchten Abwischlappen in den Nacken zu werfen, ließ es dann aber bleiben. Mutter hatte mir so oder so schon so viele Aufgaben aufgetragen, dass ich gerade noch rechtzeitig zur großen Abschiedsszene der Ersten Dienerin damit fertig wurde.

      Jorngiss wirkte fast ein wenig sentimental, als sie uns Kinder segnete. Sie strich Mudmal mit ihrer knorrigen Hand über die Wange und nannte ihn einen echten Neoly, mir tätschelte sie den Kopf und meinte, ich solle nur so weitermachen wie bisher. Bei Vairrynn, der die Alte bereits um ein Weniges überragte, verzichtete sie auf ihre Großtantengesten, legte ihm stattdessen die Hand auf die Schulter und sagte ausgesprochen kryptisch: »Vergiss nie, dass du stärker bist als sie alle, ja? Aber sei vorsichtig. Und pass auf deine kleine Schwester auf, versprich mir das.«

      Vairrynn nickte ernst, während mir ziemlich respektlos durch den Kopf fuhr, dass sich unsere alte Tante Jorngiss wahrscheinlich ganz einfach einen Spaß daraus machte, ihr Umfeld gründlichst zu verwirren. Für ihre Verhältnisse war das »Achte gut auf deine kleine Familie, mein Junge«, mit dem sie meinen Vater bedachte, mehr als harmlos. Von meiner Mutter verabschiedete sie sich mit einer festen Umarmung. Für einen Moment sah es so aus, als würden sich die beiden Frauen aneinander festhalten. Dann verschwand Jorngiss, Erste Dienerin der Lchnadra, wie sie gekommen war: des Nachts, bei Wind und Wetter und unter einem Mantel der Heimlichkeit. Ich war nicht die Einzige, der das merkwürdig vorkam.

      Bald nach dem Aufbruch der Ersten Dienerin schickten die Eltern uns ins Bett. Verfressen wie ich bin, konnte ich es nicht lassen, mir einen kleinen Mitternachtsimbiss aus der Küche zu stibitzen, und ich schwöre, dass bei meiner Rückkehr die Tür zum Familienzimmer nur aus reinem Zufall einen Spalt offen stand. Ich hätte auch nicht gelauscht, hätte ich nicht Vater meinen Namen aussprechen hören, und da gewann meine ungeliebte Neugier die Überhand.

      »Wieso hätte uns Jorngiss wegen Mynrichwy besuchen sollen?«, fragte Mutter gerade.

      »Sag du es mir«, entgegnete Vater griesgrämig. Seine Begeisterung war beim Auftauchen der Ersten Dienerin schon alles andere als gewaltig gewesen und hatte sich im Laufe des Tages lediglich ins Negative gesteigert. Diese seine schlechte Laune war wohl auch der eigentliche Grund gewesen, warum er Vairrynn gar so zusammengestaucht hatte.

      »Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst, Eftnek.«

      Ich konnte Vaters Stirnrunzeln geradezu hören. »Sie hat sich doch den ganzen Abend lang regelrecht überschlagen, was für ein besonderes Mädchen deine Tochter ist – zumindest, wenn sie nicht gerade dabei war, meinem Sohn Flausen in den Kopf zu setzen.«

      »Und weiter? Freut es dich nicht, wenn jemand gut von deiner Tochter spricht?« Mutters Stimme klang eher müde als aufsässig, aber ich wusste, sie hätte solche Worte nicht gebraucht, wenn sie nicht ernstlich verärgert gewesen wäre. Einen Moment lang war es still im Familienzimmer.

      »Denkst du, sie will Mynrichwy für den Orden?«, fragte mein Vater dann. Ich bekam vor Schreck einen Schluckauf und presste die Hände vor den Mund. Mein Leben wurde von einem Moment auf den anderen bitterernst.

      »Ich weiß es nicht«, meinte Mutter, und ich hörte ihr das Erstaunen über diesen Gedanken an. »Das Kind ist erst neun. Aber selbst wenn – sollten wir uns nicht geehrt fühlen? Die Dienerinnen der Lchnadra sind hoch angesehen.«

      Mein Vater brummelte etwas in seinen Bart.

      »Was war das, Schatz?«

      »Ich habe nichts gegen den Lchnadra-Orden, Lys. Aber Jorngiss denkt, sie kann von der Familie verlangen, was sie will. Und meistens verlangt sie zu viel. Dabei ist sie technisch gesehen gar keine Neoly mehr.«

      »Der Fluss spricht immer von der Quelle«, entgegnete Mutter. »Und das bedeutet auch, dass Mynrichwy innerhalb des Lchnadra-Ordens so gut wie keine Grenzen gesetzt wären. Sie könnte alles erreichen, und Jorngiss hat recht, weißt du: Deine Tochter ist nicht gerade dumm.«

      Vaters Gebrumm klang nur um Nuancen besänftigter. »Mir gefällt der Gedanke einfach nicht, meine Tochter dieser alten Unruhestifterin zu überlassen.«

      »Es könnte die einzige Möglichkeit sein, sie vor der Heiratspolitik zu schützen, die dein Vater so leidenschaftlich betreibt«, entgegnete Mutter ernst. Langsam wurde mir aufrichtig schlecht.

      »Die Entscheidung über das Leben meiner Tochter liegt bei mir«, knurrte Vater. »Der Alte wird sich nicht einmischen, ganz im Gegensatz zu Ihrer Hochwürden, der Ersten Dienerin.«

      Mutter seufzte vernehmlich. »Natürlich ist es deine Entscheidung. Aber wir haben doch noch Zeit. Mynrichwy hat noch Zeit. Wir sollten ihr ihre Kindheit nicht nehmen, und ich glaube auch nicht, dass Jorngiss das vorhat.«

      »Sie hat also nichts zu dir über Mynrichwys Zukunft gesagt?«, meinte Vater nach einem Moment. Er klang ehrlich erleichtert. »Was, bei Wy, wollte sie denn dann hier?«

      »Ich weiß es nicht, mein Schatz«, sagte meine Mutter mit einer Fröhlichkeit, die unglaublich falsch klang in meinen Ohren, und das trieb mich endgültig weg von der Tür und in mein Zimmer, das mir schon oft wie eine kleine, sichere Höhle vorgekommen war. In dieser Nacht versagte es jedoch. Dass ich zum ersten Mal mit angehört hatte, wie meine Mutter ihren Mann belog, mit locker-leichter Stimme und ohne zu zögern, war nur der krönende Abschluss dieses Tages. Es war, als hätte sich meine Welt um eine Winzigkeit verschoben und dadurch Risse bekommen. Die Erste Dienerin, Ktorram Asnuor, die Monowyisten, eine lügende Mutter – nichts davon hatte noch am Tag zuvor einen Platz in meinem Leben gehabt. Und als sei das nicht genug, fingen meine Eltern an, sich Gedanken um meine Zukunft zu machen, als sei ich kein kleines Kind mehr, sondern …

      Die Zukunftsbilder, die meine Eltern für mich gezeichnet hatten, verstörten mich. Mir war, als könnte ich plötzlich mein Leben wie eine Straße vor mir ausgebreitet sehen, eine Straße, die sich in nicht allzu großer Entfernung in zwei Richtungen zweigte. Entweder den einen oder den anderen Weg würde ich gehen müssen. Doch während ich weitäugig in meinem Bett lag und mich von einer Seite auf die andere warf, ging mir auf, dass ich gar nicht gehen wollte. Ich wollte fliegen.