Adelsspross. Katharina Maier

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Название Adelsspross
Автор произведения Katharina Maier
Жанр Языкознание
Серия Die Erste Tochter
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752931006



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und die richtigen. Fakt war aber auch, dass sie seine Fragen bereitwillig beantworteten, erfreut über seine unstillbare Wissbegierde, während sie mir die meinen als unziemliche Neugier untersagten. Nachdenklich beobachtete ich die Erwachsenen, die sich endgültig in einem Gespräch über die Feinheiten der Holzsteinkunst verloren hatten.

      »Wenn die Lchnadra-Dienerinnen alle Familienbande lösen«, sagte ich langsam, »bricht die Erste Dienerin diese Regel doch bestimmt nicht nur für einen Höflichkeitsbesuch.«

      »Ja«, meinte Vairrynn. »Das denke ich allerdings auch.«

      Der nächste Tag fand uns in unserem weitläufigen Garten. Die Stürme der Nacht hatten sich gelegt; der Himmel war wie leergefegt und von einem so dunklen Blau, dass man darin hätte ertrinken können. Die zwei Bänder der Wylchnatta, des dünnen Rings, der sich um den Planeten Singis schlingt, glänzten matt darin wie geschmiedetes Eisen. Der Rhythmus der Wellen, die unterhalb unseres Anwesens an die Steilklippen brandeten, wiegte mich in eine tiefe Zufriedenheit, wie er das eben so zu tun pflegt. Wir, meine Mutter, die Erste Dienerin und ich, saßen auf der Holzbank an der südöstlichen Außenwand des Familienzimmers. Mutter und ich stickten; sie hatte mir recht unerbittlich das missratene Gebilde vom Vorabend in die Hand gedrückt, und so versuchte ich, zu retten, was noch zu retten war. Jorngiss hatte beim Anblick meines Machwerks gackernd gelacht und dann zu meiner Mutter gemeint, sie solle in Erwägung ziehen, doch lieber die anderen Talente ihrer Tochter zu fördern anstatt diese nutzlose Stickerei. Ich fand diese Bemerkung sehr nett von der Alten, auch wenn ich, so wie ich das sah, das Potenzial hatte, auf allen Gebieten, die Frauen offenstanden, gründlichst zu versagen. Meine Talente lagen anderswo, aber davon schwieg ich lieber; es war ja auch nicht Mutter, die beschlossen hatte, diese zu fördern. Sie reagierte auf Jorngiss’ Bemerkung lediglich mit einem Seitenblick, den ich lieber nicht versuchte zu deuten. Ich zog es vor, meine Brüder zu beobachten, die zwischen den niedrigen, verwachsenen Bäumen mit den Tygdulai spielten.

      Die Tygdulai. Wie soll ich sie jemandem beschreiben, der sie noch nie gesehen hat, ihre wilde Grazie, ihre kraftstrotzende Eleganz? Die Tygdulai sind die traditionellen Reittiere der Singisen, aber damit ist nichts gesagt. Sie kamen aus dem Norden, ursprünglich, und das bedeutet: aus einer anderen Welt. Die Gründerväter hielten sie für übernatürliche Geschöpfe, ob Dämonen oder Gefährten der Chyndrai, wussten sie selbst nicht zu sagen. Es dauerte lange, bis sich die Tiere einen Platz in einer Gesellschaft erobert hatten, aus der sie heute nicht mehr wegzudenken sind, als Reittiere, als Statussymbole, als Gefährten; doch ihre Heimat ist der Norden geblieben. Mit stahlharten Hufen, zwei sichelförmigen Hörnern wie geschliffener Kristall und den scharfen Hauern eines Allesfressers sind sie alles andere als ungefährlich, aber ihre Tödlichkeit mehrt nur die Schönheit ihrer geschmeidigen Glieder, weiß und schwärzlich-grün gemustert … Hör sich das einer an! Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber ich habe wohl doch zu viel Zeit mit Vairrynn verbracht. Es war gar keine Frage, dass wir als Mitglieder einer Großen Alten Familie Tygdulai besaßen, und jeder von uns mochte die graziösen Tiere, doch mein großer Bruder vergötterte sie. Und die Tygdulai liebten ihn. »Sohn des Vair« bedeutet der Name meines großen Bruders, und Vair ist derjenige der Luftgeister, über den es die meisten Legenden gibt: Windzähmer, Schattenkämpfer, Himmelsreiter. Manchmal fragte ich mich, ob sein Name meinen Bruder geformt hatte.

      Auch die alte Jorngiss beobachtete meine Brüder und die Tygdulai.

      »Wie macht sich der Junge?«, fragte sie plötzlich. Mutter hob den Kopf. Das milde Sonnenlicht glänzte auf ihrem dunklen, rotbraunen Haar, das zum Zopf der Verheirateten Frau hochgebunden war, und umspielte die Konturen ihres Gesichts wie mit einem Weichzeichner. Ihre Hände stickten weiter, ohne dass der Blick der Nadel zu folgen brauchte.

      »Welchen der beiden meinst du?«, fragte sie zurück.

      »Was glaubst du wohl?«, entgegnete Jorngiss mit einer Stimme, die sagte »Weich mir nicht aus.« Mir gefiel das Ganze nicht.

      »Vairrynn ist etwas Besonderes«, erklärte ich bestimmt, vielleicht auch trotzig. Die Alte warf mir einen blitzschnellen Blick zu.

      »Mir scheint, das gilt auch für dich, mein Gottesgeschenk.«

      Meine Ohren zuckten unbehaglich; Mynrichwy bedeutet zwar »die geschenkt wurde von Wy« in der Alten Sprache, doch bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir das nie bewusst gemacht. Wy, der Ersterschaffer, war in meinem kindlichen Kopf immer viel zu groß gewesen. Lchnadra mochte unser aller Mutter sein und am Ende unseres Lebens auf uns warten, aber Wy war es, der vor Allem und Allem gewesen war. Unwillkürlich schlug ich das Zeichen der Göttlichen Einheit. Mir war, als wollte die Erste Dienerin etwas Bestimmtes damit sagen, dass sie mich so nannte, aber ich konnte mir nicht denken, was. Das ungute Gefühl, das die Alte durch ihr großtantiges Getue am Abend zuvor schon fast zerstreut hatte, war wieder da.

      »Mynrichwy hat recht, weißt du«, meinte Mutter; ich konnte die Anspannung aus ihrer Stimme heraushören. »Und wenn du etwas über meine Kinder erfahren willst, solltest du vielleicht einfach ein wenig mit ihnen reden. Sie sind durchaus fähig, für sich selbst zu sprechen. Alle drei.«

      Halb erwartete ich einen ähnlichen Ausbruch der Ersten Dienerin wie am Abend zuvor, doch die Alte seufzte nur und nickte vor sich hin.

      »Was ist passiert?«, fragte meine Mutter vorsichtig. Jorngiss rieb sich mit ihren knorrigen Händen das Gesicht.

      »Das größte aller möglichen Übel«, antwortete sie. »Ktorram Asnuor wurde zum Obersten Priester des Wy gewählt.«

      Ungläubig sah und hörte ich, wie meine Mutter sich die Sticknadel in den Finger rammte und ein Wort ausstieß, das keine vornehme Dame im Mund führen sollte. Verwirrt blickte ich von einer Frau zur anderen. Mutter war leichenblass, und Jorngiss sah aus, als hätte sie gerade das Ende der Zeit verkündet.

      »Allgütige Lchnadra, beschütze uns«, flüsterte meine Mutter. »Oh, Große Göttin! Das …« Sie schlug die Hände vors Gesicht, dann blickte sie hinüber zu meinen Brüdern. »Allmächtiger Wy!«

      Ich hatte meine Mutter noch nie so aufgelöst erlebt, und es erschreckte mich. Ich verstand nicht, was los war, aber zum allerersten Mal in meinem Leben hatte ich wirkliche Angst.

      »Ich wollte nicht, dass du es aus den Nachrichten erfährst, Lys«, sagte die Erste Dienerin. »Und ich wollte … ach, ich weiß es auch nicht. Hier nach dem Rechten sehen, denke ich.«

      Mutter schüttelte nur stumm den Kopf.

      »Lys?«

      »Jorngiss, Ktorram Asnuor ist eine Ausgeburt des Nichtseins, nichts weniger! Vielleicht gibt es im Reich bald keinen Ort mehr, an dem es sich noch lohnt, nach dem Rechten zu sehen.«

      Die Erste Dienerin wiegte den Kopf. »Asnuor mag jetzt an der Spitze der Priesterschaft stehen, meine Liebe, aber die alte Jorngiss spielt dieses Spiel schon eine geraume Weile länger als dieser Emporkömmling. Noch ist nichts zu spät.«

      Meine Mutter allerdings sah nicht so aus, als hätte sie die Worte der Ersten Dienerin überhaupt gehört.

      Mein Bruder wartete auf mich bei den Tygdulai. Mutter war so verstört von der Nachricht der Ersten Dienerin, dass es nicht weiter schwer für mich gewesen war, mich davonzustehlen, obwohl ich die verflixte Stickerei noch lange nicht beendet hatte. Schygag-Dah, meine alte, dunkeläugige Stute, begrüßte mich gurrend, während sich Vairrynn auf seinen feurigen Dreijährigen schwang.

      »Kommst du?«, fragte er einfach. »Wir sollten die letzten sonnigen Tage wirklich nutzen.«

      Plötzlich musste ich lachen, trotz des Schreckgespensts der Angst, das sich so unvermittelt in meinen Nacken gesetzt hatte. In Gegenwart meines großen Bruders konnte es nicht bestehen. Ich blickte zu ihm auf, wie er da auf dem Tygdul saß wie der Chyndr, nach dem er benannt worden war.

      »Was ist?«, fragte er, ein wenig irritiert. Ich schüttelte nur den Kopf und kletterte auf meine Schygag-Dah. Ich hätte es ihm niemals erzählt, aber manchmal kam er mir so fremdartig vor, dass es wehtat. Für gewöhnlich redete ich mir dann ein, dieses Gefühl rühre daher, dass er so gar nichts von einem Neoly an sich hatte. Schon allein die hellen grauen Augen waren