Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band. Hugo Friedländer

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Название Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band
Автор произведения Hugo Friedländer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754957905



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zu sein pflegen. Ich hoffe daher auf einen Freispruch meiner Klientin.

      Verteidiger Rechtsanwalt Ludwig Chodziesner: Wenn die Gräfin alles das, was auf sie hier eingestürmt ist, mit so großer Ruhe ertragen hat, so dankt sie es ihrem unerschütterlichen, felsenfesten Gottvertrauen. Als wir Verteidiger der Gräfin am Sonnabend den letzten Besuch im Gefängnis machten, fanden wir sie förmlich verklärt, strahlend. Sie sagte uns: »Heute wird in den Kirchen für mich gebetet; meine Unschuld wird an den Tag kommen, mir wird kein Haar gekrümmt werden.« Still verließen wir das Untersuchungsgefängnis. Draußen sagte einer von uns: »Wie glücklich wären wir, wenn wir auch ein solches Gottvertrauen hätten.« Der Herr Staatsanwalt hat geglaubt, eine Lanze für das Majorat brechen zu müssen. Wir haben gesehen, wie das Majorat nicht nur die Bande der Familie sprengt, sondern sogar demoralisierend wirkt. Als bekannt wurde, daß nach langjähriger Pause die Gräfin sich wieder in anderen Umständen befinde, schlug das wie eine Bombe ein. Die Agnaten regten sich. Man sehe sich das große Heer der Mitwisser an und stelle sich ein Verbrechen vor, welche von soviel Leuten genau gekannt wird. Der Staatsanwalt hat ausgeführt, daß in der Gegend von Wroblewo eine wahre Meineids seuche grassiere, die alle Entlastungszeugen ergriffen habe. Nur, o Wunder, Herr Peter Hechelski und Fräulein Hedwig Andruszewska sind von dieser Seuche verschont geblieben. Und doch haben diese das Geld des Grafen Hektor Kwilecki deutlich rollen hören. Wie heißt das wunderbare Serum, das gerade diese beiden Zeugen immun gemacht hat?

      Noch andere Merkwürdigkeiten sind aus diesem Prozeß zu verzeichnen. Beispielsweise die Stellung der Staatsanwaltschaft zu dem gewiß hochangesehenen Sachverständigen Professor Dr. Dührßen. Der Staatsanwalt hat gesagt: das Strafverfahren gegen Professor Dührßen sei wesentlich aus dem Grunde eingeleitet worden, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu rechtfertigen. Ich weiß nicht, ob Professor Dr. Dührßen über diese Fürsorge des Staatsanwalts sehr entzückt war, das aber weiß ich, daß in Preußen sich keine Strafkammer gefunden hätte, die das Hauptverfahren eröffnet hätte, um einem Angeklagten Gelegenheit zu geben, sich zu rechtfertigen. Nein, die Strafkammer, die das Verfahren eröffnete, hat den Prof. Dr. Dührßen für »hinreichend verdächtig« befunden; genau so, wie hier andere Personen »hinreichend verdächtig« befunden wurden. Und wenn das erkennende Gericht Herrn Dr. Dührßens Ehre so glänzend wiederherstellte und sich nicht an den Eröffnungsbeschluß gebunden hielt, ist ebensowenig für Sie, meine Herren Geschworenen, die Ansicht der Eröffnungskammer bindend, ebensowenig für Sie maßgebend, wenn hier einzelne Zeugen, als der Begünstigung verdächtig, nicht vereidigt worden sind.

      Man hat in den Aussagen einzelner Entlastungszeugen Widersprüche entdeckt. Was sind diese Widersprüche aber gegen den Widerspruch des Gesetzgebers bei der Konstruktion der Schwurgerichte?! Sie, meine Herren Geschworenen, sind dazu berufen, das entscheidende Wort über Schuld oder Unschuld der Angeklagten zu sprechen, und dann kommt ein Dreimänner-Kollegium und entscheidet, ob ein Zeuge vereidigt werden soll oder nicht! Diese Entscheidung müßte doch gewiß auch den Herren Geschworenen zustehen! Der zweite Herr Staatsanwalt hat den Herren Geschworenen zugerufen: Wenn Ihnen diese Beweise noch immer nicht genügen, dann erklären Sie gewissermaßen den Bankerott der Schwurgerichte. Die Schwurgerichte sind ja manchem ein Dorn im Auge, sie sind deshalb verdächtig, weil sie aus dem Jahre 1848 stammen! Ich glaube, das Geschworenengericht wird noch lange den jüngsten Berliner Staatsanwalt überleben, dem ich im übrigen ein recht langes Leben wünsche. (Heiterkeit im Publikum, die der Vorsitzende rügt.)

      Nun zum Grafen Hektor Kwilecki. Die rechte Hand des Grafen Hektor ist Herr Peter Hechelski, das Medium ist Hedwig Andruszewska. Ich muß dem Grafen Hektor wirklich mit aufrichtigem Bedauern zurufen: Es tut mir in der Seele weh, daß ich dich in der Gesellschaft seh! Er hat durch Hechelski in halb Europa arbeiten lassen und hat doch nichts erreicht. Ich halte es für erwiesen, daß die damals unverehelichte Cäcilie Parcza ein Kind aus Not verkauft hat, ich halte es aber nicht für erwiesen, daß der kleine Leo Parcza nach Berlin gekommen ist, ich halte es auch nicht für erwiesen, daß der kleine Leo Parcza am 26. Januar 1897 auf die Reise gegangen ist; auf Grund der verschiedenen Zeugenaussagen bin ich der Überzeugung, daß der Knabe Leo Parcza schon in der Zeit zwischen dem 12. und 14. Januar aus Krakau weggekommen ist.

      Der Hauptfehler, daß dies Rätsel noch nicht gelöst worden, liegt darin, daß man von Anfang an immer nur die Spur nach Wroblewo verfolgte, und doch hat die Cäcilie Meyer einen deutlichen Wink gegeben, wohin die Spur vielleicht führt. Sie hat gesagt, als sie nach Weggabe des Kindes von Reue gepackt in das Hotel rannte und dort sich nach der Frau erkundigen wollte, die das Kind erhalten haben könnte, sie die Auskunft erhalten habe: es habe eine Gräfin aus Oswice dort logiert. Aber niemand hat nach der Gräfin aus Oswice geforscht, denn an dem kleinen Leo hatte niemand auf der Gotteswelt ein Interesse, Graf Hektor hatte nur Interesse an dem kleinen Majoratsherrn, man lugte nur immer nach Wroblewo, und darum hat man andere Spuren nicht verfolgt, und diese haben sich verwischt und verweht. Man suche nur fleißig nach und man wird vielleicht finden!

      Ich muß mich ein wenig länger mit dem Grafen Hektor Kwilecki beschäftigen. Er ist hier eidlich als Zeuge vernommen und er ist als Edelmann wissentlich nicht um Haaresbreite von der Wahrheit abgewichen. Er hat weit von sich gewiesen, daß er sich von materiellen Rücksichten leiten lasse, er wollte angeblich nur verhindern, daß ein hergelaufener Knabe den Namen Graf Kwilecki annahm. Ich weiß nicht, ob es ehrenhafter ist, wenn jemandes Vettern im Zuchthause sitzen, als wenn böse Zungen an der Echtheit des künftigen Majoratsbesitzers zweifeln. Herr Graf Hektor Kwilecki hat die Verhaftung seiner Verwandten beantragt nach der ganzen Strenge des Gesetzes. Graf Hektor hat erklärt, daß er bei der Übernahme von Wroblewo keine Vorteile haben würde. Das Majorat bringt aber jährlich 70000 Mark Revenüen, die der Herr Graf bekommen hätte, ohne einen Pfennig zahlen zu brauchen, und das soll ein schlechtes Geschäft sein?

      Und damit komme ich zu der Frage: Was ist Wahrheit? Über diese Frage hat man sich seit Jahrtausenden den Kopf zergrübelt. Die Wahrheit ist eine spröde Schöne, die sich nicht demjenigen entschleiert, der da meint, sie auf Grund einer aus den Akten gewonnenen Voreingenommenheit gewinnen zu können. Einst hielt man für Wahrheit, daß die Erde stille stehe – und sie bewegt sich doch! Im Interesse der angeblichen Wahrheit hat man Luther verfolgt und Huß verbrannt, und der Molochdienst der Wahrheit fordert auch in unseren Tagen noch immer Opfer. Eins dieser bedauernswerten Opfer ist die Zeugin Wienkowski, die mit ihrem Säugling ins Untersuchungsgefängnis wandern mußte. Ich muß es nach meiner juristischen Ansicht, die ja vielleicht von anderen Juristen bestritten werden mag, hier offen aussprechen: Nach meiner Überzeugung war die Vereidigung dieser Zeugin bei dem Untersuchungsrichter ungesetzlich und unzulässig, denn nach § 65 Abs. 3 der Strafprozeßordnung soll in dem Vorverfahren eine Vereidigung nur stattfinden, wenn die Vereidigung als Mittel zur Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage erforderlich erscheint. Der Untersuchungsrichter hielt ja aber die Aussage der Zeugin, die sie vor ihm abgegeben, für wahr und deshalb war die Vereidigung für den Untersuchungsrichter unzulässig. Und nun ist diese schwache, konfuse Frau zu ihrem Unglück auch hier in der Hauptverhandlung vorher vereidigt worden, und daher stammen für sie die traurigen Folgen.

      Meine Herren, dieser Prozeß wäre längst zu Ende, wenn nicht die Staatsanwaltschaft die Anklage wie eine verlorene Festung mit Todesverachtung verteidigt hätte. Jeder Tag brachte neue Wunden, und die schlimmste Wunde war für die Anklage, als wir hier nach dreitagigem Warten die Aussage des Cwell aus Warschau entgegennahmen. Da brach das morsche Gebäude zusammen, die Anklage löste sich in Atome auf. Es ist nichts übrig geblieben, daran kann auch die gestrige Würdigung der Zeugenaussagen durch den zweiten Herrn Staatsanwalt nichts ändern. Der zweite Herr Staatsanwalt hat im wesentlichen nur die Anklageschrift vorgetragen, die er selbst verfaßt hat, und seine Ausführungen hin und wieder gewürzt durch ein Wörtlein, das die Schriftsprache nicht kennt und nicht verträgt. Er hat von Leuten gesprochen, die heute einen Meineid leisten und morgen beichten. Ich bin nicht Katholik, aber ich habe mich gewundert, daß ein Staatsbeamter, eine Stütze von Thron und Altar, hier so wenig achtungsvoll von einer Einrichtung der katholischen Kirche gesprochen hat.

      Staatsanwalt Dr. Müller: Das kann ich nicht zulassen.

      R.-A. Chodziesner (fortfahrend): Bitte, mich nicht zu stören. Der zweite Herr Staatsanwalt hat dann weiter