Meermädchen. Petra Vetter

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Название Meermädchen
Автор произведения Petra Vetter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754173060



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klar“, polterte Jason.

      Arthur zuckte zusammen. Hatte Jason seine Nerven überhaupt nicht mehr unter Kontrolle? Am Theater geschah ständig Unvorhergesehenes, das gemeistert werden musste; aber das wussten alle Künstler. Natürlich war es ärgerlich, aber kein Grund zur Panik. Sie hatten, wie Jason richtig bemerkte, noch vier Tage, um alles auf die Reihe zu bringen. Das war großzügig bemessene Zeit, die genug Planungssicherheit für eventuelle Pannen enthielt.

      Irritiert beobachtete Arthur, wie Jason seine Hände knetete, als wäre er in tiefster Verzweiflung. Diese Geste brachte die Entscheidung für Miles. Schon einmal hatte sein Ballettdirektor durch Überarbeitung einen ernsten Zusammenbruch erlitten, war aber während einer Rekonvaleszenzphase wieder vollständig auf die Beine gekommen. Viel Zeit zur Erholung gab es diesmal nicht, aber Premiere hin oder her, er würde Jason zumindest heute nach Hause schicken, damit er morgen oder übermorgen ein bisschen weniger überdreht zur Probe antreten konnte.

      „Jason“, sagte er deshalb unvermittelt, „mach dir einen freien Tag, während wir deinen Tank füllen. Und gib deinen Tänzern auch gleich eine Auszeit. Ihr könnt hier gerade sowieso nichts tun und habt das ganze letzte Jahr über sehr hart gearbeitet. Ruht euch ein wenig aus; wir wollen doch alle, dass die Premiere ein Riesenerfolg wird, und dafür brauchen wir ein stressfreies Ensemble. Machen wir das Beste aus dieser Panne.“

      Misstrauisch sah Jason Miles an. Was war das für eine merkwürdige Idee? Tänzer brauchten vor einer Premiere Training und keinen freien Tag. Steckte Miles mit Sinclair untere einer Decke? Wollte auch er ihn sabotieren? Vorsicht war geboten. Miles war ohne jede Frage ein begnadeter Intendant und hatte das Two Pieces zu seinem heutigen Ruhm gebracht, aber Jason wusste, dass Miles liebend gerne ein eigenes Projekt inszenieren würde. Was, wenn er die Premiere verhindern wollte, um später Jasons Werk unter seinem eigenen Namen auf die Bühne zu bringen?

      Jason rückte seine Kopfbedeckung zurecht. Das sollte er nur versuchen. Durch den Schutz von Sonnenbrille und Wollmütze würde Arthur nicht zu seinen Gedanken vordringen können. Er selbst sollte jetzt so schnell wie möglich das Büro verlassen, um sich nicht länger den negativen Schwingungen dieses Raumes auszusetzen. Arthur hatte recht, er konnte heute nichts tun. Wortlos verließ er das Zimmer. Miles seufzte schwer.

      Sommer 1990

      St. Johns

      „Jason, bist du fertig? Wo steckst du nur wieder?“ Laut tönte Liam Waterstones fröhliche Stimme durchs Haus. Jason kniff in seinem Versteck die Augen fest zusammen und kicherte. Er liebte es, mit seinem Großvater Verstecken zu spielen. Wenn er die Augen schloss, dauerte es länger, bis er gefunden wurde, das glaubte er zumindest. „Jason!“, hörte er seinen Opa erneut rufen, „komm schon, wir wollen endlich mit dem Boot los und angeln! Wenn du nicht bald kommst, sind alle Fische weggeschwommen! Dann können wir deiner Oma nicht beweisen, dass wir einen Kabeljau fürs Abendbrot fangen können!“

      Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Wie der Blitz schoss Jason aus seinem Versteck hervor. Er wollte nicht schuld an einem verspäteten Aufbruch zur heutigen Bootstour sein. Dafür freute er sich viel zu sehr darauf. Er war bereits seit dem Frühstück schrecklich aufgeregt.

      Seine Großmutter, Sarah Waterstone, war heute Morgen schon in aller Frühe nach London aufgebrochen, so dass Jason alleine mit seinem Großvater gefrühstückt hatte. Sarah war die Mutter seines Vaters und 58 Jahre alt, doch wirkte sie, durch den frechen Fransenschnitt ihres mit silbernen Fäden durchzogenen blonden Haares und den blitzenden, hellblauen Augen, wesentlich jünger. Dieser Eindruck wurde durch ihre zierliche Figur noch betont. Als gefragte Illustratorin arbeitete sie freiberuflich für große Magazine und für die Werbebranche.

      Trotz des aufkommenden Pixel- und Photoshop-Hypes schätzten sie immer noch die Vorzüge des handgezogenen Strichs, so dass Sarahs Beruf nicht vom Aussterben bedroht war.

      Sie erledigte ihre Arbeit größtenteils im Home-Office und fuhr einmal im Monat in die Hauptstadt, zur Besprechung mit ihren Kunden.

      Sein Großvater war sieben Jahre älter als seine Frau und seit zwei Jahren in Rente. Von großer, kräftiger Gestalt, mit dichtem, zerzaustem, graumeliertem Haar, wirkte er wie ein alter Seebär. Aus seinem gebräunten Gesicht blickten aufmerksame, graublaue Augen, die von Fältchen gerahmt waren. An den Londoner Terminen seiner Frau hatte er sturmfreie Bude. Jason wusste nicht, was Opa damit meinte, aber es war ihm auch egal. Erwachsene sagten manchmal komische Dinge. Vielleicht verstanden sie sie ja selber nicht richtig.

      Nach dem Frühstück musste Liam noch die Bootsausrüstung zusammentragen und das Picknick zubereiten, während Jason spielte, und in seiner Fantasie bereits auf dem Meer war. Als es dann schließlich losging, konnte er sich das kleine Versteckspiel mit seinem Opa jedoch nicht verkneifen; es machte einfach zu viel Spaß.

      Doch nun ließ sich Jason folgsam in etwas zu große Segelschuhe, für die er lästigerweise ein zweites Paar Socken brauchte, stecken. Es war ein wunderschöner, aber nicht allzu warmer Sommertag, und er wollte die Jacke, die ihm sein Großvater hinhielt, nicht anziehen, doch Opa bestand darauf. Er meinte, auf dem Wasser würde es durch den Fahrtwind recht frisch werden. Als er ihm aber die Schwimmweste überziehen wollte, protestierte Jason vehement. „Opa, die brauche ich nicht, ich kann doch schwimmen. Hast du das schon wieder vergessen? Du hast es mir doch selber beigebracht!“ „Nein, junger Mann, das ist mir keineswegs entfallen, aber eine Schwimmweste ist auf dem Boot Pflicht, auch für kleine Wasserratten wie dich. Da gibt es keine Diskussion.“ Jason zog eine Schnute. Opa war wirklich ahnungslos. Erst neulich hatten ihm ein Freund und dessen Eltern, die er ins Freibad begleitete, bestätigt, was für ein toller Schwimmer er war. Und nun sollte er eine Schwimmweste tragen; das war einfach nur peinlich.

      „Komm schon, Sportsfreund“, lenkte sein Opa ein und strich seinem Enkel durch das wellige, hellbraune Haar, „kein Grund, beleidigt zu sein. Schwimmwesten werden auf Booten aus Sicherheitsgründen getragen. Wir sind hier am Meer, da kann das Wetter schnell umschlagen. Wenn das Boot bei hohem Seegang von einer Welle überrollt und du von Bord geworfen wirst, kann dir die Schwimmweste das Leben retten. Schau, ich trage auch eine, obwohl ich ein super Schwimmer bin.“

      Jasons braune, ausdrucksstarke Augen blitzten kurz rebellisch auf, doch er wusste, wann er verloren hatte. Deshalb ließ er sich die rote Auftriebsweste jetzt widerstandslos über den Kopf ziehen.

      Ihm fiel ein, dass seine Oma gestern strickt gegen die Idee mit dem Bootsausflug gewesen war. Er hatte einen Teil ihrer Diskussion, die nicht für seine Ohren bestimmt war, zufällig mit angehört. „Mit vier ist Jason noch zu jung“, waren Sarahs Worte an ihren Mann. „Du bist mit dem Boot und der Angel beschäftigt und kannst den Kleinen nicht dauernd festhalten. Du weißt, wie quirlig er ist; wer weiß, auf was für dumme Ideen er kommt. Nachher springt er dir noch über Bord, weil er mit den Fischen um die Wette schwimmen will.“

      „Sarah, beruhige dich doch“, erwiderte sein Großvater. „Erstens ist Jason in zwei Tagen schon fünf, er wird selbstverständlich eine Schwimmweste tragen, und die See wird morgen so ruhig wie heute sein; ich habe den Wetterbericht gehört. Jason ist ganz wild darauf, auf Fischfang zu gehen. Lass ihm doch die Freude.“

      „Gut, dass ich morgen in London bei meinem Auftraggeber bin und nichts von eurem Törn mitbekomme, Liam; das erspart mir einen Herzkasper“, seufzte seine Großmutter. Damit war die Diskussion beendet.

      Seine Großeltern hatten wirklich keinen Schimmer, dachte Jason. Er war nicht wild aufs Angeln, und Fische waren ihm im Wasser viel lieber, als auf dem Teller, obwohl sie ihm schmeckten. Er wollte unbedingt aufs Meer fahren, weil er hoffte, dort dem Meermädchen Aldiana aus Großvaters Geschichte zu begegnen. Opa veränderte ihre Abenteuer bei jeder neuen Erzählung, die dadurch immer länger und spannender wurde. Doch der Kern wandelte sich kaum:

       Aldiana war in den Tiefen des Ozeans zu Hause, in denen das Licht des Himmels die Unterwasserwelt auf wundersame Weise in ihren schönsten Farben erstrahlen ließ. Sie lebte, unbeschwert und geliebt von ihren Eltern und Geschwistern, in einem großen, atemberaubenden Felsen-Palast. Das Meerwasser strömte sanft