Wende auf Russisch. Michael Blaschke

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Название Wende auf Russisch
Автор произведения Michael Blaschke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752961270



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Er war auf dem besten Wege, sein Ansehen zu verlieren, auch seine gesellschaftlichen Verpflichtungen musste er deutlich einschränken. Misserfolge und Niederlagen waren in einer erfolgsgewohnten Gesellschaft unerwünscht. Kurze Zeit später starb Bernd Gruber. Der Tod kam überraschend in der Nacht. Nach der Trauerzeit trafen sich die Söhne, um das Erbe zu regeln. Es gab nur nichts zu regeln. Einen Großteil des familiären Vermögens hatte die Firma gefressen. Das Unternehmen stand vor der Pleite und die Bank, seit Jahrzehnten ein vorbildlicher Partner, hatte den Geldhahn zugedreht. Das war das wirtschaftliche und gesellschaftliche Ende der Familie Gruber.

      4.

      Wenn Wasil Saizew aus dem Fenster seiner Plattenwohnung, am Stadtrand von Kursk, schaute, sah er ein kaum beleuchtetes, graues Etwas, das sich bei näherem Hinsehen als eine stillgelegte, große Fabrikanlage entpuppte. Saizew wusste, dass der Betrieb zu sowjetischen Zeiten Ersatzteile für LKW produzierte. Damals wurde das große, breite Tor in der Nacht mit unzähligen Lampen angestrahlt, es war ein ständiges Kommen und Gehen. Selbst an Sonn- und Feiertagen war dort Leben. Es war nicht denkbar, dass diese weitläufige Produktionsanlage einmal ungenutzt verkommen würde. Dort hatte seine ganze Familie ihr Auskommen gehabt. Auch Saizew machte dort seine Lehre und galt als fleißiger Arbeiter.

      Nach dem Dienst in der Armee, wurde er vom Kollektiv zum Brigadier gewählt. Sein Großvater verstarb und sein Vater wurde durch einen schweren Unfall zum Invaliden. Seine Mutter war durch die jahrelange Arbeit in einer Großwäscherei gesundheitlich angeschlagen und bezog eine bescheidene Rente. Als die ersten Plattenbauten beziehbar waren, bekam auch sein Vater eine kleine Wohnung, mit Fernheizung und Bad mit Spültoilette und Wanne. Die Familie war begeistert, von der ´modernen Ausstattung´. So einen Fortschritt gab es doch nur in der Sowjetunion. Wo auf der Welt sorgte der Staat, die allmächtige Partei, so für den kleinen Mann?

      Es war die billigste Bauweise, mit primitiver Ausstattung. Wasil hatte ja keine Vergleichsmöglichkeit. Dass die Außenanlagen nie fertig wurden, dass kaum Spielplätze für Kinder da waren und dass der Putz abbröckelte und alles langsam aber unaufhaltsam vergammelte, all das sahen die Familien nicht oder wollten es nicht sehen. Hauptsache eine Wohnung mit fließend warmem und kaltem Wasser.

      Es gab einen Fahrstuhl. Der war defekt und wurde einfach nicht repariert. Es kamen stürmische Zeiten auf die Saizews zu.

      5.

      Staatspräsident Gorbatschow wollte ein freieres Russland und versuchte den Staat und die Gesellschaft zu modernisieren. Er scheiterte auf der ganzen Linie. Das Regime brach vollends zusammen, die kleinen Leute waren die ersten, die das zu spüren bekamen.

      Wasil Saizew verlor seine Arbeit, unzählige andere auch. Er saß oft in der Dunkelheit am Fenster und starrte auf die Fabrik, die auch seine war und die nun langsam zerfiel. Nach und nach verteuerten sich die alltäglichsten, unverzichtbarsten Dinge. Zu Sowjetzeiten war die Versorgung schon schlecht gewesen, nun gab es tagelange Engpässe. Alkohol und Gewalt beherrschte den Alltag vieler. Das untergegangene System hatte Millionen Menschenleben gefordert und die, die nach Jahrzehnten übrig blieben, waren um ihre Arbeit und ihren Glauben betrogen worden. Wenige hatten auf Kosten vieler gut gelebt. Als deutlich wurde, dass das Sowjetschiff unterging, hatten sie wie die Ratten den sinkenden Kahn verlassen.

      Früher lebte die Familie relativ gut. Saizew dachte an die staatlichen Feiertage, die mit Hilfe der Partei zu politischen Demonstrationen organisiert worden waren. War die staatsbürgerliche Pflicht getan, wurde in den eigenen vier Wänden weitergefeiert. Auch Familienfeste wurden üppig begangen und der Wodka floss in Strömen. All das, was den tristen Alltag erträglicher machte, war weg. Wasil lebte von den kleinen Renten seiner Eltern. Die Armut und Hoffnungslosigkeit machte sich breit.

      Junge Leute organisierten sich in Banden, versuchten mit Straftaten ihre Situation zu verbessern. So wurde die Hemmschwelle außer Kraft gesetzt und endete im Sumpf schwerer Verbrechen. Straffällig gewordene Menschen gingen den Weg, den unzählige andere, Junge, Alte, Männer und Frauen, gegangen waren. Die kriminellen, politischen Elemente, sie wurden ausgekehrt. Russlands Hinterhof war schon immer ein Abfallhaufen für unliebsame menschliche Kreaturen.

      6.

      Wasil Saizew war auf der Suche nach lohnenswerter Arbeit. Viele seiner Bekannten waren weggezogen. Das konnte nicht jeder und wer blieb, war zumeist alt und krank. Auch seine Eltern wollten bleiben, wo sollten sie auch hin? Alles veränderte sich täglich.

      Es war Sommer, als Lew Rabitschew seinen alten Freund Wasil besuchte. Er war nicht wiederzuerkennen. Er trug einen steinfarbenen Anzug, ein weißes Hemd ohne Krawatte, italienische Halbstiefel und seine langen Haare hatte er zu einem Zopf gebunden.Sein Aussehen erinnerte Wasil an einen sizilianischen Mafioso, wie er es in amerikanischen Filmen gesehen hatte. Zweifellos war er stolz, auf sein Aussehen. Als sie durch das schmutzige Treppenhaus auf die Straße kamen, ging Lew Rabitschew auf einen alten BMW zu, klapperte lässig mit den Autoschlüsseln, öffnete den Wagen, als hätte er nie etwas anderes getan.

      Sie kannten sich aus der Schulzeit, Wasil konnte sich noch gut daran erinnern. Rabitschew war immer ein netter, freundlicher Mann, sehr zurückhaltend und doch hilfsbereit. Früher hatte er als Traktorfahrer auf einer Kolchose in der Nähe der Plattenbauten gearbeitet. Mit Sachverstand und Umsicht steuerte sein Arbeitsgerät. Wer nun neben ihm im Auto saß, war nicht mehr der Lew, den er kannte.

      „Sag mal Lew, wie kommst du zu diesem Wagen und zu deinem Aufzug?“

      „Wasil, alles hart erarbeitet, mein Lieber und was heißt hier Aufzug? Muss ich denn immer noch als Kolchosearbeiter herum laufen?“

      Wasil sah ihn prüfend an und Lew konnte seinem Blick nicht standhalten. Dem Lew war die Frage unangenehm.

      „Lass uns in die Stadt fahren, du bist mein Gast und auf der Fahrt erzähle ich dir mehr.“

      Der alte Wagen, ein Sechszylinder, blubberte vor sich hin. Sie spürten auf ordentlicher Wegstrecke den Glanz vergangener Jahre. Das reichte für den kleinen Kolchosearbeiter, die alte Rostlaube zu lieben. Die Fahrt ins Zentrum der Stadt bot wenig Erfreuliches. Abgenutzte Infrastruktur, überall Reste von demontierten oder stillgelegten Industrieanlagen. Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft und ihrer Errungenschaften war nichts weiter, als ein riesiger Schrotthaufen.

      Je näher der alte BMW dem Zentrum kam, desto besser wurden die Straßen. Sie sahen Lenin, wie er mit gestrecktem Arm ins Arbeiterparadies zeigte. Ein seltsamer Kontrast, zwischen verwahrlosten Zweckbauten und protzigen, stalinistischen Prestigebauten, kennzeichnete das Bild. Lew parkte in einer schmalen Seitenstraße und ging mit Wasil auf ein altes Gebäude zu. Im dunklen Treppenhaus lag ein betrunkener, älterer Mann. Er hielt sich krampfhaft am Treppengeländer fest und erbrach sich. Sein Mageninhalt verteilte sich auf seiner Kleidung, während er versuchte, die einzelnen Stufen zu bewältigen. Ein unerträglicher, säuerlicher Geruch verteilte sich im Flur.

      „Dimitri, der alte Säufer hat es wieder mal geschafft, sich von der besten Seite zu zeigen“, sagte Rabitschew und nahm gleich zwei Stufen, um nicht in den Unrat zu treten.

      „Kannst du dir vorstellen, dass diese alte Saufziege mal Direktor der städtischen Verkehrsbetriebe war?“, fragte Rabitschew und half seinem Freund, an dem Mann vorbei zu kommen.

      „Er hat den Niedergang des Staates nicht überwunden. Die Seilschaften haben die Betriebe verschoben und er verlor seinen Direktionsposten, weil er mit den Machenschaften der Nomenklatura nicht einverstanden war. Er musste seine Dienstvilla räumen und wohnt seit zwei Jahren in diesem Mietshaus. Ein armer Teufel, der nicht bereit war, mit den Parasiten der Gesellschaft gemeinsame Sache zu machen. Er müsste den Leninorden bekommen, aber das vergoldete Blech ist auch nichts mehr wert.“

      „Willst du den Alten in seinem Dreck liegen lassen?“, fragte Saizew.

      „Ich sage seiner Frau Bescheid, sie wohnt neben mir. Es ist nicht das erste Mal, dass sie ihren Mann so vorfindet. Sie ist eine zarte, kultivierte Frau, die einen besseren Lebensabend verdient hätte“, erwiderte Rabitschew.

      Er läutete an der Tür der Nachbarin. Sie machte sogleich auf. Sie trug einen geblümten Morgenmantel, den sie mit einer Hand zusammenhielt.