Going Underground. Martin Murpott

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Название Going Underground
Автор произведения Martin Murpott
Жанр Языкознание
Серия Going Underground
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742704269



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über und rieb sich die Augen. Sein Kollege Schmalhand, der selbst in seiner bevorzugten Lümmelstellung saß, grinste ihn vom gegenüberliegenden Schreibtisch aus an. >>Verloren Nerdie, verloren! Die erste Runde heute zahlst du.<<Engelbert "Nerdie" Nerdmayer und Ingenieur Michael Schmalhand spielten wie immer Beamten-Mikado. Verlierer - und somit dazu auserkoren die erste Runde After-Work-Bier zu spendieren - war der, der sich zuerst bewegte. Oftmals ging das Spiel den ganzen lieben Arbeitstag lang und es wurden so viele Runden ausgespielt, dass aus einem After-Work-Bier auch schon mal ein Before-Work-Bier werden konnte. Ihr Rekord war es, in einer außergewöhnlich ereignisreichen Arbeitswoche einmal drei Tage am Stück nur zwischen Kneipe und Störungscenter hin und her zu pendeln.

      >>Vergiss den Quatsch jetzt und hör auf die Tonmelodie. Wir sollten noch einmal Meldung machen, dreimal unidentifizierbar ist zuviel.<< Nerdie stand auf, ging zum großen Zentralcomputer, der in der Mitte des Saales stand, den sie ihren Arbeitsplatz nannten und schaltete auf lautlos. Der Zentralcomputer war keine eigenständige Einheit, sondern hatte als Kern einen Transistorrechner mit Magnetbandsystem von der Größe und Höhe dreier aneinander gereihter Telefonzellen. Oben ragten mehrere gut einen Meter hohe Kondensatoren heraus, die bis knapp unter die Decke reichten. Der Transistorrechner selbst war durch unzählige Kabel mit diversen anderen Computern neuerer Generation parallel oder in Serie verknüpft, die wiederum die Eingänge von diversen Bildschirmen speisten. Da das tote Graz selbst über keine Standorte bedeutender Computerhersteller verfügte, waren fast alle Geräte Plagiate, die von der lokalen Computerindustrie im Laufe der Zeit hergestellt worden waren. Theoretisch wäre es zwar möglich gewesen, die Dinger aus dem 60 000 km entfernten jenseitigen Ostasien zu importieren, aber dort wurde zwecks der Bequemlichkeit kaum mehr produziert, als man selbst benötigte. Besondere Freude hatten Nerdie und Mike mit dem Birne Izac 7, der sich hervorragend zur Filmpiraterie nutzen ließ, und der Spielbastion 4, die sich zwar ausgezeichnet zum Zocken der "Bestialisch Böse"-Reihe eignete, aber ansonsten kaum praktischen Wert besaß.

      Monitor 4 zeigte ein Spannungsspitzendiagramm, welches dasselbe Muster aufwies, wie bereits jene zwei am Ende und Anfang der Vorwoche es getan hatten. Es erinnerte entfernt an eine Vielzahl aneinander gereihter Uhrtürme, von denen abwechselnd einer auf dem Kopf stand und einer nicht. Normalerweise kamen solche Störungsmeldungen einmal im Jahr vor, konnten meist als Spontanheilung todkranker Grazer identifiziert werden und hatten vor allem nie das gleiche Muster.

       >>Die Spitzen gehen teilweise wieder rauf bis Stufe 7. Es muss eine erneute massive Störung im Leben-Tod-Gefüge gegeben haben und wieder kann der Computer weder zuordnen von wem, noch wo sie verursacht worden sind.<<

      Nerdie ließ sich das Diagramm aus einem der BH-Drucker ausspucken, ging zurück zu Mike und zeigte ihm selbiges. Mike kramte die Ausdrucke der zwei vorherigen Diagramme aus seiner oberen Schreibtischschublade heraus und verglich sie miteinander.

      >>Scheiße, ich denke du hast recht. Vielleicht sollten wir Beamtenmikado einstweilen wirklich aussetzen, bis wir wissen, um was es sich hier handelt.<<Nerdie seufzte und sinnierte flüchtig über sein viel zu kurzes diesseitiges Leben. Er galt bis zu seinem tragischen Tode im Jahr 1987 als Computerfachmann der ersten Stunde. Bereits während seiner Oberstufenzeit im Gymnasium hatte er sich eines der ersten Atari 800-Modelle besorgt. Keine zehn Jahre später war es dann ausgerechnet sein gerade erworbener und brandneuer Amiga 500, der durch Verursachen eines spontanen Kabelbrandes letztlich das ganze Kinderzimmer in Flammen gesetzt hatte. Die Umstände dieses unplanmäßigen Todes waren wieder so eine Geschichte, von der die Allmächtige nie erfahren durfte, obwohl sie die Umstände natürlich ohnehin längst kannte. Wenigstens hatte er im Jenseits ebenfalls mit Informationstechnologie und Computern zu tun, wenn zeitweise auch recht niederschwellig. Engelbert Nerdmayer rückte sich seine Fliege sowie seine Hosenträger zurecht, setzte sich die Hornbrille auf, die in seiner Hemdtasche steckte und schritt zur Tat. Den imperialen Marsch summend, griff er zum schwarzen Wählapparat, der auf seinem Schreibtisch stand. Als er die Null-Neunhundert, achtmal die Drei gewählt hatte, ahnte er zwar nicht, dass er gerade eben auch einen Mitarbeiter der Telefonzentrale dazu verdammt hatte, die erste Runde Bier des Abends zu spendieren, war aber trotzdem erstaunt, wie schnell er jemanden am Hörer hatte.

       >>Ministerium für Stadtinneres, wer stört? Und hören Sie gefälligst zu summen auf, sie haben mich gerade 60 Kronen gekostet..."

      8

      Konträr zu Roberts ersten Eindrücken gab es durchaus eine nicht unbeachtliche Anzahl an herkömmlichen Straßenbahnen, in die man ganz normal einstieg, um dann beim Fahrer Fahrscheine zu kaufen. Der Fahrer von Linie 666-4 war, so wie die Straßenbahnzieher in der Herrengasse, ganz in schwarz gekleidet. Die freien Hautpartien hatte er mit schwarzer Farbe bemalt. Esther legte zwei Kronen hin und ließ sich dafür zwei Tickets geben.

      >>Ich muss schon sagen, interessante Dienstuniform. Was hat es damit auf sich?<<>>Die Öffentlichen hier befinden sich in hundertprozentigem Besitz des AMS, deswegen bekommen sie auch von dort ihr Personal zugewiesen.<<

       >>Im Besitz des Arbeitsmarktservices?<<

      >>Da kennt sich wohl wer mit Abkürzungen aus<<, sagte Esther und zwinkerte Robert zu. >>Wenn man selbst keinen Job findet, bleibt einem auch hier der Gang zum Arbeitsamt nicht erspart. Der hiesige Langzeitchef hat ein Faible für ironisch-komische Arbeitsmarktpolitik, deswegen vermittelt er in den Nahverkehr hauptsächlich ehemalige Schwarzfahrer und verpasst ihnen einen lächerlichen Aufzug. Früher mussten die Angestellten auch noch gekräuselte Schwarzhaarperücken tragen, aber die Liga der toten Grazer Austroafrikaner empfand das als äußerst rassistisch.<<

       >>Und warum wurde die eine Bim in der Herrengasse gezogen?<<

      >>Nennen wir es Strafdienst. Gewisse Bedienstete nehmen es mit der richtigen Behandlung von Fahrgästen nicht ganz so genau.<<Die Bim der Linie 666-4 setzte sich in Bewegung. Ursprünglich fuhr nach Graz-Lend keine Straßenbahnlinie, aber im Jenseits war die Streckenführung scheinbar erweitert worden. Die Straßenbahn fuhr von der Herrengasse in Richtung Schloßbergplatz, dann noch einmal zehn Stationen weiter, bis sie schließlich bei der Keplerbrücke nach links einbog, um über die Mur zum Lendplatz zu rattern. Desto weiter sich die Straßenbahn von der Herrengasse und dem am Anfang selbiger gelegenen Hauptplatz entfernte, umso ansehnlicher wurden die zum Teil zwanzigstöckigen Gebäude - auch wenn diese abseits der Innenstadt immer noch nicht unbedingt als das zu bezeichnen waren, was unter die Kategorie "schöner Wohnen" fiel. Für die Innenstadt Rund um den Hauptplatz, den Jakominiplatz, aber auch dem Glockenspielplatz galt das Verbot von Autos und Kutschen. Spätestens jedoch auf Höhe des Schloßbergplatzes tauchte man in ein Geschwür von allen möglichen Privatfahrzeugen ein, welches so ziemlich alles zu bieten hatte, was in den letzten 200 Jahren zur Fortbewegung genutzt wurde. Ampeln gab es nicht, es herrschte das Recht des stärkeren Verkehrsteilnehmers. Dies begünstigte die Straßenbahn enorm, ließ jedoch Radfahrer, Kleinwägen, einachsige Kutschen oder Mopedautos extrem ins Hintertreffen geraten. Offiziell nannte die Stadt dieses Konzept "Sozialdarwinistisches Verkehrsmanagement", im Volksmund wurde der herrschende Zustand jedoch gemeinhin als "Drecksverkehrschaos" bezeichnet.

      Inzwischen ging es nur mehr äußerst schleppend voran. Dass die nicht unwesentlich dafür verantwortlichen Kutschen auch im Jenseits von stinknormalen und handelsüblichen Nutztieren gezogen wurden, war genaugenommen zwar nicht weiter verwunderlich, warf bei Robert aber trotzdem neue Fragen auf.

      >>Glauben Pferde leicht auch an ein Leben danach?<<

       >>So ziemlich alle Viecher, die eine Art Selbstbewusstsein haben, enden hier halt im Regelfall wieder als das, was sie schon im Diesseits waren - nämlich als Nutztiere. Das hat den Vorteil, dass man auch hier ab und zu eine brauchbare Schnitzelsemmel bekommt.<<

       >>Das ist doch total beschissenen. Ich meine, da verbringt man sein schweinisches Leben in irgendeiner Nutztierzucht und landet dann im Jenseits gleich noch einmal