Going Underground. Martin Murpott

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Название Going Underground
Автор произведения Martin Murpott
Жанр Языкознание
Серия Going Underground
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742704269



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WM-Sieg der Österreichischen Fußballnationalmannschaft. In den jenseitigen Welten wusste man jedoch, dass diese Materie ungefähr 23% des Universums ausfüllte und unter dem Namen "Imagen" bekannt war. Für was das Imagen sonst noch alles zuständig war, konnte man auch hier nicht mit Bestimmtheit sagen. Fest stand jedoch, dass es vor Urzeiten jenen Prozess in Gang gesetzt hatte, der dazu führte, dass die transzendenten Vorstellungen der Menschheit über Gott und die Welt im Jenseits feste Gestalt annahmen. Allerdings fungierte Imagen gleichzeitig auch als übergeordnete regulierende Kraft, die dem Jenseits eine gewisse Logik verlieh und der Gestaltung des selbigen gewisse Grenzen setze. Das Imagen ließ es also folglich nicht zu, dass Robert nun an einem Ort „lebte“, an dem vollbärtige Terroristen siebzehnjährige Jungfrauen vögelten, während mitteleuropäische Christen wahlweise fegefeuernd durch die Gegend liefen oder auf einer Wolke saßen, Harfe spielten und irgendwelchen Nordmännern dabei zusahen, wie sie mit Odin um die Wette soffen. Die Logik des Imagen entschied sich für die denkbar uneleganteste Möglichkeit: Es erlaubte dem Jenseits nämlich, sich parallel und in einer gewissen Spiegelung zum Diesseits zu entwickeln. Dabei gestattete das Jenseits gewisse physikalische und gesellschaftliche Freiheiten, die wohl in der diesseitigen Steiermark bis jetzt noch in keiner Epoche vorstellbar gewesen wären. Da die Logik des Imagen auch für die für die schon am längsten hier verweilenden Toten unergründbar war, blieben manche Fragen allerdings offen. So wusste zum Beispiel Niemand, warum sich das tote Graz im Gegensatz zum lebendigen zwar nur auf die fünf bis sechsfache Stadtfläche ausgedehnt hatte, hier aber trotzdem fünfzehnmal so viele Menschen leben konnten. >>Fünfzehnmal so viele Menschen? Rammeln hier alle wie die Karnickel und nehmen keine Verhütungsmittel oder hatte HC Strache, der alte Paranoiker, doch recht und wir sind von Migranten überflutet worden?<<Esther sah ihn ungläubig an und wusste nicht, ob sie lachen oder sich über Roberts vermeintliche Begriffsstutzigkeit ärgern sollte. Sie selbst neigte aufgrund ihrer eigenen überdurchschnittlichen Intelligenz in solchen Situationen dazu, von anderen Personen ein schnelleres Begreifen der Sachlage zu erwarten, als unter den jeweiligen gegebenen Umständen angebracht war. Da aber Esther diesbezüglich zumindest über marginale Fähigkeiten der Selbstreflexion verfügte, entschied sie sich weder für das eine noch das andere. Stattdessen nahm sie lieber noch einen kräftigen Zug vom inzwischen fast zu Ende gerauchten zweiten Joint. >>Sag mal, hörst du mir eigentlich zu? Wir sind im Jenseits, hier kommen alle her, die im lebendigen Graz den Löffel abgeben. Du kannst dir ja selber ausrechnen, wie viele das seit Yolo dem Viehzüchter gewesen sind.<< Mit einem Hauch von peinlicher Berührung starrte Robert auf den immer kleiner werdenden Ofen. >>Naja, äh, ein oder zwei Fragen hätte ich da aber trotzdem noch.<< Sie schob ihm den Tabak, das Zigarettenpapier, und das kleine, rote, metallene Blechdöschen hinüber. >>Lass mich raten! Die so furchtbar originelle Frage nach Gott und die Frage, wovon es abhängt, welche Gestalt wir altersmäßig im Jenseits annehmen.<< Esther deutete zu Sepp, dass er noch zwei Bier bringen sollte und lehnte sich zurück. >>Du baust noch einen, ich rede.<<

      Mit der Frage nach Gott lag Esther völlig richtig, mit der Frage nach Gestalt und Alter nicht. Diese fand Robert allerdings äußerst interessant, weshalb er seine ursprüngliche zweite Frage nach der Herkunft des hauseigenen Bieres einstweilen hinten anstellte. Eine Möglichkeit war, dass man sich als ausreichend guter oder zumindest moralisch brauchbarer Mensch im Jenseits in jener Gestalt materialisierte, in der man sich zu Lebzeiten selbst am liebsten gesehen hatte. Robert zählte dreiunddreißig Lenze, als es ihm die Schuhe aufstellte und er hatte immer genug Selbstvertrauen um sich dementsprechend wohl zu fühlen wie er gerade war. Genau so saß er auch im Broken Bones und nahm von Sepp, dem Barmann, zwischenzeitlich seinen dritten Humpen in Empfang.

      >>Siehst du den alten Typen mit weißem Bart da an der Bar, der wie frisch aus einer „Werthers Echte“-Werbung aussieht?<<Robert drehte sich um und erblickte einen offensichtlich sehr betrunken, aber gut gepflegten Senioren. Er schlief mit dem Gesicht in einem Aschenbecher am Tresen und schnarchte vor sich hin. >>Das ist Koma-Heinrich, der sah sich am liebsten in der fürsorglichen Rolle des liebevollen Großvaters. Sein Enkel war gerade fünf, als er bei einer Kaffeefahrt nach Ungarn seine Herztabletten vergessen hatte.<<>>Interessant, und was ist passiert?<< >>Sein Enkel folgte ihm zwölf Jahre später nach. Überdosis Heroin. Der junge Mann steht nun recht abgefuckt am Hauptplatz herum, und tut immer noch das, was er am besten gekonnt hatte, nämlich Geld für Drogen schnorren. Als der gute Heinrich merkte, dass mit „Mensch ärgere dich nicht“ - Spielen und Parkspaziergängen nun nicht mehr so viel läuft, ergab er sich dem Suff und wurde hier zum Stammgast.<<

      Mit dieser kleinen und traurigen Anekdote nahm Esther gleich die zweite Möglichkeit vorweg. Diese bestand darin, dass man – mangels fehlenden Selbstbildes – als das materialisierte, was die anderen in einem sahen. In solchen Fällen zog man als Junkie gelegentlich die sprichwörtliche Arschkarte, mit ein bisschen Pech sogar doppelt. Das geschah zum Beispiel dann, wenn man als zweite Geldquelle neben dem Schnorren nur schlecht bezahlten Sex mit biederen aufgeschwemmten Familienvätern zur Verfügung hatte, welche nach einem schnellen Fick wieder heimfuhren und dort ihren Kindern und gelangweilten Hausfrauen die heile Welt vorgaukelten. Auch war es ohnehin immer schon eine Fehlannahme diverser religiöser Philosophien, dass man im Leben danach einen auf lastbefreite Ewigkeit machen konnte. Von allen Sünden gereinigt und per se durch absolute Fröhlichkeit sediert zu sein war eine Mär. Zumindest innerlich blieb man im Wesentlichen derselbe, und die Möglichkeit einer vernünftigen Sedierung ist für die meisten nach wie vor mit dem Besitz von ausreichend Kohle verbunden. Ein Upgrade des eigenen Charakters und des eigenen Glückshormonpegels sah der Tod nicht vor.

      Zu guter Letzt – so erfuhr Robert – gab es auch die Chance, als das zu materialisieren, als was man sich selbst am liebsten gesehen hätte, aber im Diesseits halt leider nie war. Dies wurde aber nur den Menschen zu Teil, die moralisch nicht nur ausreichend brauchbar, sondern relativ gut und uneigennützig gelebt hatten. Ersteres traf zwar auf die meisten aller Verstorbenen zu, letzteres aber wohl nur auf die wenigsten. Man konnte sogar glauben, dass scheinbar ganze Berufsgruppen - vor allem aus den Bereichen Wirtschaft, Politik und FC Red Bull Salzburg - davon gänzlich ausgenommen waren. Abgesehen davon gab es noch den Sonderfall, dass Beamte im öffentlich-toten Dienst aufgrund besonderer Leistungen mit diesbezüglich ausreichend Machtbefugnissen belohnt werden konnten. Trat dies ein, durften sie ihr Aussehen selbst bestimmen, was allerdings einen gewissen Rang und eine gewisse Anzahl an Dienstjahren erforderte. Eines hatten die meisten von jenen, die ihr Aussehen selbst bestimmen durften, dabei allerdings gemein. Sie tendierten dazu, eher selten von ihrer ursprünglichen Erscheinung zu sprechen.

      5

      >>Zahlen bitte!<<

      >>Hey Moment, und was ist jetzt mit Gott?<<

      >>Klar gibt es Sie. Hat auch mit Imagen zu tun, aber dafür haben wir keine Zeit mehr, ich muss dich jetzt echt zum Boss bringen, über den Rest klärt sicher er dich auf.<<

      Bevor Robert nachhaken konnte, vor allem was das Femininum des Pronomens betraf, stand auch schon Sepp am Tisch und verlangte mit antrainiertem grimmigem pseudoirischem Blick von jedem Sechzig Kronen. Die Bestimmtheit seiner Körperhaltung signalisierte, dass der Preis wohl nicht verhandelbar wäre.

      >>Kronen, äh, ja, nimmst du Euro auch?<<

      Sepp hätte wohl gar nicht mehr zu lachen aufgehört, wenn nicht Esther 130 Kronen auf den Tisch gelegt und >>Passt schon so<< gesagt hätte. Scheinbar hatte sich die Idee einer europäischen Union im Jenseits nie durchgesetzt, was Sepp insofern zugute kam, als dass er in den letzten zehn Jahren regelmäßig unfreiwillig zechprellende Neugestorbene zum Geschirrwaschen zwingen konnte. Die meisten ließen sich nicht lange bitten, da es immer noch angenehmer war, Gläser abzuspülen, als sie über die Rübe zu bekommen. Was unbezahlte Rechnungen betraf, ließ sich der Besitzer des Broken Bones nur selten zum Scherzen verleiten.

      >>Steh auf Cowboy, wir müssen zur Bim und dann nach Dead Lend.<<

      Während Robert noch äußerst bemüht war, sich aufzuraffen, ohne dabei gleich wieder in den Sessel zu kippen, stand Esther bereits in den Startlöchern.