Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke

Читать онлайн.
Название Die Dorfbrunners
Автор произведения Helmut Lauschke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738049961



Скачать книгу

nach hinten durchdrückte und für eine gewisse Zeit durchgedrückt hielt. Der Wirt, mit der feinen Nase, sah das Unglück vorher; er sah es Minuten früher, doch nicht auf die Sekunde genau. Er bot dem Stehgast an der Theke den Stuhl am dritten Tisch an, weil er an den kürzer werdenden Intervallen aus Erfahrung wusste, wann das Einknicken in den Knien komplett und die dazugehörige Person nicht mehr in der Lage sein würde, diese Scharniergelenke aus eigener Kraft nach hinten durchzudrücken. Der Stehgast lehnte das Angebot des Sitzenkönnens mit einer kratzenden Stimme und unberechtigten Empörung ab, blieb stehen und ließ sich das X-te Gläschen füllen. Dem Pfarrer und seiner Frau tat dieser abgleitende Mensch leid, der bereits ein Stadium angetrunken hatte, in dem er sich nicht mehr helfen lassen wollte. Die beiden schauten sich betroffen an, worauf Luise Agnes das Wort „Einsamkeit“ über den Tisch flüsterte und Eckhard Hieronymus sein Mitgefühl an der peinlich bedauernswerten Lage eines kurz vor dem Zusammenbruch Stehenden mit blassem Gesicht über den Tisch zurücknickte. Dann war es soweit. Der Wirt trat aus der Küchentür, strahlte schon den Gästen am Mitteltisch verheißungsvoll entgegen, hielt in beiden Händen die mit Schweinskoteletts, Bratkartoffeln und von einer Käsesoße nach böhmischer Art überzogenem Gemüse gefüllten Teller in Höhe der Bauchvorwölbung, als der Mann vor der Theke die Herrschaft über sich und seine Knie verlor, mit den Händen von der Theke dann wegrutschte, als er im Begriff war, das Schnapsglas, das noch nicht leer getrunken war, auf die Theke zurückzustellen. Das Glas schlug auf den Holzboden und rollte unter den Tischen bis zur Fensterwand. Der knieweich Betrunkene stürzte dem Wirt gegen Bauch und Schürze, dass diesem nach der Heftigkeit des Aufpralls, der ihn in der unvorhergesehenen Sekunde traf, beide Teller aus der Hand fielen und am Boden zerschellten. Der Mann von der Theke rutschte mit dem Kopf am Bauch des Wirtes runter, stürzte krachend zu Boden und röchelte; er lag auf und zwischen den Scherben und den bestellten Gerichten, was sich nun alles im Durcheinander auf dem Boden verteilte. Der Wirt war blass und schien für eine Sekunde die Fassung zu verlieren. Er verlor sie nicht, fasste sich in der zweiten Sekunde, ging mit blassem Gesicht an den mittleren Tisch und entschuldigte sich für den unvorhergesehenen Zwischenfall, der ihn in letzter Sekunde doch unerwartet getroffen hatte. Er versicherte den vollen Ersatz in kürzester Zeit, stieg über den am Boden Liegenden vor der Theke, öffnete die Küchentür und rief mit energischer Stimme: „Noch einmal dasselbe!“, worauf eine dunkelhaarige Frau der mittleren Größe, deren Alter schwer zu schätzen war, mit verschmierter Schürze durch die offene Küchentür in die Gaststube blickte und auf dem Boden die Bescherung mit Mann, Tellerscherben und den verstreuten Gerichten sah. Der Wirt machte sich mit den Männern vom Fenstertisch daran, den Liegenden in einen Nebenraum zu tragen, wo er seinen Rausch ausschlafen sollte. Der Wirt holte noch eine Wolldecke, jene graue Decke mit dem braunen Streifen, wie sie die Soldaten an der Front hatten, um den Stehgast von der Theke, der nun schnarchend im Nebenraum lag, zuzudecken. Nun spendierte der Wirt den Männern vom Fenstertisch, die jetzt an der Theke standen, einen Schnaps auf Kosten des Hauses, für jeden einen Doppelten, den ostpreußischen Bittermann für den Herrn mit der Glatze und für den Herrn mit den wenigen grauen Haaren einen Holstenkorn. Der Wirt hinter der Theke erlaubte sich ebenfalls einen Doppelten, und die drei stießen auf das gemeinsame Wohl an und leerten die Gläser in einem Zug. Die Küchenhilfe, ein Mädchen mit dunklen Haaren von etwa zwanzig, die auch die Tochter des Wirtes hätte sein können, fegte in der Zwischenzeit die Scherben und verschütteten Tellergerichte zusammen und säuberte den Boden mit einem nassen und dann einem ausgewrungenen Scheuerlappen.

      Eckhard Hieronymus, dem Luise Agnes eine leichte Nervosität anmerkte, weil er mit seinen Gedanken bei dem Gespräch mit den Leuten vom Konsistorium in der Sakristei war, schaute auf die Taschenuhr, ein Erbstück seines Großvaters, Gotthold Arnim Dorfbrunner, der als preußischer Amtsrat in der Bezirksverwaltung Breslau einen hohen Posten bekleidete und auf unerklärliche Weise, die Menschen sprachen von einem Herzversagen aufgrund der chronischen Überlastung, dann gestorben war, als der Enkelsohn am Schlussexamen angekommen war, aber die letzte Hürde noch nicht genommen hatte. „Es ist schon dreiviertelzwei“, bemerkte er leise und schaute durch die Gaststube, las auf einem kleinen Wandanschlag über der Tür zur Küche „Hansabier, das mögen wir“, fand aber keinen Punkt, wo er seinen Blick hätte aufhängen können. „Jetzt müssen wir Geduld haben“, sagte Luise Agnes. Der Satz tat seine Wirkung, denn nun hielt der Wirt wieder zwei Teller in den Händen, als er aus der Küche kam. Er schritt auf den Mitteltisch zu und stellte die Teller, auf denen die Bratkartoffeln noch dampften, zwischen die bereits ausgelegten Bestecke mit der Gabel auf der dreieckig gefalteten Papierserviette links und dem Messer rechts. „Ich wünsche ihnen einen guten Appetit.“ Der Wirt erkundigte sich nach den Getränkewünschen zum Essen und brachte zwei volle Gläser mit vom Fass gezapftem Hansabier nach. Es war ihre Sitte, vor dem Essen zu beten. Nun taten es der Pfarrer und seine Frau, ohne ein Wort zu sprechen, jeder für sich. Als wären sie eineiige Zwillinge, was sie nicht sein konnten, legte jeder seine rechte Hand über seine linke. Luise Agnes schloss für die kurze Andacht ihre Augen, doch Eckhard Hieronymus hielt sie offen, der hatte seine Augen am Vormittag des Totensonntags schon genug geschlossen, als er die Gebete in der Kirche sprach. Es schmeckte beiden, denn beide hatten einen großen Appetit. Das Hansabier vom Fass, auch das schmeckte zum Essen. Nun entspannten sich die Gesichtszüge des jungen Pfarrers, und die Nervosität wich der Zufriedenheit eines sich füllenden Magens. Denn auch in der Geistlichkeit spielen die Gaumendinge und Zustände des Magens eine so kleine Rolle nicht. „Sieh doch“, sagte Luise Agnes erregt, als sie über den Fenstertisch durchs Fenster auf die Straße blickte, „da geht doch Herr Braunfelder in Damenbegleitung.“ Eckhard Hieronymus drehte den Kopf zum Fenster und sah nur noch von hinten einen untersetzten Mann in schwarzem Mantel mit schwarzem Schirm auf der Straße gehen. Rechts von ihm ging eine Frau, die um einen halben Kopf größer war als er, und links ein Mädchen, das ihm über die Schulter gewachsen war. „Bist du sicher, dass es der Konsistorialrat war?“, fragte er. „Ich bin mir sicher, dass er es war“, erwiderte Luise Agnes, „doch wer die Frau und das Mädchen waren, das weiß ich nicht; ich kann mich nicht erinnern, diese Gesichter schon gesehen zu haben.“ Eckhard Hieronymus sagte seiner Frau, dass Herr Braunfelder mit Frau und Tochter zur Kirche und nach dem Gottesdienst anlässlich der Vorstellung mit seiner Frau in die Sakristei gekommen sei. Im Stillen war er froh, dass der Konsistorialrat mit Familie nicht in das Gasthaus einkehrte. Ihm wurde schnell klar, dass dieses Gasthaus in seiner bescheidenen Aufmachung den gehobenen Ansprüchen des Konsistorialrates nicht entsprach; es lag unter seinem Niveau. „Kannst Du dir vorstellen“, fragte er Luise Agnes, „was für Gesichter der Rat und seine Frau gemacht hätten, wenn sie den Sturz des Mannes neben der Theke und die Tellerstürze gesehen hätten.“ Sie schmunzelte und sagte, dass sie sich das sehr gut vorstellen könne. Beide Gesichter wären fahl geworden; sie hätten sich die Nase geschnäuzt, hätten einander das Glück zugesprochen, dass sie nicht vor Schreck von ihren Stühlen gekippt und auf dem Boden gelandet seien. „Sie hätten die angegessenen Teller stehengelassen und das Gasthaus fluchtartig verlassen, da bin ich mir sicher“, fügte Eckhard Hieronymus hinzu. Er gab seiner Erleichterung Ausdruck und sagte, dass er froh sei, mit seiner Frau das Mittagessen ungestört und in Ruhe einzunehmen. Was er nicht sagte aber dachte, war, dass er den Seelenfrieden beim Essen dem bisschen Mehr als bloß dem Hauch alternder Schäbigkeit eines gewöhnlichen Gasthauses zu verdanken habe.

      Luise Agnes bemerkte den Stimmungswechsel an ihrem Mann. Sie sagte, dass es wohl kein so gutes Gespräch in der Sakristei gewesen war. Eckhard Hieronymus gab dem Wirt ein Zeichen und zahlte für das Essen und die beiden Biere. Der Wirt wechselte das Geld und gab einige Münzen zurück, die ihm der Pfarrer als ein bescheidenes Trinkgeld überließ. Sie standen auf, zogen ihre Mäntel über, wobei Eckhard Hieronymus seiner Frau in den Mantel half, und verließen das Gasthaus. Der Wirt öffnete ihnen die Tür, bedankte sich fürs Kommen, Essen und Trinken, entschuldigte sich nochmals für den peinlichen Vorfall und wünschte dem Herrn Pfarrer und seiner Frau noch einen ruhigen Sonntag. Draußen hatte sich der Nieselregen gelegt, der sich schon früher gelegt haben musste, weil der Konsistorialrat mit Frau und Tochter ohne aufgespanntem Schirm die Straße entlang gegangen waren. Die Menschen waren zu dieser Zeit, es war der frühe Nachmittag, von der Straße so gut wie verschwunden. Eine dicke Wolkendecke hing tief über der Stadt. Von Sonne war keine Spur. So zeigte sich der Spätherbst von seiner trüben Seite, die zum Totensonntag durchaus passte. Der frühe Einfall der vorwinterlichen Kälte, es war so kalt, dass in vielen Häusern die Kachelöfen angeworfen