Der Weg der Liebe. Orison Swett Marden

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Название Der Weg der Liebe
Автор произведения Orison Swett Marden
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783742734129



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die Alten und Gebrechlichen, die Zerschlagenen und Verstoßenen, die Gefallenen und Verbrecher eine menschenwürdigere und freundlichere Behandlung als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit.

      Man denke bloß an die Fortschritte in der Behandlung der Irrsinnigen. Es ist nicht allzulange her, daß diese Unglücklichen in der unmenschlichsten Weise mißhandelt, in Ketten gelegt, geschlagen, gepeitscht und auf alle mögliche Weise mißbraucht wurden, als hätten sie keinerlei Anspruch auf unsere Liebe und Teilnahme.

      Ebenso sind auf dem Gebiet der Gefangenenfürsorge bemerkenswerte Fortschritte erzielt worden. In alten Zeiten wurden die Verbrecher in barbarischer Weise gezüchtigt — man riß ihnen die Ohren aus, brannte ihnen mit glühenden Zangen die Augen aus, verstümmelte ihre Körper mittelst der Folterwerkzeuge und Daumenschrauben, riß ihnen buchstäblich Arme und Beine aus und tötete sie langsam in grausamen, oft tagelangen Marterqualen.

      Der Krieg hat leider oft und viel die niedersten Triebe — Grausamkeit, Mordlust und Blutdurst — entfesselt und die Menschen in reißende Tiere verwandelt. Insbesondere werden aus Gefangenenlagern Greuel und Grausamkeiten berichtet, die jeder Kultur, Zivilisation und Humanität — den hochklingenden Schlagwörtern unseres „überfeinerten“ Zeitalters — Hohn sprechen; Untaten, die um so abstoßender und unmenschlicher sind, als sie nicht an strafwürdigen Unholden, sondern an Männern verübt wurden, deren einziges Verbrechen darin bestand, daß sie ihr Vaterland mit den Waffen verteidigt haben. Aber abgesehen von diesen Kriegsgreueln trägt heutzutage in vielen unserer Gefängnisse die freundliche und besonnene Behandlung, die an Stelle des alten unmenschlichen Systems „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ getreten ist, tatsächlich dazu bei, den Verbrecher zu bessern und ihn wieder zu einem brauchbaren Glied der menschlichen Gesellschaft zu machen. Derartige Bestrebungen stammen — in der Theorie wenigstens — schon aus dem 18. Jahrhundert. Damals lehrte J. J. Rousseau, daß der Mensch von Natur gut sei und nur durch die Berührung mit der Kultur und der menschlichen Gesellschaft verdorben werde. Auf dieser Grundlage selbständig weiterbauend suchte J. H. Pestalozzi, von edelster und uneigennützigster Menschenliebe getrieben (vgl. Kap. 6), in seinem Dorfroman „Lienhard und Gertrud“ sowie in einer gleichzeitig veröffentlichten Schrift über „Gesetzgebung und Kindermord“ nachzuweisen, daß die Gesellschaft die Hauptschuld am Verbrechen trage und die Behandlung der Strafgefangenen dahin zielen müsse, sie für das soziale Leben wieder brauchbar zu machen. Das alte System tötete oder quälte die Gefangenen, brach ihren Geist und verhärtete ihr Verbrechergemüt. Selten, wenn überhaupt einmal, besserte es. Das neue System will den Missetäter dahin bringen, daß er seine Verfehlungen erkennt und wieder gutzumachen sucht.

      Die Liebe lehrt uns das Verbrechen zu behandeln, wie Christus die Sünde behandelte, nämlich als eine Krankheit, die mit dem Balsam der verzeihenden Barmherzigkeit statt mit brutalem Dreinschlagen geheilt werden muß. Letzten Endes aber wird die Liebe nicht bloß das alte grausame Verfahren der Sträflingsbehandlung, sondern das Verbrechen selbst aus der Welt schaffen. Denn wenn die Menschheit sich nach dem höchsten Sittengesetz regieren läßt, so wird die Versuchung zum Fehltritt allmählich aufhören und das Laster eines natürlichen Todes sterben.

      Die Ungerechtigkeit und Ungleichheit, die immer noch besteht und von der Gier nach Reichtum und Macht genährt wird, ist großenteils schuld an dem Verbrechen und dem menschlichen Elend. Wenn einmal die Gerechtigkeit regiert und jeder Mensch die gleiche Möglichkeit hat vorwärtszukommen wie sein Nebenmensch, dann werden Schulen und Arbeitsgemeinschaften an die Stelle der Gefängnisse und Armenhäuser treten.

      Die Hoffnung des Menschengeschlechts auf eine bessere Zukunft beruht auf der allgemeinen Durchführung der goldenen Regel des Sittengesetzes. Die eine kurze Zeitspanne im Jahr, da fast allgemein seine praktische Anwendung versucht wird, gibt uns einen schwachen Begriff davon, wie eine nach diesem Gesetz gelenkte Welt beschaffen wäre.

      Um die Weihnachtszeit können wir nämlich beobachten, wie manchmal selbst die schmutzigsten und gemeinsten Geizhälse, die unerbittlichsten Halsabschneider, die selbstsüchtigsten und verschlossensten Herzen, erfaßt von dem Geist des Wortes „an den Menschen ein Wohlgefallen“, edelmütige Impulse in sich spüren. Mögen sie auch das ganze Jahr hindurch ihre Verschlagenheit und ihren Scharfsinn aufbieten, um den andern zu übervorteilen und selbst ein gutes Geschäft zu machen; mögen sie sonst auch noch so eigennützig, kaltherzig und gleichgültig gegenüber den Leiden und Drangsalen ihrer Mitmenschen sein, an diesem einen Tag zeigen sie Spuren von Freundlichkeit, Dienstfertigkeit und Großmut. Am Weihnachtstag erwachen Herzen, die tot waren, zu neuem Leben. Die Welt kommt der Glückseligkeit näher als in den übrigen 364 Tagen.

      Warum? Weil der Traum der Brüderlichkeit in Erfüllung geht.

      Welch ungeheuren Fortschritt würde es bedeuten, wenn es dahin käme, daß der Weihnachtsgeist der Brüderlichkeit sich das ganze Jahr hindurch betätigte! Könnte jeder von uns sich dazu aufraffen, andern gegenüber zu handeln, wie er wünscht, daß man ihm gegenüber handle, so würde dieser Traum bald zur Wahrheit werden.

      6. Wie man oft das verscherzt,

       wonach einen am meisten verlangt.

      Ein weiser Mann ließ einst seinem verstorbenen Kinde folgende Worte auf den Grabstein setzen: „Ich möchte lieber sterben und lieben im Reich des Todes, als ewig leben, wo keine Liebe ist. Unser Leben ist unnütz, sofern wir die nicht kennen und lieben, die uns hier lieben.“

      Der kostbarste Besitz auf dieser Welt, nach dem jedes Menschenkind am meisten verlangt, ist die Liebe. Ein Leben ohne sie ist undenkbar, denn leben heißt lieben. Wo keine Liebe ist, da ist kein Leben. Oder nur der Schein eines solchen.

      Die traurigste Lebenslage, die auch den Mutigen zum Feigling zu machen droht, kommt von dem Gefühl, daß niemand sich um uns und unser Los kümmert, daß es jedermann gleichgültig läßt, ob wir im großen Spiel des Lebens gewinnen oder verlieren.

      Anders ist uns zumut, wenn noch jemand da ist, der sich um uns sorgt. So verzweifelt und hoffnungslos die Zukunft vor uns liegen mag, das Bewußtsein, daß irgend jemand nach uns fragt und uns, wenn wir nicht mehr wären, vermissen würde, jemand, der an uns glaubt und sein Vertrauen in uns setzt — ein Weib, eine Mutter, ein Kind, ein Freund oder auch nur ein stummes Tier — befähigt uns, den Kampf ums Leben fortzusetzen. Aber die Empfindung, daß wir schlechthin allein dastehen, ohne Freunde, ohne jemand, der ein Interesse daran hat, ob es im Leben mit uns auf- oder abwärts geht, ob wir gewinnen oder verlieren, leben oder sterben, diese Empfindung ist niederdrückend. Unter solchen Umständen braucht man eine Natur von Stahl und Eisen, um durchzuhalten und seine Lebensaufgabe zu erfüllen.

      Wenn es möglich ist, daß ein Mensch in den Zustand solcher Verlassenheit gerät, so muß er selbst die Liebe aus seinem Herzen ausgeschlossen haben. Er muß den Versuch, zu lieben und geliebt zu werden, aufgegeben haben. Er muß den vom Schöpfer in jedes Lebewesen gepflanzten Trieb der Zärtlichkeit, des Wohlwollens, der Teilnahme erstickt haben. Irgend etwas hat seine Natur verdreht. Er ist nicht normal; denn Gott schuf uns für die Liebe — damit wir lieben und wieder geliebt werden.

      Kürzlich schrieb mir ein Bekannter, die Liebe sei ein für ihn toter Begriff, er wolle das Wort nie wieder hören noch lesen. Er lege jedes Buch beiseite, das von diesem Gegenstand handle. Stoße er zufällig darauf, so überschläge er das Kapitel. Er schwur, in seinem ganzen Leben wolle er mit der Liebe nichts mehr zu tun haben.

      Dabei verschwieg er, was diesen Umschwung in ihm verursacht hatte. Möglich, daß eine herzlose Kokette ihr Spiel mit ihm getrieben, oder daß ein Freund, dem er sein ganzes Vertrauen geschenkt, ihn getäuscht und verraten hatte. Mag dem sein, wie ihm wolle, ich kann nicht anders, ich muß den Mann von ganzem Herzen bedauern. Er versucht, das Gut, welches den Menschen am nächsten zu Gott emporhebt, das ihn selbst zu einem göttlichen Wesen macht, das einzige, was das Leben lebenswert gestaltet, aus seinem Herzen auszurotten.

      Viele Menschen sind schmerzlich enttäuscht, weil sie in ihrem Leben so wenig Liebe finden. Eine Frau sagte einst zu mir, sie glaube nicht an die Möglichkeit und das Vorhandensein einer wirklich selbstlosen Liebe. Sie habe herausgefunden, daß, was sie bei ihren sogenannten Freunden für Liebe gehalten habe, nichts als Eigennutz gewesen sei;