Das Wolkenhotel. Oliver Fehn

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Название Das Wolkenhotel
Автор произведения Oliver Fehn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738060386



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mich nicht, aber wenn Wolfi fremdgeht …“ Sie kniff wütend die Lippen zusammen.

      „Du hast einen an der Waffel, das ist alles.“ Ich versuchte, mich an ihr vorbeizudrängen. „Die Sache ist ganz einfach: Ich bin seit ein paar Tagen mit Claire zusammen, da werde ich kaum ‘ne andere haben. Und wenn ich keine andere habe, hätte ich auch keinen Grund, mitzufahren, wenn Wolfi zu seiner anderen fahren würde. Aber da ist keine andere, und das weiß ich zufällig genau, weil Wolfi und ich noch nie Geheimnisse voreinander hatten. Auch damit wirst du dich abfinden müssen. Außerdem finde ich, du hast dich ziemlich beschissen zu Lissi benommen."

      „Du meinst, wegen der Brühe?“ fragte sie.

      In diesem Moment erschien Wolfi auf dem Flur, und sie huschte zu Claire ins Zimmer zurück. Wir sprachen ein paar Silben allein.

       „Sie wird in letzter Zeit richtig bösartig“, sagte er. „So wie in Horrorfilmen manchmal, wenn der Teufel in jemanden reinfährt oder irgendein Ghoul oder so. Aber ich komm schon noch dahinter, woran das liegt.“ Er begann, an seinen Nägeln zu kauen, und ich zog ihm die Hand weg. Dann sagte er: „Weißt du noch, wie sie vor dem Feuer stand und heulte, als müsste sie jemandem beim Sterben zusehen? Das macht kein normales Mädchen. Sie heult auch, wenn ich Kerzen anzünde, und dann bläst sie die Kerzen oft aus und atmet den Geruch ein, nach Wachs und so kokelig und beißend. Wenn ich nur wüsste, was das alles zu bedeuten hat.“

      „So riechen Weihnachtsabende, wenn sie zu Ende gehen“, sagte ich. „Stell dich schon mal drauf ein, dass ihr nicht allzu lange zusammenbleibt.“

      ***

      Als ich später mit Claire auf mein Zimmer ging, ging gerade die Sonne unter. Das Licht spielte mit ihrem Haar, und ihr Haar spielte mit dem Licht.

      „Ich habe gerade über das Böse nachgedacht“, sagte sie. „Glaubst du, dass es Menschen gibt, die durch und durch böse sind?“

      „Manchmal könnte man es meinen. Zumindest gibt es keine Menschen, die durch und durch gut sind.“ Ich war froh, dass wir uns kennengelernt hatten. Mit den meisten Mädchen dieses Alters konnte man über so ernste Dinge nicht reden.

      „Wenn man sicher weiß, dass jemand einem nichts tut, kann man ihm seine Kehle hinhalten“, sagte sie. „Genau wie ein Hund. Dir würde ich sie vielleicht hinhalten. Kennst du auch Menschen, bei denen du das machen würdest?“

      „Naja, wir beide kennen uns ja noch nicht so lange. Aber im Moment traue ich mich zumindest, dir mit meiner Kehle jede Minute ein wenig näherzukommen. Hm, und dann natürlich meine Mom.“

      Ein nachdenklicher Blick von ihr traf mich, der sich noch unschlüssig war, ob er zum zärtlichen Blick werden sollte oder nicht.

      „Was ist eigentlich mit deiner Mom?“ fragte sie. „Erzähl doch mal ein bisschen mehr von dir.“

      ***

      Viele Leute machen aus ihrer Kindheit ein Riesendrama, doch im Großen und Ganzen, so glaube ich, bekommt jeder die Kindheit beschert, die er braucht. Ich war zur Hälfte Stadtkind, zur anderen Hälfte Landkind, und in beiden Welten lernte ich ganz unterschiedliche Lektionen. Auch schien ich eher smart als gebildet zu sein, eher clever als intelligent, und als meine Mutter zwei Jahre vor Beginn dieser Geschichte einen Job in der Stadt bekam, weigerte ich mich, mitzukommen, da wir uns sowieso nie sehen würden, schließlich arbeitete sie am Tag, und am Abend musste ich früh schlafen gehen, um in der Schule ausgeschlafen zu sein. Am liebsten hätte Mom mich ja zu Hause unterrichtet, doch das ging nur dort, wo sie herkam (sie entstammte einer jüdischen Familie aus New Jersey), nicht in Deutschland. Also ging sie in ihre Boutique und ich in meine Schule, aber jedes Wochenende fuhr ich mit dem Bus in die Stadt und besuchte sie. Wer und wo mein Vater war, spielt für unsere Geschichte keine Rolle.

      Lissis Bauernhof – oder die Farm, wie meine Mom ihn zu nennen pflegte – war ein weitläufiges, nach damaligem Standard gut gepflegtes Haus, eingebettet zwischen Weideland und Wäldern. Auf dem Land sind die Farben der Jahreszeiten kräftiger als im Einerlei der Städte, die Natur ruft jeden Tag mit einer anderen Stimme, und wir Dorfkinder waren gut im Klettern, im Schwimmen und im Raufen und ruinierten uns dabei nicht selten die besten Hosen.

      Vor meiner Zeit hatten viele Leute in dem Haus gewohnt, deren Geister geblieben zu sein schienen, und ich spreche nicht von den Toten, sondern von dem, was von einer Person niemals geht, was an jeder Diele haftet, in jedem Tapetenmuster. Meine Zeit bei Lissi war beschaulich und idyllisch, aber an vielen Tagen auch eine Spukgeschichte, am Kamin zu lesen. Dann geschah das Schreckliche.

      Meine Mutter, inzwischen stark tablettensüchtig und gezeichnet von hundert unglücklichen Affären mit haltlosen Männern, vergaß eines Abends, ihre Medikamente einzunehmen und stellte fest, dass die Welt dadurch nicht trister wurde, der Regen auf der Haut nicht nasser. Eine Zeit lang ging das gut. Dann hatte sie eines Tages eine Verabredung mit einem vielversprechenden jungen Mann, der ohne eigene Schuld nicht kam, und die Welt verfinsterte sich. Da nahm sie einfach ein Küchenmesser und stieg in den nächsten Zug dorthin, wo das Gras grüner ist als hier. An jenem Tag, es war im späten Herbst und ein eiskalter Wind wehte, beschloss ich, ein Heimatloser zu werden, ein ewig Reisender, der sein Herz an keinen Menschen, keinen Ort, kein Tier mehr hängen wollte. Ich war der geborene Nomade, hatte sogar einen Schuss Zigeunerblut in mir, und die erste Station, so beschloss ich, sollte New York sein. Aber noch war es nicht so weit. Das Geld, das Mom mir als Starthilfe für ein eigenes Leben hinterlassen hatte, wurde erst zu meinem achtzehnten Geburtstag verfügbar. Solange musste ich mich noch gedulden.

      Jetzt aber, nachdem ich Claire meine Geschichte erzählt hatte, wusste ich nicht, ob ich meinem Versprechen, mein Herz nie wieder zu verschenken, auch wirklich treu bleiben würde. Sie kannte jetzt meine Einsamkeit, all die Narben in meiner Seele, und ihr verriet ich in jener Nacht auch, wohin Wolfi und ich für einen oder zwei Tage verschwinden würden. Dass sie darüber kein Wort zu Alisha sagen dürfe, darum brauchte ich sie nicht erst zu bitten.

      Ich glaubte wirklich nicht, dass Alisha und Wolfi lange ein Paar bleiben würden. Claire und ich aber, wir wollten zusammen durch den Sommer gehen. Und machten in dieser Nacht gleich den Anfang. Die Stadt war voll mit Atem und Gelächter, und wir flanierten durch die Hauptstraßen und beschenkten uns gegenseitig mit allerlei Firlefanz, gekauft an Souvenirbuden. Als wir spätnachts mit dem Bus nach Hause fuhren, suchten unsere Hände sich in jeder steilen Kurve.

      Ab und zu sprachen wir ein wenig Französisch – zu Übungszwecken, wie wir sagten – aber eigentlich wollten wir nur Blödsinn machen.

      „Übersetz mal: Ich werde das Wolkenhotel überleben.“

      „Oh Gott! Soll ich’s auch noch konjugieren? Ich werde das Wolkenhotel überleben, du wirst das Wolkenhotel überleben, er wird …“

      „Nein, das reicht. Jetzt sag auf Französisch: Wir werden den Sommer genießen.“

      „Und im Winter viel schlafen.“

      „Bis deine Tante Lissi wieder reinplatzt.“

      „Und wenn sie wieder rausplatzt, schlafen wir weiter.“

      Kein Zweifel: Ich war zum ersten Mal im Leben richtig verliebt.

      ***

      Spät in der Nacht läutete das Telefon. Lissi und ich stürzten uns gleichzeitig darauf, aber ich konnte sie in letzter Sekunde abhängen.

      „Ich kann nicht schlafen“, sagte eine Mädchenstimme. „Sag mir, was ihr vorhabt, du und Wolfi. Bitte, bitte. Wo fahrt ihr hin?“

      „Von mir erfährst du das nicht, Alisha. Und jetzt hol dich erst mal der Teufel dafür, dass du so spät bei mir anrufst.“

      Sie atmete gepresst, als hätte sie einen Fremdkörper in der Nase. Aber sie legte nicht auf. So als wäre ihr Atmen ein dramatisches Element, das ich mir bis zum Ende anhören musste, um den Ernst der Lage zu verstehen.

      „Wann fahrt ihr los? Und wo?“

      „Verarsch jemand anderen.“