Das Wolkenhotel. Oliver Fehn

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Название Das Wolkenhotel
Автор произведения Oliver Fehn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738060386



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dann nur wütend und sagte, man solle sich um seinen eigenen Dreck kümmern.

      Heute begann er überraschenderweise von selbst mit dem Thema.

      „Er hat schon seit ein paar Tagen Fieber und kann kaum stehen. Das heißt: Ich kann nicht von hier weg. Müsste ich aber ganz dringend. Weil ich Geschäfte zu erledigen habe. Und da hätten wir auch gleich die Lösung für unser Problem: Ihr erledigt meine Geschäfte, und ich erlasse euch eure Schulden. Ihr müsstet nur eine kleine Reise für mich antreten.“

      „Eine Reise?“ Schon sah ich vor mir Palmen, das Meer, den Kondensstreifen eines Flugzeugs am Himmel. Aber bloß hier mal rauszukommen, reichte ja schon.

      Die Zeit wäre günstig gewesen: Regelmäßig zu Ferienbeginn fuhr ein Bus durch unser Dorf und sammelte Leute für eine große Gruppenfahrt auf, die jedes Jahr irgendwo anders hinging, wenn auch nie sonderlich weit. Meine Großtante Lissi – sie war schon weit über siebzig – fuhr immer mit, und meist auch Wolfis Mutter und ein paar andere Frauen aus dem Dorf, die allein lebten. Wir hätten uns also bequem für ein paar Tage davonstehlen können.

      Hätte Lissi doch einmal unvermutet angerufen und keiner hätte gehört, wäre uns schon eine Ausrede einfallen. Meist war sie der Meinung, vor der Abreise zu beten reiche völlig aus. „Wo der Herr nicht hütet, dort wachen die Wächter der Tore vergebens“, lautete ihr Motto, das sie aber nicht gelten ließ, wenn ich gelegentlich vergaß, die Haustür abzusperren.

      „Wie lange soll es dauern?“, fragte Wolfi.

      Janno puhlte sich ein paar Tabakkrümel aus dem Bauchnabel und betrachtete sie in seinem Handteller wie einen Schatz. „Wahrscheinlich nur einen Tag. Das werden Samina und Sam für euch regeln.“

      „Samina und wer?“

      „Die Leute, zu denen ich euch schicke.“ Er durchwühlte seinen Rucksack nach einem Stift und einem Schreibblock, dann zeichnete er die vereinfachte Skizze einer Straßenkarte; das Ziel war ein dicker Knubbel, ziemlich abseits vom letzten einer Reihe kleiner Dörfer, in der Nähe eines birnenförmigen Gebildes, das wohl ein See sein sollte. „Es ist ein ziemlich abgewirtschaftetes Haus, direkt zwischen zwei Wäldern. Früher war es mal ein Hotel. Jetzt wohnen dort nur noch Samina und Sam. Ihr übergebt ihnen einfach ein Päckchen und sagt, der Prinz aus dem Morgenland hat euch geschickt. Es ist nichts Besonderes drin, nur Dope. Und macht in Zukunft keine Schulden mehr bei mir.“

      Eine Zeit lang sagte keiner etwas, das Kindergeschrei wurde dumpfer, und man hörte ein Flugzeug, ferne Rasenmäher, die Motoren des Sommers. Dann, endlich, brach Wolfi das Schweigen: „Drogenkuriere? Du willst uns als Drogenkuriere anheuern?“

      „Shit ist doch keine Droge.“ Janno grinste, wie man bei Insider-Sprüchen so grinst.

      „Und wie sollen wir dort hinkommen?“.

      „Das ist eure Sache. Und wie ihr dort wieder wegkommt, auch. Es fahren Züge. Oder ihr trampt. Ihr könnt auch laufen, wenn euch das lieber ist. Falls ihr eine Nacht bleiben wollt, es gibt dort genug Zimmer mit leeren Betten. Wichtig ist nur, dass ihr pünktlich dort auftaucht.“

      „Und wann ist pünktlich?“

      Er zog von seiner Kippe, seine Zehen rieben aneinander wie die Flügel eines mutwilligen Insekts. Das Sonnenöl auf seiner bronzefarbenen Haut schimmerte goldgelb wie zerlassene Butter.

      „Anfang nächster Woche.“

      ***

       „Vergiss es“, sagte Wolfi, als wir am Abend mit dem Bus in die Stadt fuhren. „So eine Scheiße kann er mit mir nicht abziehen. Was ist, wenn wir erwischt werden? Meinst du vielleicht, der sagt zu den Bullen, wartet mal, eigentlich bin ich es, der in den Knast gehört?“

      „Mit dem Zug ist es zu riskant“, sagte ich. „Aber trampen dürfte eigentlich sicher sein.“

      „Und wenn ein pensionierter Bulle oder so uns aufliest? – Na, was haben wir denn in dem Päckchen? – Ach, nur unsere Wurstbrote. – Ach ja? Sind aber komisch geschnittene Wurstbrote. Darf ich mal aufmachen? Na, hab ich mir’s doch gedacht. Sind mir ja schöne Wurstbrote. Ihr kommt beide auf den elektrischen Stuhl.“

      Wir blickten aus dem Fenster und wünschten uns, der Bus würde einfach weiterfahren, so weit weg von Janno, dass es ihn dort praktisch gar nicht mehr gab. In den Straßen herrschte sommerliche Öde, viele Ladentüren standen offen, aber niemand kaufte ein. Nur in den Biergärten schien einiges los zu sein.

      „Warum kommt eigentlich Alisha nie mit?“, fragte ich. „Sitzt sie den ganzen Tag bloß zu Hause?“

      „Sie schläft viel. Frag mich nicht, warum.“

      Das Silver Lining war unsere Stammdisco, in der wir tanzten und feierten und einfach zwei Jungs unter vielen waren: oberflächlich, nicht immer sehr geistreich, aber zumindest nicht unansehnlich. Vor allem Wolfi schien genau das zu sein, was Mädchen wünschten: Ein knuddeliger Rotschopf, frech und waghalsig, mit dem man eine Nacht lang knuddelig über Gott und die Welt quatschen konnte, um sich dann im knuddeligen Morgenlicht ein knuddeliges Adieu zu sagen. Aber seit er mit Alisha ging, war er ziemlich unknuddelig geworden. Und ich war noch immer auf der Suche.

      Heute war Donnerstag, eigentlich nicht unser Silver-Tag. Aber donnerstags jobbte Janno dort als Türsteher , und bis 22 Uhr wollte er wissen, ob wir den Job übernehmen würden oder nicht. Ihr könnt Nein sagen, aber dann rate ich euch, das Geld mitzubringen, hatte er gesagt. Das Geld hatten wir nicht dabei, aber Nein sagen wollten wir trotzdem. Drogenkuriere, das war einfach nicht unser Ding.

      Unterwegs überlegte ich mir, ob wir vielleicht eine Chance hätten, falls Janno handgreiflich werden würde. Übermenschlich war er schließlich auch nicht, und Wolfi und ich waren keine kleinen Kinder mehr. Ich malte mir aus, wie er Janno von hinten festhielt, während ich von vorne auf ihn eindrosch. Aber das würde sowieso nie passieren. Zwei gegen einen, das war nicht unser Stil.

      Das Silver Lining war der teuerste Schuppen in der Stadt, zumindest für Jugendliche. Beim Eintreten schlug einem sofort eine Mischung aus Menthol und künstlichem Kirscharoma entgegen, und die Gewächse und das Licht hatten Farben, deren Namen erst noch erfunden werden mussten, vor allem total verrückte Grün- und Pinktöne.

      Als wir die Treppe hochliefen, hörten wir Jannos Stimme:

      „Nein, euch drei nicht. Ihr geht besser zur nächsten CVJM-Party.“ Er sprach es wie C-Vimm aus. Daraufhin schlurften drei Landeier die Treppe hinab, sichtlich frustriert und in ihrem Selbstwertgefühl verletzt.

      „Darf ich mal, ihr zwei Hübschen?“ Ein Mädchen drängte sich zwischen uns, um so rasch wie möglich die Treppe hinaufzukommen. Sie hatte langes, blondes Haar, das in ihrem Nacken in ganz feinen Flaum überging. Bei dem Wort hübschen hatte sie die zweite Silbe betont – und so etwas, das wusste ich, taten vor allem Franzosen.

      „Wow, die war aber süß“, sagte Wolfi. „Und ‘nen geilen Duft hat sie auch an sich. Nicht so ‘ne Puffschmiere.“

      „Die würde ich auch nehmen, ja.“

      Ein Grinsen erschien auf Jannos Gesicht; unser Gespräch und unsere verwirrten Gesichter waren ihm nicht entgangen. Dann winkte er das Mädchen durch.

      „Schnapp sie dir doch.“ Wolfi puffte mich an.

      Sie entschwebte hinter der Tür, die in den Tanzsaal führte. Es war mir klar gewesen, dass Janno eine wie sie nicht abweisen würde. Aber jetzt waren wir dran, und uns wies er ab.

      „Außerdem habe ich noch kein Wort darüber gehört, wie ihr euch entschieden habt. Muss man euch die einfachsten Anstandsregeln beibringen?“

      Wolfi und ich sahen uns an. Wir hatten diese Abfuhr den ganzen Nachmittag lang geprobt, die verschiedensten Szenarien: Was Janno sagen könnte, was andere Gäste sagen könnten, die es gar nichts anging, und was wir ihnen antworten würden, tausend solche Sachen. Nur an eine Variante mit einem geilen französischen Mädchen hatten wir nicht gedacht.

      „Wir machen es“,