Fünfunddreißigtausend Jahre vor unserer Zeit oder wie der Mensch den Wolf zähmte.. Karl Reiche

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Название Fünfunddreißigtausend Jahre vor unserer Zeit oder wie der Mensch den Wolf zähmte.
Автор произведения Karl Reiche
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738067422



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dieser Vorgang nicht von heute auf morgen geschah, das liegt ebenfalls auf der Hand. Die Zusammenarbeit wurde sicherlich nicht durch einen augenblicklichen Beschluss herbeigeführt, sondern kann nur ein langsamer und langwieriger Prozess der allmählichen Annäherung gewesen sein. Mensch und Wolf haben sich sicherlich zunächst aus vorsichtiger Distanz beobachtet, dann zufällig gemeinsame Jagderfolge gehabt und diese dann irgendwann einmal bewusst wiederholt. Wahrscheinlich ging dafür die Initiative sogar vom Menschen aus. Bis beide Seiten so viel Vertrauen zueinander gefasst hatten, dass sie die jeweilige Nähe des Anderen duldeten, müssen Jahre der Vertrauensbildung vorangegangen sein. Wenn die eiszeitlichen Wölfe sich nicht viel anders verhalten haben, als die Wölfe heute, dann mieden sie meistens die Nähe des Menschen, weil sie ihn, genau wie sich selbst, als ImageRaubtier einschätzten. Auf der anderen Seite war die durchschnittliche Lebenserwartung eines Wolfes relativ kurz (sie lag und liegt auch heute bei 10 bis 12 Jahren). Sie ist also wesentlich kürzer als die des Menschen, so dass dieser Vorgang sich in nur wenigen Jahren abgespielt haben könnte.

      Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass zusätzlich ein dramatisches und einschneidendes Ereignis die beiden enger zusammengeführt hat.

      Auch die erste Zeit des Zusammenlebens dürfte nicht einfach gewesen sein. Damals wie heute kannten die Menschen den Wolf als gefährliches Raubtier und hatten, wie vor jedem großen Raubtier, Angst vor ihm. Wenn man zudem an die vielen Mythen vom „bösen Wolf“ denkt, die selbst in unserer Zeit noch lebendig sind, dann kann man sich vorstellen, dass die eiszeitlichen Jäger, besonders aber ihre Familien, am Anfang gegenüber dem neuen Jagdgefährten skeptisch waren.

      In der folgenden Geschichte versuche ich deshalb, diese Prozesse der Annäherung und die ersten Schritte des Zusammenlebens zu beschreiben, so wie sie stattgefunden haben könnten. Vorab stelle ich aber zum besseren Verständnis für die Leser einige Grundinformationen über die Zeit, in der ich diesen Prozess stattfinden lasse.

      Im Anhang stelle ich dann für den interessierten Leser weiteres Material über diese Zeit zur Verfügung.

      Die Steinzeit ist die längste Periode der Menschheitsgeschichte. Sie reicht vom Beginn der Menschwerdung vor etwa drei Millionen Jahren, bis zum Beginn der Bronzezeit etwa im 3. Jahrtausend vor Chr. Am Beginn der Steinzeit begannen die frühen Menschen, aufrecht zu gehen und die ersten Werkzeuge aus Stein, Holz oder tierischen Materialien zu benutzen.

      Die Wissenschaft untergliedert die Steinzeit in drei Hauptabschnitte:

      1. Die Altsteinzeit

      Diese untergliedert sich wiederum in drei Abschnitte:

      1.1. Die ältere Altsteinzeit. Sie begann etwa vor 2,5 Millionen Jahren.

      1.2. Die mittlere Altsteinzeit. Sie begann vor etwa 130.000 Jahren und

      1.3. Die jüngere Altsteinzeit, die vor etwa 40.000 Jahren begann und am Ende der Eiszeit endete.

      2. Die Mittelsteinzeit

      Sie begann mit dem Ende der letzten Eiszeit etwa 10.000 Jahre vor Chr. und endete mit dem Beginn der Sesshaftwerdung der Menschen. Das Eis zog sich aber nicht schlagartig zurück. Ab etwa 18.000 Jahre vor Chr. begann es langsam wärmer zu werden. Es gab aber immer wieder Zeiten mit kälteren Temperaturen, in denen das Eis teilweise zurückkehrte. Erst ab 10.000 vor Chr. war es in Mitteleuropa vollständig verschwunden.

      Die Menschen dieser Zeit waren immer noch Jäger und Sammler und wanderten von Süden, den Wildtierherden – vor allem den Rentierherden – folgend, nach Norden. Im Sommer also nordwärts und im Winter wieder zurück nach Süden, je nachdem, wie sich die Tierherden bewegten. Sie führten ein nomadisches Leben und ernährten sich, neben dem Fleisch der erjagten Tiere, auch von Früchten des Meeres und der Flüsse und von essbaren Pflanzen.

      Die Mittelsteinzeit ist also eine Übergangsperiode in eine neue Lebensart des Menschen.

      3. Die Jungsteinzeit.

      Sie begann in Mesopotamien etwa 11.000 Jahre v. Chr. und in Mitteleuropa etwa 4.500 v. Chr. In dieser Zeit wurden die Menschen sesshaft, betrieben Ackerbau und hatten bereits erste Haustiere gezähmt.

      Da diese Geschichte in der jüngeren Altsteinzeit spielt, möchte ich auf diese etwas näher eingehen.

      In der jüngeren Altsteinzeit, mitten in der letzten Eiszeit, wanderte der moderne Mensch vor etwa 40.000 Jahren in Europa ein. Er traf hier auf den bereits seit langem in diesen Regionen lebenden Neandertaler.

      Dieser verschwand in der Zeit nach dem Eintreffen des modernen Menschen vor etwa 28.000 Jahren. Seine letzten Spuren verlieren sich in Südspanien, in Höhlen bei Gibraltar. Bis heute rätselt die Wissenschaft über die Ursachen seines Verschwindens. Neuere Forschungen schließen aber nicht mehr aus, dass er nicht ausgestorben ist, sondern sich mit dem modernen Menschen vermischt hat und in ihm aufgegangen sein könnte.

      Der klassische Neandertaler lebte in Europa seit etwa 130.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung, also während der gesamten letzten Eiszeit. Vor 30.000 bis 28.000 Jahren verschwand er. Der moderne Mensch kam vor etwa 40.000 Jahren nach Europa, lebte hier also mindestens 10.000 Jahre lang neben oder zusammen mit dem Neandertaler. Die Wissenschaft geht davon aus, dass er von Afrika kommend über Kleinasien nach Europa einwanderte. Ob er auch den Weg über Gibraltar genommen hat, der Meeresspiegel lag während der letzten Eiszeit um 100 bis 150 m tiefer als heute und damit war diese Meerenge wesentlich schmaler, ist eher unwahrscheinlich.

      Mit dem Eintreffen des modernen Menschen begann eine neue Periode der menschlichen Geschichte in Europa: die jüngere Altsteinzeit.

      Das hat weniger mit seinem Eintreffen zu tun, als vielmehr mit dem plötzlichen Auftauchen vollkommen neuartiger Funde aus dieser Zeit: Nicht nur die Höhlenmalereien, die vor allem in Südfrankreich und Spanien entdeckt wurden, verdeutlichen dies. Es wurde Schmuck gefunden, figürliche Darstellungen von Tieren, Frauengestalten und erste Musikinstrumente (Flöten) aus Knochen oder Elfenbein. Von diesen Flöten wurden bisher sechs in Höhlen auf der Schwäbischen Alb entdeckt.

      In der jüngeren Altsteinzeit fand geradezu eine kreative Explosion statt, die Wissenschaftler oft als „human revolution“ bezeichnen.

      Anhand der gefundenen Werkzeuge ist festzustellen, dass die Menschen damals begannen, das Feuersteinmaterial gekonnter und präziser zu bearbeiten und damit auch bessere und effektivere Geräte und Jagdwaffen herzustellen.

      Auch aus anderen Materialien, wie Knochen und Geweihen von erlegten Tieren, wurde eine Vielzahl von Gebrauchsgegenständen hergestellt. Beispielsweise konnten sie sich mit einer Ahle (aus Feuerstein oder Knochen) und einer Nadel (aus einem zugeschnittenen spitzen Knochenstück mit einer Öse für den Faden aus Tiersehen) aus den gegerbten Fellen erlegter Tiere warme Kleidung nähen. Solche Pelzkleidung benötigten sie bei dem damals in Europa herrschenden Klima dringend.

      Die Menschen entwickelten in dieser Zeit eine Fülle von Werkzeugen und Geräten, die ihnen das Überleben in ihrer sehr feindlichen Umwelt erleichterten. Und das gilt, neueren Forschungen zufolge, für beide damals in Europa auftretenden Menschengruppen, sowohl für den modernen Menschen als auch für den Neandertaler.

      Die bedeutendsten und für ihr Überleben wichtigsten Geräte waren natürlich ihre Jagdwaffen, mit denen sie in der Lage waren, selbst große Tiere, wie das Mammut, das Wollnashorn, den Wisent, den Riesenhirsch, das Wildpferd und viele andere Tiere zu erlegen. Denn von ihrem Erfolg bei der Jagd hing ihr Überleben ab. So entwickelten sie neben sehr viel schlankeren und schärferen Lanzenspitzen aus Feuerstein auch die Speerschleuder, den Bumerang und Pfeil und Bogen.

      Ferner begannen sie bereits mit einer Technik, die später in der mittleren Steinzeit noch weiterentwickelt wurde: dem Einsetzen von sogenannten Mikrolithen (scharfe Feuersteinsplitter). Diese wurden unterhalb der Spitzen ihrer Lanzen an den Schäften angebracht und rissen beim Zustoßen mit dieser Waffe dem gejagten Tier große und sehr stark