Von Menschen und der Liebe. Berenice Boxler

Читать онлайн.
Название Von Menschen und der Liebe
Автор произведения Berenice Boxler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738031522



Скачать книгу

gelangweilte Kinder, ratlose Gesichter, Unentschlossenheit, und ach, die grausam fettigen Finger ... Ich sah viel in dieser Zeit. Oder hörte vielmehr, fühlte, spürte. Es war eine spannende Phase, meine ersten Lehrjahre der Menschenkunde – und ja, auch der Bücherkunde. Es gab so viele, ein Wirrwarr von Geschichten, Gedichten, Berichten, Abhandlungen, Kitsch, Lebenserfahrung, inhaltlose Schwafelei und ein Überschwang an Wortfolgen. Es war wie in einem Meer aus Buchstaben, treibend auf Wellen von Satzmelodien. Ich genoss diese Zeit, anfangs zumindest, ich sog alles in mich auf, ohne mir einen Reim darauf machen zu können – oder doch, ich hätte hunderte Reime machen können! Aber ich blieb meistens ruhig und hörte zu, lauschte dem Durcheinander. Erhaschte Fetzen von Worten, von Geschichten, von Leben. Und ließ meine Phantasie die fehlenden Brocken ergänzen.

      „Lebt wohl!“ Wie altmodisch. Das war wieder ein kleines gelbes Heft, ein Schiller, wie so oft in den hastigen Händen eines Schülers. Lebte er wohl oder wurde er genauso fahrig behandelt, wie es bereits jetzt schon den Anschein hatte? „Wir sehen uns bald wieder, weint nicht! Morgen ist ein neuer Tag.“ So ungefähr klangen die überladenen Grüße aus einer anderen Ecke. Eifersucht! Ich gebe es zu, ich war eifersüchtig. Auf die beliebten Fantasiewelten, die Schnäppchen nahe der Kasse und die Saisonware, „hübsch“ dekoriert. Diese aufgeblasenen Schnösel! Das war fast immer das Gleiche, farblich abgestimmt: gelb und braun im Oktober, grün und rot im Frühjahr, von Dezember ganz zu schweigen, und mit allerlei stummen Krimskrams aufgefüllt links und rechts. Aber die Leute liebten es! Wie sind die Menschen doch so einfach zu beeinflussen. Sie durften raus, die Welt sehen, von der ich immer nur kleine Auszüge zu hören bekam.

      Die Menschen hatten meine Neugier geweckt, immer größer wurde mein Hunger nach mehr, nach neuen Geschichten, nach Leben, und ja, nach Liebe, die so präsent war bei unseresgleichen. Überall war das Wort zu finden, es hallte quasi durch die Räume, besonders laut aus dem Bereich „Frauenliteratur“, war jedoch auch sonst allgegenwärtig. Und Abenteuer! Es gab einen Bereich, in dem sich gegenseitig überboten wurde an Abenteuergeschichten, Reisen in ferne Länder, nein, ICH habe mehr erlebt, ich bin um die ganze Welt gereist! Aber ich bin auf den höchsten Berg geklettert! Und ich habe die Wüste durchquert! Ich habe auf einem Katamaran gegen die Wellen gekämpft!

      Wie wunderbar musste es dort draußen sein, wie bunt und voller Inspiration, wenn die Menschen tagtäglich diese Welt erfahren durften! Wenn das alles stimmte, was ich dort in dieser Ecke hörte – und das meiste war glaubwürdig geschildert – dann musste die Welt da draußen das Paradies sein! Oh ja, ich beneidete sie, Tag um Tag, hilflos, oftmals traurig, und sehr hungrig. Und mit der Hoffnung, eines Tages selbst in die spannende Welt der Menschen einzutauchen, ihre Geschichten aus erster Hand zu hören, ihr Leben vielleicht sogar mit zu gestalten. Und dafür wurde ich ausgelacht. Eine bittere, auszehrende Zeit.

      5.

      Doch ich ließ mich nicht verunsichern! Oder doch, vielleicht ab und zu ein kleines bisschen. „Die Welt ist gar nicht so großartig, wie du sie dir vorstellst.“ Einer der wenigen ruhigen und verständnisvollen Stimmen. „Es gibt Unglück, Unwetter, Unheil, nicht so rosarot, wie du dir das vorstellst.“ „Vielleicht hast du recht, es gibt doch aber auch Zusammenhalt, Zuversicht, Zukunftspläne und Zufall, du Pessimist!“ Hah, wer mit mir Wortspiele veranstalten möchte, der muss sich in Acht nehmen, ich bin gewappnet! Wie lange ich dort blieb? Ich weiß es nicht. Nach einiger Zeit lernte ich, meine Gefühle und Stimmungen für mich zu behalten. Ich wurde still, ersparte mir so den Kummer der öffentlichen Ausgrenzung. Und lauschte nur noch, träumte ganz für mich allein.

      Da war zum Beispiel die Geschichte von Susanne, der braunhaarigen Angestellten, die jeden Tag einen anderen Rock anhatte und damit aus der uniformen meist blauen Hosenmode heraus stach. Sie lächelte oft schüchtern, wenn sie neue Bücher in die Regale stellte und dabei kurz die Klappentexte las. Ich sah sie nicht oft, hörte aber die anderen über sie reden. Über sie und Felix. Über ihre Hochzeitspläne und seinen Drang nach Unverbindlichkeit. Über ihre unausgesprochene Angst vor der tickenden Uhr und seine überspielte Unsicherheit. Eines Tages nahm sie sich ein Herz und sprach mit ihm. Erzählte ihm, was ihr wichtig war, was sie sich erhoffte. Und er war sich endlich sicher, dass er Teil ihrer Zukunft sein wollte. So jedenfalls stellte ich mir das Ende der Geschichte vor oder besser den Anfang ihrer gemeinsamen Geschichte. „Unverbesserlicher Romantiker!“ Ja, vielleicht. Ob es in Erfüllung ging? Das ist nicht wichtig. Was zählt ist, dass dieser Werdegang der Ereignisse möglich war.

      Oder Clara, der kleine blonde Wirbelwind, der in seinem kindlichen Elan etliche Bücher aus den Regalen zog und sich dann irgendwann mit einem Bilderbuch auf einen der kleinen bunten Kindersessel setzte und anfing zu blättern. Und die Wärme in den Augen ihres Vaters – unverkennbare Zusammengehörigkeit, beide hatten die gleiche kräftige Stirn über den geschwungenen Augenbrauen – wenn er sie beobachtete, einige Minuten, ehe er mit leiser aber fordernder Stimme sagte: „Clara, wir müssen nach Hause.“ Ich konnte es von weitem beobachten und stellte mir vor, wie diese Familie harmonisch in einem kleinen Stadthaus lebte und die Kinder von klein an mit Büchern in Kontakt waren, sich an Bildern und Buchstaben erfreuten und sich gegenseitig vorlasen. Übertrieben, unrealistisch, ich weiß, aber meine Phantasie ging oft seltsame Wege. Und ich träumte mich in eine schöne Welt, in eine perfekte Welt. Was auch immer das heißen soll: perfekt. Nichts ist je perfekt, das ist mir bewusst. Das wäre ja auch zu langweilig, das Leben viel zu einfach. Aber ich träumte meine Reise entlang eines ebenen Pfads, gesäumt von Bäumen und bunten Blumen, idyllisch eben. Vielleicht habe ich ja zu lange den anderen zugehört, mit ihren Geschichten von Liebe, Romantik und dem obligatorischen „sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.“ Aber träumen werde ich ja wohl noch dürfen!

      6.

      Wie lange mag ich dort gestanden haben, unbeweglich aber aufmerksam? Drei Tage? Dreizehn Wochen? Zeit ist eine schwierige Weggefährtin. Sie macht mir Angst, um ehrlich zu sein. Eigentlich ist sie nicht da, denn sobald man sie greifen möchte, ist es schon wieder vorbei. Gegenwart, das existiert doch gar nicht! Alles ist Vergangenheit, wenn man versucht, das Jetzt festzuhalten. Und dann ist da noch die Zukunft. Die Zeit ist überall. Es sollte mich nicht stören, denke ich, was bedeutet Zeit schon für mich, für meinesgleichen? Aber ich habe den Umgang der Menschen mit ihr beobachtet, mit ihrer Allgegenwärtigkeit, ihrer gottgleichen Macht und der ohne Zweifel dunklen Seite, der ihr innewohnt. Ein Schleier, ein Nebel, der sich im Gehirn der Menschen allzu oft zu einem Gebilde aus Druck und Unwohlsein entwickelt. Ich glaube, ich habe mir die menschliche Wahrnehmung von Zeit angeeignet, doch eigentlich widerwillig. Es gefällt mir nicht, aber mir tat sich kein anderer Weg auf, um in dieser Welt verständlich zu sein. Dennoch kann ich nicht sagen, wie lange ich dort war. Es muss einige Zeit gewesen sein, viele Veränderungen konnte ich beobachten. Aber manchmal lässt mich mein Gedächtnis in Stich, manchmal kann ich nicht sagen, was ich gesehen habe und was andere berichtet haben und in meinem Kopf dann so lebendig widergespiegelt wurde, als hätte ich es selbst erlebt.

      Es war ein reicher Ort, ein bereichernder Aufenthalt. Oft fragte ich mich, ob die anderen ebenso aufmerksam um sich blickten wie ich. War die Sehnsucht bei allen so groß wie bei mir? Weshalb hörte ich nicht mehr Enttäuschung und Wehklagen? Bildete ich mir vielleicht nur etwas ein? Ja, die Unsicherheit bahnte sich immer wieder ihren Weg, um dann am Ende von meinem Herzen abrupt gestoppt zu werden. Denn im Grunde spielte es keine Rolle, was wahr war und was nicht, und vor allem nicht, was die anderen dachten. Gut, wenn ich ehrlich bin, spielte es doch eine Rolle, was die anderen taten. Aber nicht vorrangig. Da ging es vor allem um mich und wie ich die Welt, meine Welt sah. Wie ich in dieser Welt bestehen könnte, wohin ich gehen wollte. Natürlich im übertragenen Sinn, denn ich war ja abhängig von den Menschen, von ihren Wünschen und Zielen. Aber tief in mir drin war ich überzeugt, dass ich mit mir selber im Reinen sein musste, um da draußen nicht den Verstand zu verlieren. Also versuchte ich, mein eigenes kleines Universum zu ordnen und alles in mich aufzusaugen, was mich erreichte.

      7.

      Habe ich schon von Maria erzählt? Eines Tages griff