Von Menschen und der Liebe. Berenice Boxler

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Название Von Menschen und der Liebe
Автор произведения Berenice Boxler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738031522



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Äußerlich sind wir alle ähnlich. Lyons unten in der Ecke zum Beispiel ist weiß mit einem blauen Streifen, doch ist er auch eckig wie ich. Er spricht jedoch vollkommen unverständliche Laute. Anfangs meinte ich zu verstehen, einzelne Wörter kamen mir bekannt vor. Doch wir gaben es schließlich auf, zu anstrengend waren die aussichtslosen Versuche einer Verständigung.

      Sagte ich, es sei immer vollkommen still um mich? Nun ja, ich war ja nicht ständig in dieser Tasche gefangen, hilflos und ausgeliefert. Ich lag auch lange Zeit herum, hoch oben auf einem Regal, eingezwängt und in meiner Wahrnehmung beschränkt. Wie lange ich schließlich wo war – wer kann das schon sagen. Ja, es gibt Phasen grenzenloser Einsamkeit. Und ja, vielleicht habe ich in einer solchen Phase etwas übertrieben und mich hineingesteigert in meine Traurigkeit. Das Leid ist immer relativ zu sehen, denke ich, relativ zu dem woher. „Unter den Blinden ist der Einäugige ein König“, heißt es nicht so irgendwo? Auf den Betrachter kommt es an, auf die Perspektive. Es bereitet mir zuweilen Schwierigkeiten, die Verhältnismäßigkeit einzuhalten. Doch dann wiederum: Wer bestimmt eigentlich, was wann richtig ist und was nicht? Ich will mich nicht entschuldigen für meine Aussage, nur etwas erklären. Denn ganz alleine bin ich eigentlich nicht, jedenfalls nicht immer.

      Ab und zu stößt ein großer brummiger Wälzer zu mir und den anderen – auch er nur gelegentlich berührt und seiner Bestimmung gemäß benutzt. Ein klein wenig verständlicher als andere ist der Wälzer, doch sind seine ständigen Klagen fast unerträglich. Er ist uralt, voller Farbe und Teeflecken, mit den Kräften am Ende. „Zerfleddert“, so nennt man das wohl. Auch er, obwohl alt und mit einem muffigen Geruch, sieht mir einigermaßen ähnlich, nur ist er etwas größer. Er erzählte einmal mit kraftloser Stimme und mit allerlei Hilfsmitteln von schier endlosen Versionen unserer Spezies: In allen Farben und Dekorationen gebe es uns, mit harter Schale oder weich, einige, die exklusiveren, sogar mit einem zusätzlichen Mantel zum Schutz, dick, dünn, alt, jung, verbraucht, vor Kraft strotzend, verständlich, langweilig, unaussprechlich, wunderbar bebildert, mit Goldrand oder auch voller Fehler. Ob ich ihm glaube? Ja, natürlich. Er ist viel zu trocken in seiner Sprache, um sich so etwas auszudenken. Außerdem habe ich auch schon ein bisschen gesehen von der Welt, kann mir meine eigenen Gedanken machen auf die Bedeutung der Vielfalt von uns. Vielleicht bin ich deshalb so enttäuscht, dass ich mich kaum austauschen kann hier, in meinem Ledergefängnis oder hoch oben auf dem staubigen Turm.

      3.

      Aber ich schweife ab. Der Alte: Er klagte und greinte so oft, dass ich schließlich irgendwann nur noch mit halbem Ohr zuhörte, seine Litaneien oftmals nur noch als stumpfes Hintergrundrauschen wahrnahm. Daher entging mir beinahe, als er eines Tages sehr holprig eine Geschichte erzählte, die mich dann mit ihren Wortfetzen, die mich anfangs erreichten, rasch in ihren Bann zog. Er konnte nicht sonderlich gut erzählen und brachte vieles durcheinander, aber es nahm mich trotzdem gefangen. Es ging um zwei Familien, um Kämpfe und Beleidigungen, um einen Ball und Gewalt, vor allem aber um Liebe, um einen Mann und eine Frau und die Entdeckung des anderen Menschen. Die Sprache erschien mir seltsam, aber vielleicht hatte der Alte auch einfach übertrieben in seinem Bemühen, den Zauber der Geschichte wiederzugeben. Ich lauschte und wagte kaum zu atmen, um nicht ein Wort zu verpassen. Mein Gehirn schien verrückt zu spielen. Hatte ich das vielleicht schon einmal gehört? Mir ist bis heute nicht wirklich klar, was mich damals so in den Bann schlug. War es die Erzählung selbst, die tragische Geschichte von einem verzweifelten Gefühl? Oder die Ereignisse, mit der die Phantasie der lückenhaften und stockenden Erzählung ihre Vollständigkeit gab? Vielleicht war es vielmehr die nicht greifbare und alles durchströmende Idee der Liebe. Ich weiß nicht einmal, woher der Alte diese Geschichte hatte, wo ich mir die emotionalen Details und die zweifellos erschütternden Dialoge noch einmal und vor allem ausführlicher erzählen lassen konnte, um sie dann selbst in mich aufzusaugen mit jedem Schwung des schwarz gedruckten Buchstabens. Vielleicht kann ich mein verwirrtes Gedächtnis auch irgendwann dazu bringen, sich zu erinnern, weshalb mir das bekannt vorkam.

      Es ist schwer zu beschreiben, aber dies half mir in langen Phasen von Einsamkeit und Hilflosigkeit. Jemand sagte einmal: „Du hast eine grenzenlose Phantasie. Pass auf, dass du vor lauter Träumen das Leben nicht verpasst!“ Ich habe keine Ahnung, wie das gemeint war. Denn welches Leben sollte ich denn verpassen, wo ich doch so hilflos und unbeweglich bin? Die einzige Möglichkeit für mich, das Leben zu begreifen, überhaupt irgend etwas zu „erleben“ – abgesehen von meinem Dasein als Spielball von scheinbar willkürlichen Handbewegungen – besteht immer darin, in meiner Phantasie zu reisen. Und das tue ich, wann immer es möglich ist. Und diese Geschichte ließ und lässt mich nicht mehr los. In vielen Dämmerungen, dieser magischen Zwischenzeit, wenn der Tag und die Nacht miteinander kämpfen, lautlos und doch kraftvoll ihre Reviere verteidigen, um dann endlich einer dem anderen nachzugeben, in dieser Zeit gebe ich mich den Träumen hin. Es sind nicht immer solch tragische Geschichten von unerfüllter Liebe oder von Kummer, nein, auch Abenteuer und wundervolle Reisen erlebe ich! Oftmals vergesse ich vollkommen, ob das, was in meinem Inneren springt und riecht und jauchzt und leidet, ob die Geschichten wahr sind, erlebte Berichte von anderen wiedergegeben, oder doch selbst reine Phantasie. Im Grunde ist das nicht wichtig. Von Bedeutung ist lediglich das Gefühl von grenzenloser Freiheit, das dadurch in mir geweckt und unaufhörlich genährt wird.

      Doch ich schweife schon wieder ab. Ich höre mich schon an wie der Wälzer, ich nenne ihn Wilhelm. Er ist so erhaben, so steif, wie der alte Wilhelm, über den ich von einem Lexikon einiges erfuhr. Allerdings kann ich mich nicht mehr an den ganzen Namen erinnern. Ich will mich nicht anhören wie Wilhelm! Ich will nicht ständig klagen und jammern. Mit meinem Schicksal hadern. Obwohl, was ist überhaupt Schicksal? Auch darüber habe ich etwas gehört. Aber das Wort passt hier gar nicht. Ist es Schicksal, dass ich in dieser alten Tasche gelandet bin, nach monatelangem Warten und Rumliegen? Ist es Schicksal, dass ich im Gegensatz zu vielen anderen offensichtlich einfach Zufriedenen mehr erfahren möchte über mich, über die Welt, über die Menschen? Ist es Schicksal, dass es mir offenbar verwehrt bleiben soll? Nein, das ist Unsinn. Zufall, es ist nur Zufall, dass ausgerechnet ich an dritter Stelle von vorne aufrecht stand, als Maria ein Geschenk suchte und eben nicht das bereits etwas mitgenommene und müde Exemplar ganz vorne nahm, sondern weiter nach hinten griff. Inmitten anderer Versionen von mir stand ich dort einige Wochen lang und wartete. So jedenfalls denke ich mir das. Es gibt da diese seltsame Begebenheit, dass bei Verlassen der Fabrik zunächst eine Art Koma über einen fällt. Wie durch einen Schleier ist diese Zeit in meinem Gedächtnis geblieben. Unwirklich, und doch durchsetzt von Phasen reiner Sicht. Es war dunkel, immer wieder aber überrannten mich Lawinen von Lärm, ein Brüllen von Maschinen, Hektik. Ich möchte nicht mehr daran denken, zu beängstigend war es, wie ein Spielball von hier nach dort geschickt zu werden, keine Kontrolle zu haben. Die Geburt, meine Geburt, hineingeworfen in eine Welt, die mich immer noch, immer wieder verwirrt. Ja, ich weiß, ich bin ein Grübler und mache mir zu viele Gedanken, zu viele Sorgen vielleicht. Aber ich werde oft überwältigt von dem Anderen, von dem Neuen. Als ich schließlich auf meinem Platz angekommen war, wurde es mit einem Mal ruhiger. Alles verlangsamte sich, und ich konnte wieder alle meine Sinne benutzen und mich beruhigen. Und meine Neugier schier ins Unendliche wachsen lassen.

      4.

      „Ich will aber beide haben!“ Die ersten klaren Worte in meiner Welt. „Ich will, ich will, ich will!“ „Nein, eins ist genug, hab‘ ich gesagt. Jetzt entscheide dich und dann gehen wir. Du kannst dir die anderen ja von Oma zum Geburtstag wünschen.“ „Aber das dauert doch noch so lang!“

      „Ich bin noch im Buchladen, ja, ich komme gleich. Du sitzt schon im Café? In Ordnung, ja, ich beeile mich. Bis gleich, Mama.“

      Ein mühsam unterdrücktes Schluchzen. „Wie ist das passiert? Heute Morgen schien doch alles gar nicht so schlimm zu sein. Hat der Tierarzt dir das genauer erklärt?“

      „Hast du mitgekriegt, wie Markus dich angesehen hat eben? Das war nicht normal, der will was von dir, bestimmt!“

      Worte, viele Worte, Gespräche, Gesprächsfetzen, einzelne Sätze, kurze Erzählungen, kleine Anekdoten, ja, auch emotionale Ausbrüche – War es eine Katze? Ein Hund?