Verspielte Erbschaften. Werner Linn

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Название Verspielte Erbschaften
Автор произведения Werner Linn
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783847692102



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einen Finger rühren müssen(66), erkennt man, dass gerade hier ein systemstabilisierender Faktor liegt: Während die wahren Herrschenden, das heißt die Reichen, ihren Reichtum, soweit eine gewisse Grenze überschritten wurde, um jeden Preis halten können(67), werden die Ärmsten dadurch ernährt und bei der Stange gehalten, dass zu ihrer Ernährung das Vermögen des Mittelstandes eingesetzt wird(68). Gerade der Mittelstand aber ist die kritische Masse, die allein das gegenwärtige System in Frage stellen könnte(69). Er hat daher zu verschwinden. Es ist das erklärte Ziel der Herrschenden, den gesamten Mittelstand, das heißt alle diejenigen, die eine gewisse Reichtumsschwelle noch nicht überschritten haben, aber sich noch selbst ernähren, zu vernichten. Steigende Insolvenzzahlen(70) sind ein deutliches Signal sowie der Indikator für die Richtigkeit dieser Aussage. Anders betrachtet, bedeutet es, dass jede vernichtete Mittelstandsexistenz das Heer der Armen vergrößert und damit die Stabilität dieses international moneträregoistischen Systems mittelfristig sichert.

      Aus diesem Grund erscheint es vorgegeben, dass eine Steuerreform(71), dass Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen(72), usw. immer nur darauf ausgerichtet sein können, die Reichen reicher zu machen und das Heer der Armen in der Weise zu vergrößern, in der es noch zu ernähren ist. Wenn man jedoch etwas nachdenkt, wird einem von vornherein klar, dass auch hier zeitliche Grenzen gesetzt sind: Irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, in dem die Umverteilung des Mittelstandsvermögens nicht mehr ausreichen kann, die Masse der „Armen“ zu ernähren, ohne dass diese gezwungen sind, selbst am Erwerbsprozess teilzunehmen. Dieser Zeitpunkt ist noch lange nicht erreicht. Es ist daher an der Zeit, die Mehrheit dieser Kräfte, die es heute noch gibt, zusammenzufassen, um diesem schleichendem Prozess ein Ende zu bereiten.

      Richtig verstandene Mittelstandspolitik ist somit systemgefährdend, als Idee nur durchzusetzen von einer neuen politischen Richtung, die nicht den vorher beschriebenen Prinzipien verhaftet ist. Auf Europa bezogen, hat dies noch weitere Konsequenzen: die hier Werktätigen haben sämtliche am Produktionsprozess nicht beteiligten Angehörigen auch anderer Völker mitzuernähren(73). So betrachtet, bedeutet jeder Schritt in Richtung Europa einen weiteren Schritt in Richtung Umverteilung, diesmal nicht im nationalen sondern im internationalen Rahmen, was zu einer Beschleunigung des Zerfalls führen muss. Aus diesem Grund ist es unumgänglich, hier Dämme einzuziehen, die einer Umverteilung nach außen hin(74) den Weg versperren.

      Definition: Sozialstaat

      Zur Sozialstaatskompenente(75) gehört zunächst jede Leistung, die das Gemeinwesen entweder direkt oder indirekt seinen Bürgern ohne Gegenleistung und ohne wirtschaftspolitische Zielrichtung zuwendet. Im klassischen Sinn(76) handelt es sich hierbei um Sozialhilfe, Wohngeld, Kindergeld usw. Dem Sozialstaatsprinzip entspricht aber auch die Zuwendung über dritte, wie zum Beispiel das Arbeitslosengeld(77), das vom Arbeitsamt gezahlt wird ebenso wie die Leistungen durch die gesetzlichen Krankenkassen(78), weil hier letztlich der Staat - wenn auch indirekt - Leistungen erbringt.

      Dem Sozialstaatsprinzip entspricht im weiteren Sinn auch eine Gesetzgebung “mit sozialem Einschlag”, wie z. B. das soziale Mietrecht(79) oder in weiten Teilen das Arbeitsrecht(80). Auch wenn hier der Staat selbst weder aus eigener Kasse, noch aus Kassen hinzuzuordnender Dritter Leistungen erbringt, wird hier das marktwirtschaftliche System, das lediglich zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage fähig ist, durchbrochen. Somit stellt sich die weiteste Definition des Sozialstaatsprinzips als negative Beschreibung dar:

      Dem Sozialstaatsprinzip ist jeder Leistungsverkehr zuzuordnen, der nicht das Ergebnis einer durch Angebot und Nachfrage geregelten oder eine solche fördernde Transaktion ist.

      Bereits hier wird deutlich, wie weitgehend das Sozialstaatsprinzip neben den marktwirtschaftlichen Prinzipien in unserer Gesellschaft verankert ist. Deutlich wird dabei auch das zahnradartige Ineinandergreifen marktwirtschaftlicher und sozialstaatlicher Prinzipien(81). Der rein kapitalistisch (marktwirtschaftlich) organisierte Staat und der rein kommunistisch (planwirtschaftlich) organisierte Staat kommen, wie bereits oben dargestellt(82), in der Realität nicht vor. Mischformen sind es somit, die den Alltag bestimmen. Unterscheidet man zwischen marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften mit sozialstaatlichem Einschlag und planwirtschaftlich organisierten Staaten mit marktwirtschaftlichen Enklaven, fällt sofort auf, dass letztere heute lediglich noch am Rande vorkommen wie z. B. in China(83), Nordkorea(84) und einigen Entwicklungsländern. Das bei uns dominierende Prinzip ist somit diejenige Mischform, bei der die Wirtschaftsordnung grundsätzlich marktwirtschaftlich organisiert ist, jedoch sozialstaatlichen Korrekturen unterliegt. Die bei uns zeitweise hochgelobte soziale Marktwirtschaft ist das wohl beste Beispiel einer solchen Kombination(85).

      Wie oben dargestellt, kann dieses Modell Umverteilungsprozesse im großen Stil bedingen, die irgendwo an natürliche Grenzen stoßen(86). Zu einer Zeit blinder Wachstumsgläubigkeit waren die tatsächlichen Grenzen außer Betracht gelassen worden und es schien so, als ob auf Dauer ein System gefunden war, das nicht nur den Interessen der Wirtschaft entsprach, sondern auch den Interessen derer, die mit dieser Marktlage nicht zurechtkommen konnten(87).

      Nach Zeiten der Rezession(88) konnte man die oben dargestellten Grenzen nicht mehr einfach außer Acht lassen und es drängte sich die Frage auf, wie das Sozialstaatsprinzip in diesem Modell einer Begrenzung(89) unterworfen werden dürfte, ohne es insgesamt abzuschaffen. In letzter Zeit kamen insbesondere aus den Reihen der Sozialdemokratie in Europa(90) “(Schröder-Blair-Modell”, “Agenda 2010”) Überlegungen, Sozialleistungen abzubauen, um einem Kollaps des Systems vorzubeugen. Parallel dazu forderten sozialdemokratische Führer in verschiedenen Bundesländern, aber auch im europäischen Ausland die Gewerkschaften zur Zurückhaltung bei Lohnforderungen auf(91) (Ministerpräsidenten in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen: 2 Nullrunden für Arbeitnehmer!). Weitergehender noch war im Ansatz die sogenannte „Agenda 2010“ der vormaligen Regierungskoalition, die jedoch durch die eigenen Genossen der Basis in Frage gestellt wird(92). Diese Beispiele machen deutlich, dass das ursprüngliche Parteiengefüge über die Frage der sozialen Marktwirtschaft ins Rutschen geraten ist(93). Erstaunlich erscheint insbesondere, dass linke Parteien einen Abbau des Sozialstaatsprinzips fordern, während rechte Parteien diese Frage nur zögernd in den Mittelpunkt politischer Entscheidungen gerückt haben(94). Diese linken Parteien schwingen sich plötzlich zum Fürsprecher einer mehr marktwirtschaftlich organisierten sozialen Marktwirtschaft auf und überholen dabei die traditionellen Rechtsparteien rechts, während die traditionellen Rechtsparteien ihre politische Zukunft zeitweise auf der linken Seite entdecken und für den Erhalt sozialstaatlicher Grundwerte lautstark eintreten. Zu mutige Initiativen werden mit einem „Salto Rückwärts“ korrigiert, wie etwas das Kirchhoff-Merz-Konzept(95), von dem im Frühjahr 2004 in der offiziellen CDU-Ideologie und Speachregelung nicht mehr viel übrig geblieben ist(96). Dieses Durcheinander verstellt zunächst den Blick für die politische Realität. Beide Richtungen, nämlich linke und rechte Parteien bewegen sich scheinbar in die Mitte und damit aufeinander zu, wenn sie, um das System, das auch ihre Existenz bedingt, zu erhalten versuchten, die Argumente des jeweiligen Gegners übernehmen. Dabei ist ihnen jedes Mittel recht, wenn sogar mit vertauschten Rollen gegeneinander um die scheinbare Mitte gefochten werden soll(97).

      Es versteht sich von selbst, dass der Sache mit derartigen Scheingefechten nicht gedient ist. Sowohl die Wirtschaft als auch die Arbeitnehmer verstehen plötzlich nicht mehr, bei wem ihre Interessen gut aufgehoben sind. Eine Vermischung des Wählerpotentials - ob gewünscht oder nicht - ist die Folge. Dies entspricht auch der Intention beider Richtungen, sich als die neue Mitte darzustellen(98). Das Ganze erinnert eher an Theater und Rollenspiele als an seriöse Politik. Diese Erkenntnis scheint sich auch langsam durchzusetzen, denn gleichzeitig, fast wie koordiniert, rücken Parteistrategen auf beiden Seiten ihre Formationen wieder zurück in Richtung Ausgangsstellung, um das System auch optisch zu erhalten. Auch wenn dieses Spiel den Eindruck von Dynamik und Bewegung zu vermitteln vermag, kann es nicht darüber hinwegtäuschen, dass bestenfalls etwas an den Symptomen der Krankheit des Systems kuriert werden soll und eine Chance zu wirklicher Heilung der Fehler desselben überhaupt nicht besteht. Einer Heilung muss nämlich zunächst eine korrekte Diagnose vorausgehen, um auf dieser aufbauend, einen Heilungsplan zu entwickeln.

      Diagnose: