Название | Der Medizinmann |
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Автор произведения | Roland Reitmair |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742788368 |
Endlich kam die Kellnerin. Glanzer wollte Tee, Gabi bestellte Rotwein.
Glanzers Aussehen und auch sein korrekt steifes Benehmen erinnerte Gabi an ihren Anwalt bei der Verhandlung damals. Auch so ein schweigsamer Anzugträger, so ein humorloser Stockfisch.
Ihr unruhiger Blick wanderte alten Fotos entlang, die hinter der Bar aufgehängt waren. Partyfotos. Faschingsfotos. Sauffotos. Die Besitzer der Bar mit dem Personal. Ein Vampir inmitten eines Bienenschwarmes. Eine rauchende Bikinidame auf der Bar, die mit ihrem Schmollmund den Zapfhahn küsst.
„Noch das „Technische“, bevor wir endgültig anfangen… Grundsätzlich verrechne ich pro Termin zusätzlich fünfzig Euro. Brauchen werden wir wahrscheinlich drei Termine würde ich sagen. Heute geben Sie mir alle Eckdaten bekannt, dann schreibe ich eine Rohversion, die ich Ihnen übermittle. Beim zweiten Termin besprechen wir den Entwurf, ich überarbeite alles und schicke Ihnen das neuerlich. Wenn wir uns einig werden, wovon ich ausgehe, dann kann meine Lektorin die notwendigen Korrekturen veranlassen und wir vereinbaren dann nur noch einen Termin zur Nachbesprechung – beziehungsweise Erörterung eventuell weiterer Möglichkeiten, wie Veröffentlichung, wenn es ein Thema für die breite Öffentlichkeit wäre…“
Die Kellnerin servierte Tee und Wein.
Je mehr Glanzer von seiner Arbeitsweise erzählte, desto reservierter gab sich Gabi. „Jaja, wird schon alles so passen…“, doch sie vermittelte in dem Augenblick eher den Eindruck davonlaufen zu wollen.
„Fangen wir ganz vorne an…“, versuchte Glanzer Ruhe auszustrahlen, „Sie umreißen kurz das Thema und beginnen dann mit den Einzelheiten…“
Gabi war jetzt noch mehr aufgeregt, als draußen auf der Straße. Wie gegen inneren Widerstand begann sie ruckartig zu sprechen. Einzelne Worte, ohne Satzmelodie. „Ich … ich hätte diese Dinge gern niedergeschrieben. Es ist so viel passiert. So viel, das nicht leicht zu verstehen ist, auch für mich nicht…“
Mit einem Kopfschütteln unterbrach sie sich: „Ich bin so nervös. Was werden sie von mir denken…!?“
Aber Glanzer schwenkte nur kurz den Kopf zur Seite. „Das ist normal am Anfang, Sie müssen erst ihren Faden finden… dann erzählt es sich wie von allein. Sie werden sehen.“
Gabi atmete tief durch, konzentrierte sich. „Es ist deswegen, weil ich das nicht nur für mich tue, nicht nur für mich meinen Knoten im Hirn lösen möchte…
Marie, meine Tochter, fragt immer wieder einmal nach, will wissen, was „damals“ war. Wie und wer ihr Vater war. Ich hab ihr noch nicht sehr viel erzählt. Vielleicht gab es auch einfach nie Gelegenheit ihr mehr zu erzählen…
Und meine Bedenken, sie könnte werden wie er…“
Gabi starrte abwesend in Richtung Toilette. Erst als dort die Tür aufging, wendete sie ihren Blick ab und redete weiter. „Ja, Marie hat seine Gene, seine Anlagen. Genau wie er ist sie übersensibel und zerbrechlich – nur um im nächsten Moment zur rücksichtslos sturen Egozentrikerin zu werden.
Aber sie soll nicht nur mehr über ihren Vater erfahren, sie soll, wenn schon, dann die ganze Geschichte erfahren – auch, wenn ich dabei … so etwas wie Hemmungen hab.“
Gabi rückte ihren Sessel zurecht und fixierte nun irgendwie betreten oder traurig die blank polierte Tischplatte.
Das Café füllt sich langsam mit durchfrorenen Besuchern des nahen Adventmarktes. Rote Rotznasen suchten sich ihren Platz und schnäuzten sich umständlich, während sie bestellten.
Abgesehen von der Beleuchtung aus den siebziger Jahren, war die Atmosphäre im Café gemütlich.
Glanzer schaute neugierig, erwartungsvoll, fast lauernd, „wenn ich sie recht verstehe, dann ist der Vater ihrer Tochter nicht mehr am Leben?“
„Ja… Michael ist tot.“ Gabis Gesicht verlor Farbe, erstarrte, „Tot wie so viele andere. Nur Claudia und ich sind übrig. Alle anderen aus der Zeit sind nicht mehr am Leben…“
„Claudia? Wer ist Claudia?“
„Claudia ist meine beste Freundin. Mit ihr ging ich durch dick und dünn, oder dick und doof, wie man will…“
„Frau Eder, ich brauche zuerst einmal einen kurzen Überblick – ich soll offenbar eine Geschichte über Drogenmissbrauch schreiben, Abhängigkeit, Verlust von Freunden und ihren eigenen Kampf gegen die Droge? Nehmen sie noch Drogen?“
„Nein. Sonst würde ich nicht hier sitzen, sondern wäre, wie die anderen, schon in der Kiste und unter der Erde…“
„Wichtig wäre mir, dass wir einen Anfang finden. Wann und wie hat alles angefangen? Gab es markante Daten oder Punkte, wo sich ihr Leben vom Leben der anderen zu unterscheiden begann?“
„Ja… Ja, die gab es. Damals in Tirol. Auf Saison… Aber mit Michael hat es erst 1978 angefangen… zu Weihnachten… am dreiundzwanzigsten Dezember…“
„Da haben sie ihren Mann kennengelernt?“
„Ja – nein. An dem Tag kamen wir zusammen. Michael hab ich schon in der Sandkiste kennengelernt.
Damals war er noch so ein richtig böser Rabauke… Wahrscheinlich müsste ich mit dieser Zeit anfangen. Mit der Volksschule. Manchmal denke ich, das Unglück hat mich schon früh verfolgt.“
Glanzer sah auf und musterte Gabi. Sie lachte unsicher. Wischte mit der Hand durch die Luft und korrigierte die Aussage, „Nein, das stimmt jetzt so nicht. Eigentlich hab ich immer viel Glück gehabt und immer Menschen getroffen oder um mich gehabt, die mir dann aufgeholfen haben, wenn ich es selbst nicht mehr schaffte.“
Ihr Gegenüber räusperte sich, „Entschuldigen sie, wenn ich unterbreche, aber das würde mir gefallen, wenn eine Episode aus ihrer Kindheit quasi zum Anker für die ganze Geschichte würde, ich finde das hat was… wenn sie vielleicht wirklich dort anzufangen versuchen?!“
„Okay…“, Gabi nickte langsam und überlegte.
„Ich bin ja erst mit Beginn des zweiten Jahres Volksschule nach Linz gekommen. Meine ersten Lebensjahre hab ich in Wien verbracht, den Kindergarten und das erste Schuljahr. Allerdings kann ich mich daran kaum noch erinnern.
Weiß nur noch, dass ich am Weg zum Kindergarten an einer großen Fabrik vorbei musste. Entlang einer endlosen, großen, grauen Betonmauer, auf der unzählige stumpf dahingurrende Tauben saßen. Der ganze Weg war mit ihrem Dreck vollgeschissen. Wie weiße Tintenkleckse. Und immer wieder einmal hat mich eines der blöden Viecher auch erwischt und ich lief weinend wieder heim.
Der stinkende Vogeldreck auf der Jacke oder dem Kleid machte mich wahnsinnig. Aber geweint hab ich, weil ich deswegen wieder einmal zu spät in den Kindergarten kam und die Tanten nur wenig Verständnis für meine angeblichen Ausreden hatten. Die anderen Kinder haben mich jedes Mal verspottetet. „Taubendreck-Gabi“ sagten sie.
Den Kindergarten besuchte noch eine Gabi – die „schöne“ Gabi, wie sie von den anderen Kindern genannt wurde, um sie namentlich von mir zu unterscheiden. Natürlich hat die eifrig mit gespottet. Ich konnte sie nicht ausstehen – und sie mich auch nicht. Das gehörte zusammen: der Taubendreck, die Hänseleien und die „schöne“ Gabi. Für mich hieß das automatisch, dass ich ein hässliches Entlein bin.
Irgendwann durfte sie wieder einmal bei einem Spiel mitmachen und ich nicht. Da wurde ich sehr zornig, das weiß ich noch gut. Ich ging zu ihr hin und schnäuzte mich einfach in ihren Faltenrock.“
Gabi hielt inne, überlegte, lächelte. „Ich war wohl kein Engel damals...
Meine Eltern wurden vorgeladen und hochoffiziell informiert, was für ein Biest ich nicht sei. Es gab ein fürchterliches Donnerwetter mit der Leiterin. Erst daheim legte mein Vater seine ernste Miene wieder ab, grinste und nannte mich von da ab nur mehr „Zornpinkerl“.
Kurz darauf war