Angsthase gegen Zahnarzt. Christine Jörg

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Название Angsthase gegen Zahnarzt
Автор произведения Christine Jörg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847605423



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er die Wagentür und kommt mir entgegen. Den Motor hat er nicht abgestellt. Er nimmt mich an den Schultern. Noch bevor ich es richtig wahrgenommen habe, drückt er mir einen Kuss auf die rechte und die linke Wange und setzt sich wieder ins Auto. Ich stehe noch ganz benommen und erstaunt auf der Straße, als er losfährt. Entgeistert und mechanisch hebe ich die Hand und winke ihm kurz nach. Vollkommen in Gedanken versunken schließe ich die Haustür auf und steige in den dritten Stock hinauf. Wie üblich ignoriere ich den Fahrstuhl.

      In meiner Wohnung angekommen, setze ich mich so wie ich bin, das heißt in Mantel und Schuhen in einen Sessel. Die Frage, die sich mir stellt, ist: Bin ich verrückt, oder ist er es, oder sind wir es beide? Auf jeden Fall verstehe ich die Welt und mich selbst nicht mehr. Was ist nur geschehen?

      Vor einem Jahr ungefähr habe ich die Drei-Zimmer-Wohnung mit großer Küche, Bad und getrenntem WC erstanden. Nun bin ich dabei mir ein heimeliges Nest einzurichten. Ich habe mich auf ein ruhiges Leben vorbereiten wollen, ohne Eindringen eines Fremden. Das soll nicht heißen, Männer bleiben aus dieser Welt ausgeschlossen. Nein, ganz und gar nicht! Nur alles Sentimentale in dieser Beziehung kommt nicht mehr in Frage. Es ist zu kompliziert

      *

      Meine Ehe mit Mustafa war glücklich und sein Tod war ein schwerer Schlag. Im ersten Augenblick fragte ich mich damals, ob es sich überhaupt lohnt ohne ihn weiterzuleben.

      Schließlich habe ich die Lebensfreude wieder gefunden. Das Leben in Istanbul war nach Mustafas Tod nicht immer einfach, aber dank seiner Familie hatte ich es geschafft. Das ging so lange gut, bis sie zu zudringlich wurden und mich unbedingt verheiraten wollten. Anschließend hatte ich alles verkauft, was wir in Istanbul besessen hatten. Das Geld schickte ich nach Deutschland. Ich kam nach München und kaufte mir später diese Wohnung.

      Meine Erinnerung an Mustafa ist verblasst gewesen. Alles was mich an ihn erinnert, hatte ich in Istanbul zurückgelassen. Nur ein kleines Bild bleibt mir von ihm. Es begleitet mich überall hin. Mein Talisman. Heute Abend wurde alles wieder in mir wach gerüttelt, als ob es gestern geschehen wäre. Ach, wäre dieser halbverrückte Zahnarzt mir doch nie begegnet.

      Nun sitze ich hier in meinem Sessel und habe das Gefühl, Mustafa ist bei mir. Die Vergangenheit ruft sich in Erinnerung. Alles, was ich so mühselig ausgelöscht hatte. Ich habe das Gefühl, Mustafa spricht mit mir. Seine weiche, leise Stimme. Eine Gänsehaut läuft über meinen Rücken. Nach sechs Jahren! Ich weiß doch, du lebst nicht mehr. Weshalb nur das alles? Und ich fange an zu weinen. Jeden Gedanken, den ich fasse um mich abzulenken macht es nur noch schlimmer.

      Dienstag, 3 November

      Wie lange ich heulend dagesessen habe, weiß ich nicht. Als ich aufwache, ist es draußen hell, im Wohnzimmer brennt das Licht und ich bin immer noch in Mantel und Schuhen. Es ist beinahe neun Uhr. Mühselig erhebe ich mich. Die Knochen, besonders der Rücken, schmerzen. Kein Wunder! Ich schlafe nicht alle Tage im Sessel.

      Zuerst gehe ich in mein Arbeitszimmer, hole Mustafas Foto hervor und schaue es an. Schon lange habe ich das Bild nicht mehr so eingehend betrachtet. Ja, Mustafa, es ist vorbei. Das ist das Einzige, was mir von dir bleibt.

      Nicht wieder Trübsal blasen! Ich gehe ins Badezimmer und lasse heißes Wasser in die Wanne fließen. Meine alten Knochen brauchen Entspannung.

      Während ich mich faul in der Badewanne lümmle, überlege ich mir welcher Tag heute ist. Ich hatte mir geschworen, dass kein Mann mehr in mein Leben eindringt. Gestern Abend habe ich mit diesem Schwur gebrochen. Das hat mich aus dem Konzept gebracht.

      Ich habe meinen Rhythmus verloren. Als ich aus der Badewanne steige, schaue ich auf die Zeitung von gestern. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Heute ist Dienstag. Erst morgen habe ich um neun Uhr Vorlesung. Ist auch besser, wenn ich meine geschwollenen Augen nicht ausführe. Jetzt im November glaubt einem niemand, wenn man von plötzlichem Heuschnupfen spricht. Ich werde zu Hause arbeiten. Mein Schreibtisch wird es mir danken.

      Gegen elf Uhr hole ich die Zeitung herein und werfe einen Blick hinein. Beim Veranstaltungskalender fällt mein Blick auf ein Gitarrenkonzert im Herkulessaal. Heute Abend werde ich Markus zu Hause anzurufen. So sieht mein Plan aus. Vielleicht hat er Lust mit ins Konzert zu gehen.

      *

      Schon ab sechs Uhr werde ich nervös und schaue ich alle fünf Minuten auf die Uhr. Gegen halb neun werde ich anrufen, nehme ich mir vor. Bis dahin vergeht die Zeit nur allzu langsam.

      Meine Übersetzungsarbeit schreitet mühselig voran. Die Konzentration und die Schmetterlinge im Bauch spielen mir einen Streich. In was lasse ich mich ein? Ich muss völlig durchgeknallt sein.

      Endlich! Halb neun! Wo ist die Visitenkarte? Ich bin über mich selbst überrascht. Sie fällt mir auf meinem überladenen Schreibtisch sofort in die Hände. Das muss das berühmte Schicksal sein, sage ich mir.

      Das erste Mal ist besetzt. Ich warte ein wenig. Dann wähle ich die Nummer neu. Vielleicht habe ich mich beim ersten Mal verwählt. Jetzt vernehme ich das Freizeichen. Doch ich höre Markus Stimme auf dem Anrufbeantworter. Während sie ihre Ansage herunterrasselt, überlege ich, ob ich auflegen oder mich zu erkennen geben soll. Noch bevor Markus Stimme zu Ende sprechen kann, lege ich auf. Das ist doch bestimmt auch Schicksal. Ich soll nicht anrufen. Schließlich entscheide ich mich für eine zweite Chance und drücke auf die Wahlwiederholung. Brav warte ich bis Markus seine Ansage beendet hat. Er soll meinen guten Willen erkennen und ich spiele ihm den Ball zu. Nun kann er sich bei mir melden oder auch nicht. Diese Lösung befriedigt mich.

      Ich spreche das Sätzchen, das ich mir selbstverständlich vorher zurechtgelegt habe: „Guten Abend, Markus. Hier spricht Angelika. Wollte nur hören ob es dir gut geht. Gute Nacht.“ Den Hinweis auf das Konzert unterlasse ich. Auch verzichte ich, ihn auf dem Handy anzurufen. Schließlich will ich mich nicht zu sehr aufdrängen und wer weiß wo und bei wem ich ihn gestört hätte.

      Was für eine bescheuerte Nachricht habe ich nur hinterlassen? Oder vielleicht doch nicht. Immerhin, neutraler kann man sie kaum halten. Und außerdem, Anrufbeantworter versetzen mich immer in Panik. Sie sind so anonym. Ein Bekannter spricht immer von einem Blechtoner, auch wenn die Geräte in der Regel aus Plastik und meist im Telefon integriert sind.

      Von nun an kann ich mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Entgegen meiner Angewohnheit schalte ich den Fernseher an und nehme mein Strickzeug zur Hand. Wann habe ich zum letzten Mal gestrickt? Egal! Bis elf Uhr hat Markus sich nicht gemeldet. Enttäuscht gehe ich zu Bett. Bis ein Uhr lese ich. Dann lösche ich das Licht. Erstaunlicherweise schlafe ich sofort ein.

      Mittwoch, 4. November

      Um halb sieben meldet sich der Wecker. Die Nacht war verdammt kurz.

      Mittwoch! Um neun Uhr beginnt die erste Vorlesung. Zum Glück stehe ich problemlos auf. So lange mir niemand in die Quere kommt bin ich auch kein Morgenmuffel. Aber wer soll mir in meiner Wohnung über den Weg laufen. Ich wohne alleine.

      Zuerst gehe ich ins Wohnzimmer und mache Morgengymnastik. Das hilft mir munter zu werden und meine Knochen und Muskeln auf den Tag einzustimmen. Im Sommer gehe ich lieber Joggen im Englischen Garten, aber jetzt ist es morgens dunkel und außerdem ist es mir zu kalt. Nur nichts übertreiben.

      Um sieben dusche ich ausgiebig. Anschließend packe ich Bücher, Laptop und Block zusammen. Eben alles, was ich für die Vorlesung benötige. Ist das erledigt, stelle ich die Milch in die Mikrowelle und hole meine Zeitung herein.

      Gerade beginne ich zu frühstücken, als das Telefon läutet. Wer ruft um diese Zeit an? Das bedeutete nichts Gutes! Das Verlangen nicht zu antworten ist groß, aber das Pflichtbewusstsein zwingt mich doch ans Telefon zu gehen.

      Hurtig stürze ich ins Arbeitszimmer und grabe das Telefon aus. Ein bisschen außer Atem sage ich:

      „Ja, bitte.“

      „Guten Morgen, Angelika. Ich habe hoffentlich nicht wieder eine Dummheit begangen? Habe ich dich geweckt?“

      Sofort erkenne ich die Stimme,