Das Klinikum. Emanuel Müller

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Название Das Klinikum
Автор произведения Emanuel Müller
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738009224



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      Meisters stieß die Tür auf und trat hindurch. Dahinter führte eine steile Treppe nach oben.

      Zuletzt war Rudolf eine enge Treppe hinaufgerannt und in einem kurzen Gang mit einer Tür und zwei Fenstern gelandet. Die Tür bekam er nicht auf, also schlug er kurzerhand mit der Faust eine der Glasscheiben ein. Dass er sich dabei die Hand aufschnitt und ihm das Blut den Arm hinunterlief, bemerkte er nicht. Nachdem er das komplette Glas aus dem Rahmen gebrochen hatte, kletterte er hindurch. Man konnte bereits hören, wie die Stasi-Beamten die Treppe heraufkamen, um ihn wieder zu verhaften.

      Kaum war Rudolf draußen, hatte ihn der Eisregen durchnässt. Trotz des dünnen Krankenhausnachthemds und den fehlenden Schuhen spürte er jedoch keinerlei Kälte.

      Hinter dem Fenster fiel er zu Boden und schlug hart auf dem Asphalt auf. Mühevoll kam er auf die Beine und sah sich um. Er schien auf einem Vorplatz vor einer Baracke zu stehen. Nichts wie weg! Doch nach ein paar Schritten glitt er aus und stürzte. Warum war der Erdboden bloß so glitschig?

      Tom schaute zu, wie Lutz Meisters das zerstörte Fenster öffnete und hindurch kletterte. Zögernd folgte er ihm. Draußen regnete es in Strömen, die eiskalten Tropfen durchnässten ihn schnell. Morgen hatte er dann wahrscheinlich eine fette Erkältung.

      Sie standen auf einem verlassenen Parkplatz. In der Ferne sahen sie das flatternde Weiß eines Krankenhausnachthemdes im Patientenpark verschwinden. Während der Wachmann wieder zur Verfolgung ansetzte, prüfte Tom noch, wie er sich fortbewegen konnte, ohne auszurutschen. In einiger Entfernung erkannte er die Ruinen der ursprünglichen Klinikgebäude, welche laut Monikas Erzählungen seit über 30 Jahren leer standen. Herr Jungk schien direkt in die Richtung dieser Gebäudeansammlung zu rennen. Verdammt, fror der Mann nicht? Immerhin schützte ihn nur ein Krankenhausnachthemd vor dem Wetter! Tom jedenfalls fühlte sich bereits steif vor Kälte, denn er trug nur einen kurzärmligen Kasack und dünne Gummischuhe.

      Mit den besagten Schuhen rutschte er jetzt aus und schlug der Länge nach hin. Schnell rappelte er sich wieder auf. Dreckspritzer bedeckten die weiße Kleidung.

      Jungk und Meisters waren verschwunden. Na toll. Eine Weile stand er unschlüssig herum. Vielleicht sollte er einfach zur Station zurückgehen? Immerhin war es nicht seine Aufgabe, hier einen verrückten Patienten quer durch die Pampa zu verfolgen. Dafür gab es den Sicherheitsdienst. Er wandte sich Richtung Haupteingang.

      Allerdings konnte der Wachmann ihm kein Tavor spritzen, wenn er ihn zu fassen bekam. Wie wollte er denn den wildgewordenen und schwerkranken Mann ins Krankenhaus zurückbekommen, ohne ihn zu verletzen? So ein Mist aber auch! Tom zögerte. Der Regen begann, in seinen Haaren zu gefrieren.

      Unschlüssig kehrte er um und näherte sich der Ansammlung leerstehender Gebäude. Es handelte sich um riesige, mehrflügelige, villenartige Gemäuer. 3 – 4 Stockwerke mit teilweise zerbrochenen Fensterscheiben blickten düster auf ihn hinab. Kohlrabenschwarze Finsternis herrschte darin.

      Im Schein der Solarlampen des Patientenparks nahm er die Fassaden der Häuser und den liebevoll verzierten Putz wahr. Der Stuck hatte sicher einmal sehr schön ausgesehen, bevor alles anfing, zu zerbröckeln. So würde man heute nie im Leben ein Krankenhaus bauen! Kleine Erker und Türmchen krönten die Dächer der Anlage. Um die Außenmauern liefen breite Veranden mit wuchtigen, marmornen Säulen.

      Das waren keine alten Klinikgebäude, das war ein verdammtes Spukschloss!

      Jetzt sah er in den Fenstern des nächsten Gebäudes ein Licht aufblitzen. Das musste die Taschenlampe des Wachmannes sein. Der hatte doch Herr Jungk nicht etwa bis in die Ruine verfolgt? Naja, da drin war es wenigstens trocken.

      Unter einem Vordach über einer breiten Treppe lag der Haupteingang des Hauses, gesäumt von zwei bulligen Säulen. Eine große, zweiflügelige Holztür, kunstvoll geschnitzt, stand sperrangelweit offen. An einem nachträglich angeschraubten Riegel hing ein massives Vorhängeschloss.

      Tom stutzte. Wer hatte das Schloss aufgebrochen? Der Patient wohl kaum, der konnte clever, verrückt und stark sein, wie er wollte, ohne Werkzeug war dieses solide Vorhängeschloss unmöglich zu knacken. Lutz Meisters hatte es sicher auch nicht getan, denn der verfolgte ja Herr Jungk. Demzufolge musste die Tür schon offengestanden haben und der alte Mann war bei seiner Flucht einfach in das Gebäude geschlüpft.

      Außer Atem erklomm er die Stufen und sah durch die Eingangstür. Undurchdringliche Dunkelheit. Er hatte keine Taschenlampe dabei, daher stand er unschlüssig in der aufgebrochenen Tür. Außer dem trommelnden Regen auf dem Vordach waren keine Geräusche zu hören. Vorsichtig wagte er sich zwei Schritte in das Dunkel der Ruine. Als seine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, erblickte er eine ausladende Freitreppe innerhalb einer geräumigen Eingangshalle. Fenster neben und über der Tür ließen ein bisschen Licht von den Solarlampen auf dem Krankenhausgelände herein, doch er erkannte kaum etwas. Misstrauisch kam er näher und sah sich um. Dass er aus einer dunklen Ecke hinter der Eingangtür beobachtet wurde, merkte er nicht. Der schlanke Mann mit den schwarzen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren verschmolz durch seine schwarze Kleidung völlig mit der Umgebung.

      Als oben auf der Freitreppe plötzlich eine weiße Gestalt auftauchte, hätte Tom fast aufgeschrien. Dann wurde ihm klar, dass er kein Gespenst sah, sondern Rudolf Jungk in seinem Krankenhausnachthemd. Er lief über eine Galerie am oberen Ende des Aufgangs. Als Tom hinaufhastete, stolperte er im Dunkeln über eine zerbröckelte Marmorstufe und schlug der Länge nach hin. Die Kanten der Stufen drückten ihm die Luft aus den Lungen.

      Nachdem er sich keuchend aufgerappelt hatte, war der Patient weg. Natürlich ... Aber er musste in den Durchgang mit dem Bogen gehuscht sein, rechts von der Treppe. Mit schmerzendem Brustkorb eilte Tom die letzten Stufen hinauf und spähte hindurch. Vor ihm lag ein langer Flur. Auf der rechten Seite fiel durch zerbrochene Fenster ein dünner Lichtschein hinein, links ließ eine Reihe offenstehender Türen den Blick in nachtschwarze Räume fallen. Herrn Jungk konnte er nirgends entdecken. Langsam schlich er zum ersten Zimmer, doch darin herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Es gab keine Lampen auf der Rückseite des Gebäudes, darum drang durch die Zimmerfenster auch kein Licht herein.

      Ob der alte Mann da drin war?

      Trotz der Kälte lief ihm der Schweiß in Strömen herab. Vielleicht auch das Regenwasser, das aus seinen Haaren tropfte. Oder beides ...

      Ein würgendes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Es kam aus dem nächsten Zimmer. Schnell rannte er hinüber und spähte vorsichtig durch den Türrahmen. Hinter ihm durchschnitt ein Taschenlampenstrahl die Finsternis. »Ah, Herr Pfleger! Haben Sie ihn?« Meisters war heraufgekommen und trat hinter Tom. Dieser deutete wortlos auf den schwarzen Türrahmen. Sie hörten ein erneutes Würgen und einen platschenden Laut. Ihm lief eine Gänsehaut über den Rücken.

      Der Wachmann richtete den Strahl der Taschenlampe in den dunklen Raum und riss sogleich entsetzt die Augen auf. Tom erstarrte. Für einen Augenblick schien sein Herz auszusetzen.

      Blut. Überall Blut. Das registrierte er als Erstes. Eine riesige Lache mitten im Zimmer. Im Schein der Lampe sah sie fast schwarz aus. Darin kniete Herr Jungk und sah sie mit schreckgeweiteten Augen an. Das weiße Krankenhausnachthemd glänzte jetzt blutrot. Todesangst lag in seinem Blick. Er krümmte sich und erbrach einen weiteren Schwall Blut. Es schienen Liter zu sein.

      Oh Gott, dachte Tom. Bitte nicht ... Bitte nicht ... die Ösophagusvarizen ...

      Der Mann würgte weiter und erbrach immer mehr. Die Lache der dunkelroten Flüssigkeit wurde größer. Lutz Meisters stand schreckensstarr im Türrahmen. Tom löste sich aus seiner Bestürzung und stieß ihn an. »Nun rufen Sie schon Hilfe, Sie Idiot!«

      Der Wachmann blinzelte kurz und zog dann das Walkie-Talkie. »Meisters an Zentrale! Wir haben den stationsflüchtigen Patienten ins erste Ruinengebäude verfolgt. Er äh ... kotzt Blut ...«

      »Warum macht der denn sowas?«, knarzte die Antwort.

      Verärgert riss Tom ihm das Funkgerät aus der Hand und rief hinein: »Er hat eine Ösophagusvarizenblutung! Wir brauchen ein Notfallteam für eine sofortige Blutungsstillung! Sofort!«

      Er