eine forsche Soldatin für Gerechtigkeit. Madame Brunou marschiert ohne Umschweife an ihren Schreibtisch, greift zum Telefon und wählt die Nummer der Polizei. „Brunou hier, Einsatz, sofort!“ Der übliche Fall, konstatiert Mademoiselle Brunou. Kein Kind der Liebe. Ein Kind der Beihilfe. Herzlos behandelt wie der letzte Dreck. „Wir werden dir beistehen, mein Kind!“ / Katy staunt Bauklötze, so läuft das also. Ab jetzt rollt ein Programm, dem sich Katy ohne Wenn und Aber zu fügen hat. Selbst eingebrockt. Zwei Bullen treffen ein. Katy muss in das Polizeiauto einsteigen. Dann ab nach Hause. Katy zittert am ganzen Körper vor Angst. Der Alte dreht sie durch den Wolf, wenn die beiden Bullen nicht gegen ihn ankommen. „Öffnen Sie die Türe, Polizei!“ Nicht schwer zu erraten, was drinnen abgeht. Erst hört man die Schritte des Vaters. Dann die Schranktür. Jetzt holt er den Karabiner raus. Dann die Wackeltritte der Mutter. Die Türe wird hastig aufgerissen, mitten in ihrem hektischen Aufschrei: „Bitte, meine Herren, retten Sie mich. Mein Mann dreht durch...“ entdeckt die Mutter Katy. „Was soll das denn werden? Schau sich einer die kleine Henne an. Hetzt uns die Bullen auf den Hals.“ „Pack’ deine Sachen!“, die Polizisten machen Katy Zeichen, dass sie voran machen soll. Gleichzeitig stürmen sie mit gezogenen Knarren auf den Vater Ben Ali zu: „Her mit dem Gewehr, Gesicht zur Wand! Schritt zurück!“, brüllt der eine. „Beine auseinander!“, brüllt der andere. Katy rast kopflos durch die Wohnung. Sie krallt sich einen leeren Karton unter dem Bett der Eltern, wirft ihre zwei, drei Klamotten hinein und kommt wieder zur Tür: „Fertig!“ Die beiden Polizisten versichern sich noch mal, dass der Ben Ali kein Messer oder so am Körper versteckt hält. Da flüstert die Mutter ihrer Tochter ins Ohr. „Du kleines Biest, du willst also abhauen. Du kannst doch nur Nutte werden, dass ist dir klar, oder?“ „Na und!“, schreit Katy und rast mit den beiden Bullen zum Auto. Dann wird sie eben Nutte. Brasil-Kacke. Schlechter als es ist, kann es nicht werden. /// Dass der Pier mit der gigantischen Rostlaube in Le Havre „Kai des Vergessens“ genannt wird, erscheint wie eine Bestätigung für Katys Ausbruch. Für ihre Flucht vor dem Verkommen, Verrotten, Verrohen. Alles hinter sich lassen. Alles vergessen. Ein neues Leben. Katy wird in einem eigenen, kleinen Appartement mit zwei anderen Mädchen im Mädchenwohnheim „Die Algen“ untergebracht. Als sie an ihrem ersten Abend nach dem Essen in der Kantine todmüde schlafen geht, findet Katy ein frisches Leintuch, einen Kopfkissenbezug, eine Zudecke und zwei frische Handtücher auf ihrem Bett. Drei Betten, dreimal die gleiche Garnitur. Jedes Mädchen hat ihr eigenes Zeug, plus Schrankfach. Die Betten der beiden Nachbarinnen sind nicht gemacht, aber das ist Katy so was von schnuppe. Wenn nichts Schlimmeres kommt. Wie die wohl drauf sind, die beiden anderen? Keine zuhause. Zwei Mädels, schon mal gut. Und kein Bruder weit und breit. An die Zimmertüre ist ein Din A4-Blatt mit Regeln und Pflichten für die Bewohnerinnen getackert. Wer unter sechzehn ist hat bis 22 Uhr Ausgang. Ab sechzehn bis 24 Uhr. Ab achtzehn unbegrenzt. Keine Herrenbesuche. Rauchverbot und so weiter. He Leute, Katy kann es echt kaum glauben. Katy ist überwältigt. Sie fühlt sich wie eine Prinzessin. Sie ist in Sicherheit. Niemand wird sie beim schlafen stören. Niemand wird sie schlagen. Niemand wird sie daran hindern sich zu waschen. In der Dusche steht eine dritte Zahnbürste für Katy, die erste ihres Lebens. Und falls jemand zufällig wissen möchte, ob sie traurig ist wegen der Familie und so, nicht die Bohne, niente. Wer aus der Hölle kommt, wird im Paradies nicht heulen oder? Und was ist schon groß zu tun? Frühstück und Abendessen kommen vom Heim. Essen und Trinken für zwischendurch organisieren die Mädchen selbst. Konserven, Nudeln und so besorgen sie sich von ihrem wöchentlichen Taschengeld. Schmu ist nicht drin. Alles wird abgerechnet. Den schulpflichtigen Mädchen ist klar, dass sie echt Schwein haben, weil sie aus ihren beknackten Lebensverhältnissen herausgeholt wurden. Da muss man die Heimleitung nicht verscheißern. Jedenfalls nicht wegen Essen. Und die Älteren, die Arbeiterinnen, die haben ihre eigene Kohle. Allerdings dürfen die nicht bis in alle Ewigkeit im Wohnheim bleiben. Kommt drauf an, wie viel Platz für Sozialfälle benötigt wird. / Noch so n Wunder. Nach den ersten Tagen bekriegt sich Katy soweit, dass sie zur Schule gehen kann. Sieht übel aus mit ihren Leistungen. Das weiß sie selber, das braucht ihr keiner sagen. Ob sie auf die CM1 zurück muss? Bis zum Ende des Schuljahres ist nicht klar ob sie noch mal eine Ehrenrunde dreht oder nicht. Sie hat enorme Lernschwierigkeiten. Kann nie etwas wirklich zu Ende bringen. Versteht von Allem nur die Hälfte. Katy kann so la-la schreiben, aber sie schreibt alles zusammen. Sie bildet Wortungetüme über mehrere Zeilen, ohne Unterbrechung, alle Worte aneinander geklebt. Sie hat einfach keinen Schimmer, wie das richtig geht. Zu wenige Schulstunden, niemals Hausaufgaben. Verdammter Besendienst zuhause! Nicht so optimal gelaufen bisher, oh nein. / Katy lebt sich in kurzer Zeit gut ein. Und es dauert nicht lange, bis Katy die Abläufe im Mädchenwohnheim blickt. Katy lacht sich einen Ast, auf eine bekloppte Weise zieht sie die Irren dieser Welt an. Wie Charly, ihren Erzieher. Ein Oberirrer, Grasraucher von Gottes Gnaden, entspannt und immer super drauf. Er hat seine ganze Jugend in Heimen zugebracht. Jetzt arbeitet er im Sozialen. Freiwillig lebenslänglich. Charly weiß Bescheid und mimt nicht den zart besaiteten Sozialfuzzy. Er tut, was zu tun ist. Darüber hinaus amüsiert er sich. Cooler Hippie. Mit seinem Schnauzbart und den schulterlangen Haaren, ein Ass. Er fährt die Mädchenklicken mit seiner grasgrünen Ente zur Schule. Er achtet auch darauf, dass die Mädels genug essen und trinken. Er hat so gut wie immer eine große Coca unter dem Beifahrersitz. Krass, wenn sich Charly beim Autofahren einhändig einen Joint dreht und mit der anderen Hand lenkt. Quietsch, da muss die Ente manch einen Schlenker mitmachen. Und die Mädchen drehen durch und kreischen wie die Wilden: „Hilfe, wir bauen noch einen Unfall! Zu Hilfe, zu Hilfe!“ Nicht doch, keine Bange. Alles im Griff! Einen von Charlys Sprüchen, dass Gras die Nerven beruhigt, finden die Mädels besonders geil. Und weil Charly ihnen das Gras rauchen erlaubt, steht er bei allen hoch im Kurs. Allen voran bei Katy. Toller Typ, ihr Charly! Aber er ermahnt auch, wenn es nötig ist: „Hasch ist viel gesünder als Nikotin. Katy und ihr Mädels, ihr seit noch Teenies, vergesst das nicht! Achtet auf eure Gesundheit!“ / Katy startet wachsam und mit einem Wahnsinnsmut in ihre neue Zukunft. „Wenn sie dich an der Basis kaputt gemacht haben - das kannst du nie mehr reparieren, meint Charly. „Aber du kannst dir ein neues Leben um das alte drum herum häkeln. Das kannst du, Katy, mach das!“ Und als Katy sogar in die CM2 versetzt wird, man glaubt es nicht, da keimt ein Körnchen Hoffnung in ihr auf. Und Katy hört drauf. Sie nennt das von nun an ihre innere, kleine Katy. Ihre Gefühls-Katy. Ihre innere Stimme. Ihre Rettung.