Название | Selfie |
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Автор произведения | Justine la Mour |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847614517 |
Die Nächte mit einem liebevoll gelangweilten Mann gegen die mit einem rasanten Quertreiber, am Ende sind sie gleich, wirbeln durcheinander wie Schneeflocken, verschiedene Farben auf einem sich immer schneller drehenden Karussel, dessen Stillstand sie schon lange herbeisehnt. Silencio! Eine Frage verfolgt sie an diesem Tag und alle weiteren Tage, eine Frage, die bleiben wird. Sie hört sie schon bevor sie ausgesprochen wird, hört sie in ihrem inneren Ohr, lange vorher. Warum haben wir den Papa umgetauscht? Er hat doch zu uns gepasst. Ich weiß es nicht mehr. Justine braucht lange, um diese Wahrheit zu finden, erst viele Jahre später dringt sie zu ihr vor, springt sie an, plötzliche Erkenntnis. Jetzt bin ich da, sagt die Wahrheit, jetzt endlich. Einmal angeordnet ist es schwer, das Leben wieder in andere Fugen zu bringen, fugenlos kann es nicht bestehen. Ist es aus den Fugen muss man sich eine andere Strategie einfallen lassen, die Reset-Taste drücken und sich als eine andere erfinden. Zusammenreißen, sich zusammenreißen, nicht aufgeben. Think pink, positiv denken.
Sie können die vielen Einkaufstaschen kaum tragen, in mehreren Anläufen werden sie aus dem Aufzug in die Wohnung geschleppt. Kann ich euch helfen? fragt ein blasser Mann, der die Tür öffnet, ein Fremder, der in dieser Wohnung ab morgen nichts mehr zu suchen hat, der heute schon hätte fort sein sollen. Der namenlose Vater ihres Kindes, noch nicht ganz ausgezogen, aber auch nicht mehr anwesend wie ein Traumwandler schleicht er mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei und trägt die riesigen Kartons und Taschen ins Wohnzimmer. Als er am nächsten Morgen die Wohnungstür hinter sich zuzieht hört sie ein leises Knacken im Schloss im Moment als ihr Leonardo einen Kuss gibt.
Nachts darauf träumt sie einen bizarren Auszugstraum, im Schnellvorlauf rasen Bilder an ihr vorbei, Momente des vergangenen Tages, Blicke, Gesten, Worte rauschen vorüber, Umzugskartons mit dunkelblauem Schriftzug schleifen über das Parkett, passieren die Türschwelle, Männerköpfe richten sich auf und prallen fast gegeneinander, himmelblaue Augen stoßen auf dunkelbraune. Schreit da ein Mädchen, weint jemand leise oder bildet sie sich das ein? Ist es nicht eher ein silberhelles Lachen der Erleichterung, das in allen Gesichtern steht? Da weckt sie Charlotte, eine heißdampfende zitternde nasse Charlotte in einem weißen Rüschennachthemd, das an ihrem Körper klebt. Eine Stimme in ihr meldet sich zu Wort, will Frieden stiften: Jeder Anfang ist schwer, jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, jeder Zauber ist schwer. Sie umarmt ihre Tochter, trägt sie nach unten, wäscht sie, zieht sie um, bringt sie ins Bett. All das geschieht wie in einem Clip, kaum kann sie begreifen wie die einzelnen Bilder aneinanderhängen so schnell rasen sie vorüber. Sie steigt die Treppe hinauf und liegt wach, der Mond wirft fahle gelbliche Strahlen ins Zimmer, Leonardos schwarze Locken liegen drapiert wie eine Perücke über dem Kopfkissen. Bis in die frühen Morgenstunden betrachtet sie die Schatten an den Wänden, wie sie tanzen, wie sie sich vermischen und wieder auseinanderstreben, zuletzt fallen ihre Augen zu und verzaubern sie mit Träumen, Träume, in einen Traum gebettet.
Leonardo
Wie lange lebt er schon in dieser Gegenwart? Monate, Jahre, Jahrzehnte? Sein Blick schweift durch die Fenstergauben über die Dachterrasse in den Garten. Blühen die Bäume, sind die Äste verschneit, liegt Blütenstaub über dem Rasen? Auch die Geräusche verändern sich im Lauf der Jahreszeiten, schwellen an oder klingen ab, hell oder dunkel passen sie sich den Temperaturen an. Nach dem Frühstück beginnt er einzutauchen in sein Leben, in sein Schreiben, in die Figuren und die Handlung, die sie umhertreibt. Seit er bei Justine und Charlotte lebt versucht er seinen Rhythmus beizubehalten, was schwerfällt, ständig wirft ihn wieder etwas aus dem Fluss des Schreibens, ein Telefonat, ein Klingeln an der Tür, ein Gedanke an Einkauf, Post oder Bankgeschäfte. Wie frei das Leben ohne Familie war, wie leicht, wie anders trotz bellender Hunde im Hof, streunender Katzen, überfüllter Müllsäcke und dem Geruch angebrannter Speisen aus den Hausfluren. Ein Schweben der Tage, eine Einheit, nur zersetzt von gelegentlichen Ausfällen an Ideen oder Fantasien, die später nicht zu gebrauchen waren. Selbst das Kreischen von Kinderstimmen, das überlaute Dröhnen von Stereoanlagen oder die Streitereien und das Toben von Stimmen über ihm, unter ihm, neben ihm, das durch die Wände drang, war nicht so aufdringlich wie die Verpflichtungen, die Zwänge der Familiengegenwart. Seit er hier lebt, hat sich seine Welt verrückt, rückt jeden Tag ein stückweit ab von ihm, andere Wichtigkeiten drängen, fallen ihn an, belästigen ihn. Einkaufen, waschen, bügeln, putzen, organisieren statt schreiben, sinnieren und fließen lassen von Worten. Nicht das Schreiben muss unterbrochen werden von Alltäglichkeiten, die Alltäglichkeiten werden unterbrochen von seinen verzweifelten Versuchen zu schreiben. Einmal einen Gedanken zu Ende denken, einmal eine Figur abschweifen lassen, einmal ein Konzept entwerfen und verwerfen. Früher Schreibkrisen, heute keine Zeit mehr, Krisen liegen tief unten in ihm verborgen, Kellerleichen, die erst einmal wiederbelebt werden müssen. Realität häuft sich an in Bildern, Floskeln, Plattitüden wie übereinandergeschichtete Gewitterwolken, es kracht und blitzt, der Himmel taut den Alltag auf, Wolken regnen ihn herab.
Er fängt Realitätstropfen auf und schüttelt sie ab. Das Schreiben, das einzig Mögliche, die Realität unaushaltbar, das Schreiben, einzige aushaltbare Realität. Etwas staut sich auf sobald er einige Tage lang nichts notieren kann. Das Gefühl, zu explodieren, in Einzelteilen durch die Luft zu fliegen, sich zu entladen, Fleischklumpen, Fetzen, Körperteile durch die Welt zu schleudern anstelle von Worten, Sätzen, Geschichten. Ein Hass umgibt ihn, er weiß nicht einmal worauf, schon als Kind war es so, entweder schreiben oder leiden, er entschied sich für das Schreiben, jetzt muss er sich wieder entscheiden, jeden Tag, immer wieder. Kein Leben ohne Schreiben, kein Schreiben ohne Leben. Er lehnt sich zurück, ein zufriedenes Lächeln umspielt seinen Mund, er greift nach einer kubanischen Zigarre und zündet sie an. In diesen Momenten ist er bei sich, tief versunken in seine Schreibwelt. Wie der Neid der Nichtkünstler sich auf Justines Gesicht zusammenballt, sie reibt ihre Augen, Fältchen ziehen sich über ihre dünne Haut. Sie sind ersetzbar, sie währen nicht ewig, sie werden vergehen wie Traumgesichte, Justine und Charlotte und all die anderen, mit denen er sein Leben verbracht hat und noch verbringen wird, ihre Konturen werden sich im Rauch auflösen bis sie zuletzt völlig verschwinden. Ihre Wiederauferstehung in Figuren, in Texten wird die einzige Erinnerung sein. Verdichtet wird er sie wieder lieben können, ihnen den Zauber des Anfangs zurückgeben, vielleicht, eines Tages, vielleicht. Sein Schreibrausch währt ewig, sein Liebesrausch nicht. Sein Testosteronspiegel schwankt, er wird älter, schon vergisst er die eine, die andere, alle. Je drängender die Pflicht, umso geringer die Lust. Der Gedanke eine andere Frau zu treffen, sich wieder einzulassen auf das Spiel missfällt ihm noch mehr, strengt ihn an, die Sucht nach dem Genuss, so rasch schal. Sein scheintoter Körper, der nur beim Schreiben zum Leben erweckt wird, zerfällt mehr und mehr in immer kürzeren Zeitabschnitten. Manchmal betrachtet er sein Gesicht im Spiegel nach dem Zusammensein mit Justine, die Augen glänzen als wäre er verliebt, und doch war es eher ein Liebe