Die Blutsippe. Mona Gold

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Название Die Blutsippe
Автор произведения Mona Gold
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847688396



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den tiefen dunklen Wald gelaufen war, als sie vor sich die Umrisse einer Mauer wahrnahm. Nach einigen weiteren Schritten lichtete sich der Wald und gab den Blick frei auf eine große Mauer und einen Burggraben. „Das ist die Ritterburg Ihrer Tante, von der Ihnen ja nun die Hälfte gehört, wie Sie mir eben so vertrauensselig erzählt haben.“ Anna zog überrascht die Augenbrauen hoch. Sie sollte diesem Mann von ihrem Erbe nach dem Tod ihrer Mutter erzählt haben? Eigenartig, das wusste sie gar nicht mehr… Überhaupt hatte sie keine Erinnerung an ihren Weg durch den Wald mit diesem jungen fremden Mann. Wie war das nur möglich? Überhaupt! Wieso sollte sie diesem Fremden etwas so Privates erzählt haben, etwas, das sie sonst nur ihrer engsten Freundin in Berlin anvertraut hatte? Verstört blickte sie ihren Begleiter an. Er war nicht nur gutaussehend, sondern hatte auch eine äußerst anziehende Ausstrahlung. Anna hatte das Gefühl, sich gar nicht satt sehen zu können. Je länger sie in die Augen dieses Unbekannten sah, desto mehr schien sie sich darin zu verlieren.

      Leo von Schwarzenmoor hatte die junge Frau zur Ritterburg gebracht. Nun standen sie sich dicht gegenüber und waren sich näher als für einen normalen Abschied nötig war. Eigentlich sollte er sich jetzt zurückziehen, sich höflich verabschieden und seiner Wege gehen. Aber irgendetwas faszinierte ihn an dieser jungen Frau. Waren es die großen braunen Augen oder die welligen langen Haare? Sie hatte etwas an sich, das ihn magisch anzog. Vielleicht sollte er… Normalerweise nutzte er seine Fähigkeiten nicht für derlei Spiele, aber dieses Mal könnte er ja eine Ausnahme machen. Er konzentrierte sich auf sie, ließ ihren Geist und ihr Bewusstsein zu Wachs in seinen Händen werden. Ihr Blick wurde abwesend, jetzt, jetzt würde sie sich an nichts mehr erinnern. Langsam und voller Vorfreude ließ er seine Lippen auf ihre sinken. Er küsste sie lange und intensiv, als plötzlich ein lautes und bedrohliches Heulen ertönte. Erschreckt fuhr er hoch. Wie hatte er nur so naiv sein können? Der Wolf vorhin im Wald war zu groß, zu kräftig für einen normalen Wolf. Auch waren seine Augen zu wissend, zu verstehend! Nein, das war kein normaler Wolf! Wieso war er nicht eher darauf gekommen? Erst vor wenigen Tagen war die junge Frau aus dem Dorf tot im Wald gefunden worden. Er musste sich um diesen vermeintlichen Wolf kümmern, vielleicht seine Fährte aufnehmen und mehr über ihn herausfinden… Aber zuerst musste er Anna in Sicherheit bringen. Ruckartig griff er sie bei den Schultern, drehte sie herum und führte sie mit schnellen Schritten Richtung Ritterburg, über die Hängebrücke und durch das Tor.

      Fast taghelles Licht empfing Anna und Leo als sie in den Hof traten. Noch vor dem Burggraben hatten sie hektische Stimmen vernehmen können. Alles schien in heller Aufregung zu sein, sämtliche Laternen im Hofinneren waren erleuchtet. „Leo! Dass du da bist!“ Eine große hagere Frau stürmte auf den jungen Mann zu und umarmte ihn überschwänglich. Leo war also sein Name. Wenigstens wusste Anna nun seinen Vornamen. Nachdem sie ihm offenbar ganz leutselig weiß Gott was von sich erzählt hatte. Nach dieser überschwänglichen Begrüßung wandte sich die Frau Anna zu. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte sie Anna von Kopf bis Fuß. „Und Sie sind?“ Noch bevor Anna antworten konnte, drehte sie sich wieder zu Leo um. „Du kennst die Regeln!“ Einen letzten vernichtenden Blick auf Anna werfend wandte sie sich zum Gehen. Anna blickte ihr nach, sah wie sie sich galant wie eine Katze davon machte. Ihre langen schwarzen Locken wehten leicht im Wind hin und her.

      „Wer war das?“ Leo lachte leise. „Das war meine kleine Schwester. Aber keine Sorge, sie meint es nicht so.“ - „Das hörte sich für mich aber ganz anders an! Was hat sie gemeint, als sie sagte „Du kennst die Regeln!“?“ Anna, die sich immer noch bei Leo untergehakt hatte, spürte wie sich bei dieser Frage dessen ganzer Körper anspannte. Fragend schaute sie ihren Begleiter an. Der wich ihrem Blick aus und deutete stattdessen mit einem Kopfnicken auf einen dunkel gekleideten Mann, der geschäftig im Hofinneren umher flitzte. „Ach nichts! Aber kommen Sie! Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.“ Ehe sie sich versah, fühlte Anna sich mitgezogen. „Johann! Johann warte mal!“

      Ein Stück weit entfernt blieb der Mann fortgeschrittenen Alters stehen und drehte sich suchend um. Er war von großer kräftiger Statur, hatte schütteres dunkles Haar und stechende dunkle, fast schwarze Augen, die nun auf Anna ruhten und bis in ihre Seele vorzudringen schienen. Jedenfalls kam es ihr so vor, als der Mann mit schnellen Schritten auf sie zukam. Er hatte grobe Gesichtszüge und war weder besonders hübsch noch direkt hässlich. Mit kritisch zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete er nun abwechselnd Anna und Leo, eine altertümliche Öllampe hielt er dabei in die Höhe. „Johann? Darf ich dir die neue Miteigentümerin von Burg Rittertal vorstellen? Das ist Anna. Anna Wolfstöter.“ Bei diesen Worten fuhr sie regelrecht zusammen. Er wusste ja auch ihren Nachnamen! Wo war sie nur mit ihren Gedanken gewesen, als sie mit diesem jungen, wildfremden Mann so einfach im Wald umher gelaufen war? Noch immer hatte sie keinerlei Erinnerung an diese Zeit. Wie lange waren sie zusammen unterwegs gewesen? Eine halbe Stunde? Zwanzig Minuten? Sie wusste rein gar nichts mehr. Es war als ob sie einen Filmriss hatte.

      Die Stimme des Mannes, der offenbar Johann hieß, riss sie aus ihren Gedanken. „So, so. Ihnen gehört also zur Hälfte Burg Rittertal. Wenn Sie Glück oder Pech haben, wie man es nimmt, werden Sie vielleicht bald alleinige Eigentümerin sein. Die Kutsche Ihrer Tante ist ohne sie zurückgekommen. Das Pferd schien um sein Leben gerannt zu sein, es war völlig außer sich, als es hier im Hof ankam. Ihre Tante war aufgebrochen, um Sie vom Bahnhof abzuholen. Ich vermute, sie ist dort nie angekommen.“ Anna schüttelte den Kopf. Deshalb war also niemand am Bahnhof um sie abzuholen. Ihrer Tante musste unterwegs irgendetwas zugestoßen sein. Das war eigenartig. Sofort kamen ihr Erinnerungen an den Brief ihrer Mutter in den Sinn und dem düsteren Familiengeheimnis, von dem darin berichtet wurde.

      „Weiß man schon Näheres?“ - „Nein, aber ich habe bereits die Polizei verständigt. Sie werden morgen früh jemanden vorbeischicken, der sich der Sache annimmt. Wir sollen die Kutsche möglichst so lassen und nichts verändern. Wegen der Beweise und Hinweisspuren und so. Nur das Pferd durften wir versorgen. Ich bin übrigens Johann. Johann Seidler. Aber sagen Sie ruhig Johann zu mir. Das machen hier alle. Bei all dem Trubel wurden nur Sie mir vorgestellt, aber ich nicht Ihnen. Wir wollen doch unsere guten Manieren nicht vergessen, nicht wahr Leo?“ Mit einem schrägen Grinsen reichte er Anna seine grobe, ausgearbeitete Hand und schüttelte sie kräftig. Leo legte er dabei lässig die andere Hand auf die Schulter. Offenbar waren hier alle sehr vertraut miteinander. „Ich werde Alma zu Ihnen schicken. Das ist sozusagen die gute Seele dieses Hauses. Hausdame oder Haushälterin heißt das wohl offiziell. Sie wird Ihnen ein Zimmer für die Nacht zuweisen. Vielleicht wollen Sie auch noch etwas essen. Es war eigentlich alles vorbereitet. Ihre Tante hatte ein wunderbares Willkommensessen für Sie zubereiten lassen. Uns anderen hat es nun jedoch gründlich den Appetit verschlagen. Aber vielleicht sind Sie ja noch hungrig von der Reise. Alma wird sich auch darum kümmern.“

      Er wandte sich bereits zum Gehen, als Anna irritiert aufsah. „Welche Anderen?“ - „Oh, zusammen mit Ihrer Tante leben hier noch zwei Hausmädchen, zwei Knechte, ein Lehrmädchen, natürlich Alma, die Haushälterin und meine Wenigkeit. Ich bin hier übrigens der Burgverwalter. Die Knechte gehen mir zur Hand, während sich die beiden Hausmädchen zusammen mit Alma um den Haushalt und die Hotelgäste kümmern. Das Lehrmädchen hilft Ihrer Tante in ihrem Antiquitätenhandel. Wir alle bewohnen den Westflügel, den kleinsten Teil des Anwesens. Der Südflügel steht leer, im Nordflügel befindet sich das Antiquitätengeschäft Ihrer Tante sowie ein Hotel, das die Gäste beherbergt, die zum Besuch des Antikmarkts von weit her anreisen. Der Antikmarkt ist übrigens einer der bedeutendsten weltweit und findet von Oktober bis Mai im Nordflügel statt. Im Ostflügels überwintert alljährlich eine alte Händlerdynastie. Einen ihrer Sprösslinge haben Sie ja schon kennengelernt“ , sagte er, deutete mit einem Kopfnicken auf Leo und ging eiligen Schrittes davon.

      Fragend drehte sich Anna zu Leo um. „Recht kurz angebunden. Ist er immer so?“ Doch Leo zuckte nur mit den Schultern. „Normalerweise ist er ein netter Kerl, aber das mit Ihrer Tante hat zwar uns alle, ihn jedoch besonders geschockt. Jeder kennt sie und überall wird sie sehr geschätzt. Wir sind alle sehr besorgt, deshalb war ich auch im Wald. Ich wollte sie suchen, längst hätte sie zurück sein müssen. Und bei meiner Suche bin ich dann auf Sie gestoßen.“ Leo betrachtete Anna mit einem schiefen Lächeln. Das erklärte natürlich einiges. Deshalb war er im Wald unterwegs. Aber wieso war der Wolf vor ihm davongelaufen?