Название | Ein stilles Dorf in Kent |
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Автор произведения | Gerda M. Neumann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783746727776 |
»Wie häufig sehen Sie sich?«
»Nicht oft, er führt sein Leben mit seiner neuen Familie. Meins hat er gut organisiert, solange ihm das möglich war. Jetzt steht es in meiner Verantwortung…«
»Und?«
»Er war unzufrieden mit meiner Entscheidung für Indien. Für ihn ist Sicherheit sehr wichtig.«
»Warum sagen Sie ›war‹?«
»Tante Delia hat mir nicht nur ihr Haus hinterlassen.«
»Verstehe.«
Susan sah Olivia auf ihre stille Weise nachdenklich an: »Sie leben die nächsten Monate bei Mr Fisher, haben Sie gesagt…«
»Ja, es gefällt mir hier! Und bei meinem Onkel! Er hat Platz für mich und da ich ohnehin zu Hause arbeite… ich entwerfe Strickmuster, vor allem…« Sie drückte sich vom Gatterbalken ab: »Wohin gehen wir jetzt?«
»Wenn Sie noch eine Stunde Zeit haben, könnten wir über den Zauntritt steigen
und zwischen den Schafen hindurch im Bogen zurückgehen. Auf dem Weg passieren wir nur ein kleines Farmhaus, in dem tagsüber niemand zuhause ist, und zwei weitere kleine Häuser, bis wir hinter dem Sportplatz wieder nach Howlethurst hineinkommen.« Sie sah Olivia abwartend an.
»Einverstanden.«
Schweigend suchten sie sich ihren Weg zwischen den Tieren, die ihnen mit unbeholfenen Sprüngen auswichen. Olivia sah Susan vor sich ruhig und konsequent auf eine große Eiche zuhalten, hinter der eine Fahrspur zu erkennen war. Sie selbst suchte sich ihren Weg mäandernd zwischen den Grasbüscheln und tierischen Hinterlassenschaften, verlor ein wenig die Richtung, wenn sie über das weiche, wellige Land schaute, und sann über Fragen nach, die sie noch unbefangen stellen konnte.
Auf dem Fahrweg angekommen, wandte Susan sich ihr zu: »Jetzt brauchen wir nur noch dieser Spur zu folgen. Ich habe mich auf dieser Weide schon verlaufen. Klingt verrückt, gelingt aber ganz einfach, deswegen bin ich heute so pedantisch vorangegangen, schließlich wartet Mr Fisher auf Sie.« Wieder huschte dieses stille kurze Lächeln über ihr Gesicht. »Sie entwerfen Strickmuster, haben Sie gesagt. Wie macht man das und stricken Sie Ihre Entwürfe dann nach oder was passiert mit ihnen?«
Ein wenig überrascht sah Olivia in die hellen, braunen Augen, die sie aufmerksam ansahen. Sie nickte: »Ich entwerfe die Muster für eine junge Frau, Wangari Aulton; ihr gehört eine kleine Boutique in St. John’s Wood. Wenn Sie die Tür öffnen, stehen Sie vor einer Explosion von Farben, den Mustern von Afrika. Wangaris Mutter ist auf einer Farm im westlichen Kenia aufgewachsen und mit ihren Kindern beinahe jeden Sommer dorthin zurückgekehrt. Für sie alle, es sind drei, sind Kenia und einige andere Länder Schwarzafrikas ein Teil ihres Lebens. Wangari reist mit ihrem Bruder oder auch allein dort herum und sucht Stoffe. Je nachdem entwirft sie daraus Kleidungsstücke oder benutzt sie als Raumdekoration, für Vorhänge, Kissen, Tischdecken…«
»Und Sie?«
Olivia nickte erneut: »Wenn Wangari mit neuen Stoffen aus Afrika zurückkommt, wandere ich in ihrem Haus an der ausgebreiteten Pracht entlang und wähle diejenigen aus, die mit mir reden, wenn Sie verstehen…«
Jetzt nickte Susan.
»Die engere Auswahl konfrontieren wir dann mit den Modefarben des kommenden Winters. Da wir Einzelstücke herstellen, müssen die Kundinnen woanders einen Rock oder eine Hose dazu finden können; die wenigsten wollen in bunten Hosen und bunten Pullovern gleichzeitig herumlaufen, auch wenn sie durchaus aufeinander abgestimmt sind. Die darauffolgenden Wochen schwelge ich dann in einer Fülle von Wolle, bis ich ungefähr ein Dutzend Strickmuster entworfen habe.«
»Die Sie nicht selber stricken?«
»Nein, ich stricke nur meine eigenen Sachen und auch nicht gar so viele, drei bis fünf im Jahr vielleicht… Dieses kleine Farmhaus ist ja wild romantisch!« Olivia blieb am Zaun stehen und sah auf ein überquellendes Durcheinander von Pflanzen, Gartenmöbeln und Kinderspielzeug. Diese Pracht steht tagsüber leer, sagen Sie?«
»Es muss so sein, immer, wenn ich vorbeikomme, ist alles still.«
Susan war daran vorbeigegangen, ehe sie stehen blieb. Olivia betrachtete sich alles eingehend, bevor sie zu ihr aufschloss. Erst nach weiteren fünfzig Metern redete sie weiter. »Wie lange sind Sie hier in Howlethurst?«
»Fast drei Wochen.«
»Und wann kamen Sie zum ersten Mal hier vorbei?«
»Nun, vor Jahren«, ihre Augen lächelten, »und vor vielleicht zwei Wochen… Die Leute könnten auch in Urlaub sein… meinen Sie das?« Olivia nickte wieder einmal.
»Oh, die Stille muss nichts bedeuten, nicht in England. Ein Familienwochenende und am Montag ab mit den Kindern in die Krippe, die Schule und zurück in das andere Leben. Sie sind anders aufgewachsen?«
»Ja, ganz anders. Meine Eltern wohnten bei den Eltern meines Vaters, sie unten, wir oben. Tagsüber lebte ich unten bei meiner Großmutter, mein Großvater hatte seine Schreinerwerkstatt hinten im Garten, er war also auch viel einfach da und ich lief zwischen ihnen hin und her und schaute zu und redete mit beiden. Wir redeten den ganzen Tag. Ich tat auch mit, wenn ich durfte.«
»Eine sehr unenglische Kindheit… ging es so weiter?«
»Nein! Als ich vier war, ging mein Vater, er war Archäologe, im Urwald von Belize oder Guatemala verloren. Ein gutes Jahr später gab es noch immer kein Lebenszeichen von ihm. Meine Mutter arbeitete in der Kostümabteilung des Victoria und Albert Museums. Als sie dann das Angebot bekam, die Verwaltung des historischen Kostümfundus der Salzburger Festspiele zu übernehmen, griff sie zu. Und ich geriet nach Österreich und in die dortige Schule, lernte richtig Deutsch in der täglichen Übung und pendele seitdem zwischen diesen beiden Ländern hin und her.«
»Das Leben ist doch mehr als seltsam.« Nachdenklich, den Blick auf die nächsten Meter vor ihren Füßen, ging Susan weiter. »Da gibt es eine ideale Konstellation und dann geht ein Familienmitglied einfach verloren und nichts ist mehr wie vorher. Waren Sie in Salzburg viel allein?«
»Nein. Das war meiner Mutter unvorstellbar.«
»In Salzburg geht man nicht so leicht verloren wie in Mittelamerika, nehme ich jedenfalls an.«
»Das wohl nicht. Aber ein Kind, das seine Umgebung überhaupt nicht kennt und die Sprache unvollkommen, ist ein spezieller Fall, so sah meine Mutter es jedenfalls. Nach der Schule ging ich in ihr Büro. Dort hatte sie mir einen eigenen Winkel eingerichtet mit einem kleinen Schreibtisch, an dem ich meine Schulaufgaben machte und mich in Bilderbüchern mit der deutschen Sprache herumschlug. Als ich mich allmählich in der deutschen Sprache sicher fühlte, begann ich auf eigene Faust die Schneiderwerkstätten zu entdecken, danach den Fundus – hunderte und aberhunderte von Kostümen… können Sie sich vorstellen, wie es ist, aus einem spannenden Buch aufzutauchen und in eine solche Welt zu geraten? Oder umgekehrt?«
»Vermutlich nicht. Meine Welt war immer sehr wirklich…«
»…und sie waren sehr allein… oder?«
»Schwer zu sagen, ich lebte meist unter vielen Menschen, in Krippen, Kindergärten, Ganztagsschulen, Internaten und in Indien in einem Waisenhaus. Allein, wirklich allein bin ich jetzt zum ersten Mal.«
»Sie waren früher häufiger hier?«
»Ein paar Mal, ja. In den letzten Jahren.«
»Wie kam es dazu?«
Susans Blick streifte ihre Gefährtin, die riesige Schafweide und konzentrierte sich dann wieder auf die wenigen Meter vor sich. »Es scheint alles so lange her zu sein und dabei sind es ganze viereinhalb Jahre. Damals traf ich Tante Delia in London. Ich verbrachte gerade einige Ferientage bei meiner Mutter und irgendwie erreichte mich ihre Einladung zu einem Picknick in der Heide von Hampstead. Ich sehe das London dieses Tages immer wieder vor mir, von jenem Hügel aus unten im Sommerdunst. Es war meine Stadt, nie hatte ich das so deutlich empfunden. Ich hatte überhaupt nie das Gefühl gehabt, irgendwohin zu gehören. Tante Delia