Ein stilles Dorf in Kent. Gerda M. Neumann

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Название Ein stilles Dorf in Kent
Автор произведения Gerda M. Neumann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783746727776



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hat unsere Unternehmung mit Krieg recht eigentlich nicht viel gemeinsam. Viel eher mit Spionage.«

       Raymund sah sie munter an: »Der arme Roger ist ein zur Untätigkeit verdammter Feldherr, der seinen Gegner viel zu schlecht kennt, um zum offenen Angriff zu blasen. Also setzt er einen Spion ein; um die Verwirrung noch zu erhöhen, einen weiblichen. So viel zum gegenwärtigen Stand – lass uns den morgigen Tag ins Auge fassen.«

       »Um elf treffe ich mich mit Susan Large zu einem Spaziergang.«

       »Richtig. Ganz schön zügig, Puck. Um ein Uhr steht ein Lunch auf dem Tisch und um zwei finden wir uns gemeinsam in der Bücherei ein, morgen ist mein Tag und die natürliche Gelegenheit, dich dort vorzustellen.«

       Olivia nickte zustimmend und streckte sich, bevor sie erneut zu ihrem Glas griff. Um ein Haar hätte sie es umgestoßen, denn Marmalade hatte ihre Akrobatik als Aufforderung empfunden und blitzschnell reagiert. Sie schoss aufs Sofa und schob ihren Nacken unter Olivias Arm. Dabei schnurrte sie leise. Raymund schüttelte den Kopf: »Nicht, dass du dich sonderlich um sie bemüht hättest, oder ist mir das entgangen?«

       »Sie bemüht sich um mich, ich mich um die hiesige ungereimte Todesrate und du darum, die beteiligten Personen in Gang zu halten… jedem das seine.« Ihre braunen Augen blitzten unternehmungslustig zu ihm hinüber.

      Kapitel 5

      Pünktlich um elf Uhr zog Olivia die schwarze Haustür hinter sich ins Schloss. Das Heiligenkraut neben dem kurzen Weg zur Straße zeigte frische silbergrüne Spitzen. Sie atmete auf den wenigen Metern zu dem großen weißen Landhaus tief durch und spürte die Frühlingsluft durch ihre Adern ziehen. ›Fast könnte man denken, ein solcher Frühlingstag bringt das Blut zum duften…‹ Mit leicht geneigtem Kopf hing sie ihrem Gedanken nach, während sie den Türklopfer auf das alte Holz fallen ließ. Diese Haustür war genauso schwarz wie die ihres Onkels, nur in Kassetten aufgeteilt und imposanter, schließlich musste sie sich gegen einen richtigen Portikus behaupten. Gemeinsam zierten die beiden ein zweistöckiges Haus mit waagerecht angebrachten, sich überlappenden Holzbrettern, die wie überall in Kent mit wetterbeständigem weißen Lack gestrichen waren. Im Erdgeschoss war zu beiden Seiten der Haustür ein großer Erker aus der Fassade vorgezogen, mit schwarzen Fensterrahmen, das war ungewöhnlich, ungewöhnlich auch die schmale Schmuckleiste unter dem leicht vorkragenden Dach.

       Schon stand Susan im Türrahmen in indischen Hosen, Tunika und Schal, alles gelb, die Tunika mit einem Paisleymuster. »Wie schön!« entfuhr es Olivia statt einer Begrüßung.

       Susans Blick leuchtete auf: »Möchten Sie hereinkommen oder sollen wir gleich gehen?«

       »Lassen Sie uns gehen, die Luft ist so weich und duftend, dass man sich einfach darin bewegen muss.« Und auf das kurze Zögern hin ergänzte sie: »Ich vertraue mich ganz Ihrer Führung an, meine Ortskenntnis verdient nicht einmal den Namen.«

       Susan wandte sich Richtung Kirche und sah Olivia mit der ihr eigenen stillen Offenheit an: »Meinen Namen wissen Sie sicher längst, mögen Sie mir den Ihren verraten?«

       Das Zucken ihres Zwerchfells schmerzte fast, nur kurz, aber unmissverständlich. Jetzt wurde es ernst. »Ich heiße Viola Imbry, meinen Nachnamen mag ich nicht besonders, also bitte – bleiben Sie bei Viola.«

       Ein stilles Nicken war die ganze Antwort, bis sie den überdachten Eingang zum Kirchhof passiert hatten. Niemand war hier zu sehen. »Ich kenne die Menschen hier kaum«, es klang wie eine Entschuldigung, »deswegen schweige ich lieber in der Nähe ihrer Häuser.« Langsam ging Susan weiter. »Manchmal denke ich, auch die Toten können uns reden hören, Friedhöfe sind seltsame Orte.«

       »Ich mag sie sehr«, bekannte Olivia, »besonders auf dem Land. Diesen ummauerten Frieden mit den alten Taxusbüschen und den frischen Blumen…« Sie sah zu Susan hinüber, die vor ihr auf dem schmalen Weg langsam voranging, den Blick auf die Baumkronen hinter dem Kirchhof gerichtet, sie schwieg. »Ich gehe gern zwischen den Gräbern entlang, lese die Namen und die Daten, in manchen Fällen noch die Todesursache oder Verwandtschaftsbeziehungen, betrachte die Steine und die Bepflanzung und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Diese Floskel trifft genau das, was ich dann tue und es ist ungeheuer weltverloren und entspannend.«

       Susan schwieg weiter, bis sie auf der anderen Seite den Friedhof wieder verlassen hatten und auf einem schmalen ausgetretenen Pfad in ein Wäldchen hineingingen. Sie wandte sich im Gehen um: »Sie fürchten die Toten nicht?«

       »Nein – die Lebenden meistens auch nicht…«

       Nach vielleicht hundert Metern verließ der Pfad das Wäldchen, machte eine Kurve und führte sie an einen offenen Hang. Vor ihnen lagen heckenumsäumte Weiden und vor dem schweifenden Blick breitete Kent sich in der ganzen verträumten Schönheit Südenglands aus. Ein Eselruf drang in das Schauen, jetzt hörte Olivia auch verschiedene Vogelstimmen und bei genauerer Konzentration Schafstimmen irgendwo weiter weg.

       »Dieses Land ist wunderschön«, Susan sagte es sehr leise. »Und schauen Sie, die Veilchen dort unter der Hecke, hinter ihnen hat ein Rotkehlchenpaar sein Nest, es ist etwas unordentlich, aber am Boden macht das ja nichts. Der rufende Esel gehört Mrs Melling. Er hat noch drei Gefährten, sie leben auf einer großen Wiese mit alten Apfelbäumen, kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«

       Die Esel kamen angetrabt, als sie Susan kommen sahen und mit leisen Worten begrüßte sie sie und kraulte sie sanft hinter den langen Ohren. Mit den Eseln hatte sie während ihrer Sommeraufenthalte Freundschaft geschlossen. Und die Tiere hatten ein langes Gedächtnis. Von Mrs Mellings Haus sah man nur das Dach hinter einer gewaltigen Rhododendronhecke aufragen, die Zufahrt führte an der Eselweide entlang und war beidseitig von Obstbäumen gesäumt, sie waren jünger und sorgfältiger beschnitten als die auf der Weide. Olivias Blick blieb an weißen Kästen hängen, die weit hinten nahe an der Hecke standen.

       »Das sind Bienenstöcke«, bestätigte Susan. »Mrs Melling wird Ihnen alles erzählen, was Sie darüber wissen wollen. Nur heute lassen Sie uns weitergehen, ich möchte Ihnen noch ein anderes Stück Arkadien zeigen.«

       Sie folgten dem Pfad hügelabwärts. Nach kurzer Zeit und der ein oder anderen Kurve lag vor ihnen ein weißes Farmhaus, genauso holzverschalt wie das Haus von Susan. Es wirkte flacher hingebreitet, hatte grüne Fensterläden und einen großzügigen Garten mit Rasenflächen, immergrünen Büschen und Blumenbeeten. Ein leichter Holzzaun und eine dichte Hecke trennten es von den weitläufigen Weiden. Leicht gewellt zogen sie sich bis zum Horizont, Baumgruppen und einzelne alte Baumriesen verwandelten das stille Land in einen großen Park, bevölkert von einer unzählbaren Menge Schafen mit ihren Lämmern. Auf das Gatter gestützt standen die beiden jungen Frauen lange und schauten ihnen beim Spielen zu.

       »Wie geborgen diese Schafkinder hier mit ihren Müttern dahinleben, genauso sollte es sein.« Ein nachdenklicher Blick streifte Susans Begleiterin und kehrte zu den Lämmern zurück.

       »War es bei Ihnen nicht so?« Olivia stellte die Frage beiläufig in die grüne Weite. Sie wartete.

       Susan rührte sich nicht, auch nicht, als sie schließlich antwortete: »Nicht ganz. Ich mag meine Mutter. Sie ist sehr attraktiv, sehr schnell und witzig, und sehr erfolgreich. Sie arbeitet in der Abteilung für geographisches Profiling von Scotland Yard.«

       »Ist das die Möglichkeit!« der Ausruf war ihr entschlüpft, bevor Olivia die Information ganz aufgenommen hatte, entgeistert starrte sie Susan an.

       Ein kurzes Lächeln huschte über deren Gesicht. »Sie kann das wirklich sehr gut, als hätte sie einen sechsten Sinn für den Zusammenhang zwischen Täter und Tatort. Immer wieder mal versammelt sie verschiedene Verbrechen hinter einer einzelnen Person. Und Serientäter, die als solche erkannt sind, haben mit ihr ohnehin ein schweres Leben.«

       »Erzählt Sie Ihnen von ihrer Arbeit?«

       »Manchmal eine kuriose Einzelheit, oder etwas ganz allgemeines. Sie darf ja nicht wirklich über ihre Arbeit reden, ich meine konkret, so dass ich etwas ausplaudern könnte.«

       »Nein, das wäre ja auch viel zu gefährlich, für Sie, meine ich.«

       »Vielleicht, ich glaube nicht, dass sie sich darüber Gedanken macht. Menschen wie ich geraten ihrer Auffassung