Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi. Elke Schwab

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Название Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi
Автор произведения Elke Schwab
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748599845



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Schweitzer und gehört zu den Leuten hier im Dorf, die sich unbeliebt machen können.“

      Tanja schaute Jean-Yves fragend an, der daraufhin anfügte: „Schau dir mal das Bauwerk hinter seinem Haus an.“

      Tanjas Blick folgte seinem Finger. Die gelbe Farbe der Hauswand schimmerte durch die hereinbrechende Dunkelheit. Hinter dem Garten verfinsterte sich die Sicht. Eine hässliche Steinwand ragte in die Höhe. Hohlräume zwischen dicken Gitterstäben waren mit Steinen aufgefüllt. Ein Berg loser Steine lagerte davor und wartete darauf, die restlichen Lücken der grotesken Mauer zu füllen.

      „Was ist das für ein monströses Gebilde?“

      „Das ist eine Mauer. Damit will Monsieur Schweitzer den Lärm vom Schulhof und vom Kinderspielplatz abschirmen.“

      Tanja ging auf den Schulhof. Von dort erkannte sie, wie hoch die Mauer aufragte. Aber das war nicht alles, was sie erschütterte. Hinter den losen Steinen stapelte ein Holzhaufen in Monsieurs Schweitzers Garten, der auf den ersten Blick den Eindruck eines Scheiterhaufens machte.

      „Hier leben die Menschen noch wie im Mittelalter: Steinhaufen, Scheiterhaufen.“ Sie stöhnte.

      „So schlimm ist Monsieur Schweitzer nun auch wieder nicht. Er macht sich zwar Feinde mit seiner provokanten Mauer. Aber einen Scheiterhaufen hat er deshalb noch lange nicht gebaut. Das ist ein ganz normaler Holzvorrat. Hier wird mit Holz geheizt.“

      „Doch nicht mit Reisig“, widersprach Tanja, als hätte sie Ahnung von Holz.

      „Das nimmt man zum Anzünden.“

      Sie passierten die Kirche, deren rosa Turm in den dunklen Himmel ragte. Die Uhr schlug acht Uhr. Die Glocken setzten zu einem lärmenden Geläut an. Lautes Hundejaulen zog durch die hereinbrechende Nacht und übertönte die Glocken.

      Die Geräuschkulisse ließ Tanja zusammenzucken. Sie hielt sich die Ohren zu und schaute sich um. Ihr Blick fiel auf einen Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Seine Gestalt war leicht gebückt, sein Gang schwankend. Schwarze fettige Haare klebten an seiner Stirn. Eine dicke Brille und der vorstehende Oberkiefer mit weit auseinander stehenden Zähnen verunzierten sein Gesicht. Kauende Bewegungen machte er, wobei ihm Speichel aus beiden Mundwinkeln tropfte. Dann zog er eine Grimasse, die Tanjas Adrenalinspiegel schlagartig ansteigen ließ.

      „Das ist François. Keine Sorge, der ist geistig ein bisschen zurückgeblieben, aber harmlos“, erklärte Jean-Yves auf Tanjas erschrockenen Gesichtsausdruck.

      Tanja schüttelte sich. Jean-Yves’ Worte konnten sie keineswegs beruhigen.

      Wind frischte auf und heulte an verschiedenen Hausecken auf. Sie folgten der Straße, die an einem alten heruntergekommenen Bauernhof vorbeiführte. Tanja zog ihre Taschenlampe hervor und leuchtete die Trümmer ab.

      „Falls du hier nach Annabel suchst, kann ich dir versichern, dass die CRS das schon getan hat“, kam es von Jean-Yves. „Hier ist sie nicht.“

      „Die Kollegen können doch etwas übersehen haben.“

      „Vor allem die französischen Kollegen“, hielt Jean-Yves dagegen.

      Tanja drehte sich um. Sie sah Zorn in seinem Gesicht.

      „So war das nicht gemeint“, entschuldigte sie sich schnell. „Den deutschen Kollegen passiert so was auch.“

      „Okay.“ Jean-Yves gab nach. Seine Gesichtszüge blieben dabei undefinierbar. „Gehen wir doch einfach hinein.“

      Der Boden war voller Löcher, durch morsche Bretter halb verdeckt. Heimtückische Fallen. Tanja schauderte bei dem Gedanken, dass ein kleines Mädchen dort hineingefallen sein könnte. Sie hob die Bretter an und leuchtete darunter. Doch Annabel war nicht dort. Sie trat immer tiefer ins Innere des zerfallenen Bauernhauses. Außer Mäusekot, Vogeldreck und Vogelnestern fand sie nichts. Angeekelt stolperte sie wieder hinaus.

      Sie setzten ihren Weg fort. Zwischen restaurierten Wohnhäusern tauchten immer wieder leerstehende Gebäude auf. Tanja staunte, wie nachlässig die Immobilien im angrenzenden Frankreich behandelt wurden. Gleichzeitig keimte an jedem dieser verlassenen Baracken die Hoffnung auf, Annabel dort zu finden. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um mit ihrer Taschenlampe durch die Fenster zu leuchten.

      „Auch hier waren meine Kollegen“, hörte sie Jean-Yves’ Bassstimme hinter sich. „Die CRS sind gleichbedeutend mit der Bereitschaftspolizei in Deutschland. Diese Leute sind dafür ausgebildet, eine Suche gründlich durchzuführen.“

      Tanja gab sich geschlagen. Sie steckte ihre Taschenlampe ein und folgte dem Commandant. Windböen bäumten sich orkanartig auf. Ihr schulterlanges Haar flatterte wild um ihr Gesicht. Mit beiden Händen versuchte sie, es zu bändigen, um etwas sehen zu können. Da fiel die Straßenlaterne aus. Alles versank in Schwärze.

      Na toll. Sie spürte Unbehagen.

      Die Straße machte eine langgezogene Rechtskurve. An der nächsten Straßenlampe gab es wieder Licht. Lothringische Bauernhäuser in den unterschiedlichsten Farben befanden sich zu beiden Seiten. Dazwischen offenbarten sich kleine Koppeln, auf denen Kühe lagen und wiederkäuten. An den Gleisen bogen sie rechts ab. Die Rue de la Gare führte sie zurück zu Sabines Haus. Hier wusste sie wieder, wo sie war, weil sie ihrer Freundin erst vor Tagen zu dem vermaledeiten Reitstall gefolgt war. Vor einigen Häusern standen die Bewohner, die nach der Aufregung der Besprechung noch keine Ruhe fanden. Sie sprachen über das Wetter. Der herbstliche Umschwung hatte die Bauern überrascht. Nicht jedem war es gelungen, in der kurzen Zeit die gesamte Frucht ihrer Ernte in Sicherheit zu bringen. Die Diskussionen erhitzten sich.

      Bei Jean-Yves’ und Tanjas Anblick riefen sie. „Bonjour. Ça va?“

      Jean-Yves tippte zum Gruß mit der Hand an die Stirn.

      „Jetzt noch am Arbeiten?“

      „Oh oui, Madame“, antwortete Jean-Yves. „Die Suche nach dem Kind ist rund um die Uhr im Gange.“

      „Man kennt dich?“, bemerkte Tanja.

      Jean-Yves grinste, blieb jedoch eine Antwort schuldig.

      Sie steuerten auf ein Haus zu, das sofort Tanjas Aufmerksamkeit erregte. Ein flaches, langgezogenes Haus in zartem Terrakotta mit Giebelfenstern auf dem Dach prangte im hellen Schein der Straßenlaterne. Braunrote Schwalbenschwanzziegel, braun eingefasste Fenster mit ebenfalls braun eingefassten Türen ließen das Haus wie ein Schmuckstück aussehen. Ein Schornstein ragte in den Himmel.

      Ein roter Volvo näherte sich, parkte direkt vor dem Haus und eine blonde Frau stieg aus. Diese Frau war nicht bei der Besprechung im Schulhaus gewesen. Das erkannte Tanja auf den ersten Blick. So eine Schönheit hätte sie wahrgenommen. Ihre langsamen Schritte wirkten graziös. In ihrem Gesicht spiegelte sich große Freude, als ihr Blick auf Jean-Yves fiel.

      „Bonjour. Ça va?“ Küsschen rechts, Küsschen links.

      Tanja fühlte sich überflüssig.

      „Sag nur, dich schickt Strasbourg, um das arme Mädchen zu finden?“

      „Genau das.“

      „Wie gut für das Kind. Wenn einer sie findet, dann du.“

      „Das ist Tanja Gestier, meine Kollegin aus Deutschland“, stellte er vor.

      „Ich bin Christelle Servais.“ Sie trat auf Tanja zu und begrüßte sie mit distanzierter Herzlichkeit. Tanjas Augen hafteten an Christelles Gesicht. Ihre großen Augen strahlten Stolz aus, ihre Haltung war kerzengerade, ihre Bewegungen bedacht. Blondes langes Haar rahmte ihr schmales Gesicht ein, dessen Züge Tanja an die Schauspielerin Catherine Deneuve denken ließen.

      „Ich bin Grundschullehrerin hier im Dorf“, erklärte Christelle.

      „Aus der Grundschule kommen wir gerade“, erwiderte Tanja .

      „Ich konnte an der Besprechung nicht teilnehmen. Ich musste heute zu einer Fortbildung nach Sarre-Union.“

      Regen setzte ein.

      Ohne