Название | Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi |
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Автор произведения | Elke Schwab |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783748599845 |
Gemurmel setzte ein. Jean-Yves konnte den Auslöser dafür lange nicht erkennen, bis ein kleiner Mann mit dunklen Haaren und Schnauzer vor ihm stand: der Bürgermeister.
„Wir gehen in eines der Klassenzimmer“, schlug Le Maire vor und wedelte mit einem Schlüssel. Jean-Yves nickte zustimmend. Es war das erste Mal, dass er mit diesem Mann einer Meinung war.
Gemeinsam überquerten sie den kleinen Schulhof und betraten das Schulgebäude durch eine schmale Tür. Das Klassenzimmer war für Grundschüler eingerichtet. Die fest montierten Tische und Bänke waren gerade einmal für Sechs- bis Zehnjährige geeignet. Den Erwachsenen blieb nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben.
Langsam kehrte Ruhe ein.
Jean-Yves wollte gerade mit der Besprechung beginnen, als die Tür nochmals aufgerissen wurde. Verärgert richtete er seinen Blick auf den Störenfried und traf auf Tanja Gestier. Sofort schlug sein Herz schneller. Also würde sie mit ihm gemeinsam an dem Fall arbeiten. Der Gedanke gefiel ihm. Mit einem Lächeln bat er sie, den Platz neben ihm einzunehmen. Er stellte den Neuzugang als Verbindungsbeamtin aus Deutschland vor, womit das neugierige Getuschel, das seit ihrer Ankunft den Raum beherrschte, noch weiter anschwoll. Immer wieder glaubte er, den Namen seiner Frau zu hören. Er warf einen Blick auf Tanja und ahnte, was in den Köpfen der Dorfbewohner vor sich ging. Ihr ebenmäßiges Gesicht, eingerahmt von langen dunklen Haaren, konnte auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, er habe sie in anderer Absicht hierher bestellt. Wie borniert und kleingeistig diese Menschen doch waren. Zum Glück wurde es wieder ruhiger. Gleichzeitig beruhigte auch er sich.
Endlich konnte die Besprechung beginnen.
„Wir haben den Umkreis des Dorfes weiträumig abgeriegelt – und zwar die Nachbardörfer Harskirchen, Willer, Keskastel, Hinsingen, Bissert und Altwiller“, begann Jean-Yves zu sprechen. Die Leute murmelten. „An sämtlichen Ortsausgängen stehen Posten der Police Nationale und führen Kontrollen durch. Die ersten Suchtrupps haben nichts gefunden. Sollte jemand aus dem Dorf bereit sein, nach dem Kind zu suchen, soll er sich bitte bei den Brigadiers melden und sich einer Gruppe von Fachleuten anschließen, um keine zusätzlichen Spuren zu hinterlassen, die später ausgewertet werden müssen.“
„Wir wären ja schön blöd“, murrte eine alte Frau mit langen grauen Haaren. „Und du erntest hinterher die Lorbeeren für die Arbeit, die wir gemacht haben?“
Das nahm Tanja zum Anlass, sich zu äußern: „Hier habe ich ein Foto von Annabel Radek.“ Sie ging durch die Reihen und verteilte die Kopien. „Das Mädchen ist vier Jahre alt. Es hat blonde, lockige Haare, ist einen Meter und zehn Zentimeter groß. Es ist schlank und trug zuletzt, bevor es verschwand, einen blauen Jeansoverall und einen Anorak mit rosa Elefanten darauf. Sie ist ein lebenslustiges und liebenswertes Mädchen. Sie liebt Pferde, weshalb sie zu dem Reitstall in Potterchen gelaufen ist. Das war am Freitag, dem 12. Oktober. Dort hat man sie auf ein Pony aufsteigen sehen, von dem sie runterfiel und nicht mehr gefunden wurde. Das ist das Letzte, was wir von ihr wissen. Die Mutter von Annabel ist jedem für seine Hilfe dankbar. Sie kann leider nicht hierbleiben. Sie ist vor Kummer krank geworden. Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum sie zu Hause bleiben muss. Falls sich jemand bei ihr meldet und etwas über das Kind aussagen will, muss sie erreichbar sein.“ Damit gelang es Tanja, den Unwillen der Dorfbewohner zu brechen. „Wenn Sie dieses Kind gesehen haben - egal wie banal Ihnen die Situation auch erscheinen mag – sagen Sie uns bitte Bescheid. Wir sind für jeden Hinweis dankbar.“
Jean-Yves war froh für diese Geste. Ihm wäre so etwas nicht eingefallen. „Das war gut“, flüsterte er.
Schon begannen die Fragen aus dem Publikum.
„Welches Auto hat Frau Radek gefahren?“, meldete sich ein Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war. Sogar sein großer Hut schimmerte in dieser düsteren Farbe, den er sich nicht bemüßigt fühlte, für diesen Anlass vom Kopf zu nehmen.
„Einen Daihatsu Cuore“, antwortete Tanja.
„Können die Deutschen nicht mal ein Auto fahren, das wir kennen?“, lautete die Reaktion darauf. „Renault oder Peugeot machen doch auch gute Autos.“
„Monsieur Schweitzer“, mischte sich Jean-Yves ein. „Wenn Sie ein Auto gesehen haben, das Sie nicht kennen, dann sagen Sie uns das bitte.“
„Das ist es ja. Ich habe am 12. Oktober ein kleines rotes Auto durch das Dorf fahren sehen. Aber einen Fuore - oder wie auch immer das Auto heißt - kenne ich nicht.“
Sabines Auto war rot, schoss es Tanja durch den Kopf.
„Den ganzen Aufwand hatten wir schon einmal“, murrte wieder die alte Dame mit den langen grauen Haaren. „Zellemols ging es auch um ein düttsches Mädchen.“
„Sie erinnern sich gut“, merkte Jean-Yves an und bemühte sich um Gelassenheit. „Das war vor zwei Jahren. Das Mädchen hieß Daniela Morsch und wurde nie gefunden.“ Wieder entstand Gemurmel. „Damals hat die Gendarmerie von Sarre-Union die Untersuchung geleitet.“
„Und unser Bürgermeister“, fügte die Alte lautstark an. „Warum dürfen wir uns dieses Mal nicht an ihn wenden?“
„Das dürfen Sie, das erschwert aber nur die Arbeit, weil der Bürgermeister alle Informationen an uns weitergeben muss.“ Jean-Yves’ Grinsen gefror in seinem Gesicht.
„Warum?“
„Damals wie heute ging es um ein deutsches Mädchen, das hier bei uns in Frankreich verschwunden ist. Da unsere beiden Staaten der EU nicht nur angehören, sondern bezeichnend durch den Elysée-Vertrag aus dem Jahre 1963 als Antriebsmotor für die Europäische Union angesehen werden und unser deutsch-französisches Verhältnis weiterhin freundschaftlich bleiben soll, ist es ratsam, die Problematik genauso ernst zu nehmen, als sei eines unserer eigenen Kinder vermisst.“ Jean-Yves holte tief Luft. „Und da eine bisherige Aufklärungsquote von null Prozent für die Deutschen nicht hinnehmbar sein dürfte, sieht der Untersuchungsrichter größeren Handlungsbedarf vor.“
„Heißt das, Sie geben dem Bürgermeister die Schuld daran, dass das andere Mädchen nicht gefunden wurde?“
„Nein. Das heißt, dass der Bürgermeister nicht für Polizeiarbeiten qualifiziert ist. Deshalb werden jetzt die Police Nationale, meine Verbindungsbeamtin aus Deutschland und ich die Ermittlungen leiten.“
Die Alte stellte ihre Fragen ein.
Jean-Yves atmete erleichtert aus und sprach weiter: „Das Haus von Sabine Radek – die Nummer Zwölf - ist ab sofort die Anlaufstation für alle Belange, Mitteilungen oder Fragen hier in Potterchen. Unsere Polizeizentrale besetzt für den Zeitraum, den wir für die Suche nach dem Kind benötigen, das Gebäude der Gendarmerie vor Ort in Sarre-Union. Unsere Ansprechpartner sind die beiden Brigadiers Fournier und Legrand aus Sarre-Union.“ Jean-Yves drehte sich zu einem großen und einem kleinen Mann in Uniform, die sich verbeugten. Geraune ging durch die Menge.
„Die aufsichtführende Dienststelle ist La Direction Interregional de Police Judiciaire in Strasbourg unter der Leitung des Juge d’instruction, in dessen Auftrag ich hier bin. Und von Saarbrücken wurde Lieutenant de Police Tanja Gestier als Verbindungsbeamtin vor Ort eingesetzt.“
*
Tanja Gestier und Jean-Yves standen vor dem Gebäude der Mairie und schauten den letzten Dorfbewohnern nach, wie sie in ihre Häuser zurückkehrten. Der Mann ganz in Schwarz steuerte das Nachbarhaus an. Tanjas Blick folgte ihm, während er das Gartentor schloss, die Haustür ansteuerte und verschwand. Es war ein gelbes Haus, durch eine Backsteinmauer mit schmiedeeisernem Ziergitter von der Straße abgetrennt.
„Ist das der Pfarrer?“
Jean-Yves brach in herzhaftes Lachen aus. „Deine Kombinationsgabe lässt zu wünschen übrig.“
Verärgert brummte Tanja: „Du hast mich gerade geduzt.“
Jean-Yves schaute sie an. Sein Blick war nicht provokant, auch nicht belustigt. Tanja befürchtete schon, er schaute ganz tief in sie hinein.
„Du