Die Verbannten von Neukaledonien. E.R. Greulich

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Название Die Verbannten von Neukaledonien
Автор произведения E.R. Greulich
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738010695



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den Abfalltonnen hinter dem Verwaltungsblock getragen. Keinem verlangte danach, den stinkigen Eimer zu durchsuchen. Aber nach Beendigung der Arbeit haben sie mich gleich am Ende des Landungsstegs gefilzt. Später holte ich mir dann von den Tonnen, was man wohl als ehrlichen Lohn für eine ehrliche Arbeit betrachten darf."

      "Galgenvogel." Grousset stupste den Freund anerkennend, ehe er sich eilig entfernte. Wahrscheinlich würde er wegen seiner Verspätung auf der Verwaltung Ärger haben. Er erreichte den mit Richtpflöcken markierten Weg, der einst zur Straße hatte ausgebaut werden sollen und dann liegengeblieben war, versandet, wie alle begonnenen Projekte. Vom schnellen Gehen schweißnass, war Grousset trotzdem gut gelaunt, er dachte, wie Roger jene Kostbarkeiten aus dem Kahn zu schmuggeln gewusst hat, ist charakteristisch für ihn. Louise schätzt seine Lebenstüchtigkeit besonders. Erstaunlich, dass Roger aus einer jener begüterten Familien stammt, die meist ihre Kinder verhätscheln und für ein raues Leben untauglich machen. Vielleicht hat ihn gerade deswegen der Vater in eine der härtesten Schulen gegeben. Es klingt wahrlich nicht spaßig, was Roger von seiner Zeit als Seekadett erzählt. Kleinste Verstöße wurden mit der neunschwänzigen Katze geahndet. Klettern an rostigen Ketten oder Hangeln an Stahltrossen mochte blutige Hände geben, wer aber seinen Schmerz zeigte, der wurde vor versammelter Mannschaft lächerlich gemacht. Für gutes Schießen gab es Landurlaub, für schlechtes Schießen Arrest. Englisch und Spanisch waren Pflichtfächer, wer seine Lektion nicht gelernt hatte, bekam einen Tag lang nichts zu essen. Nicht zuletzt auch gegen derartige Menschenverachtung haben wir auf den Barrikaden gestanden, dachte Grousset, aber was hat den Freund stark gemacht? Dieser Widerspruch beschäftigte den Journalisten nicht zum ersten Mal. Die Kommissköpfe einer zum Abtreten reifen Gesellschaft drillten junge Männer zum Schutz dieser Gesellschaft. Niemand hätte sagen können, wie viele aufgrund der unmenschlichen Methoden zerbrachen, wie viele desertierten und dann fast zwangsläufig kriminell wurden. Der größere Teil ließ sich abrichten zum Kriechtier oder zum Hetzhund, der kleinere Teil gewann das andere Ufer. Rogers geistige Regsamkeit hatte ihm sicherlich geholfen, fortschrittliche Ideen aufzunehmen. Doch wann, wie ist das geschehen? Kann ein Mensch sagen, an dem und dem Tag bin ich Revolutionär geworden? Es gibt doch ebenso intelligente Burschen auf der Gegenseite, weshalb hat nicht auch ihnen das Licht der Erkenntnis geleuchtet?

      Grousset näherte sich eilig dem Verwaltungsgebäude, das gegen die starke Sonnenstrahlung durch einen weißen Anstrich geschützt war. Der begrünte Innenhof war eine Augenweide. In der Mitte des geräumigen Patios sprudelte ein Springbrunnen. Ingenieure und Techniker aus den Reihen der Deportierten hatten eine Apparatur installiert, ähnlich jenen Schöpfwerken mit Schneckengetriebe, die den Bauern am Nil seit Jahrtausenden ihre Felder bewässern. Durch ein Göpelwerk getrieben, wurde das Wasser aus einem Brunnenloch in der Nähe des Strandes geschöpft und zu einem Bassin im Felsgestein oberhalb des Verwaltungsbaues befördert, aufgrund der Fallkraft erzeugte es im Innenhof eine Fontäne, die angenehme Kühle und das Geräusch erfrischenden Regens spendete. Die Maden, wie die Deportierten die Leute der Verwaltung nannten, waren weniger an ihren Amtstischen zu finden als auf den Bänken des Laubenganges um den Patio. Häftlinge hatten diese Oase schnellen Fußes zu durcheilen, hätte sich einer hier nur fünf Minuten erquickt, drei Tage Arrest in dunklem Felsloch wären ihm dafür sicher gewesen.

      Grousset vermied es grundsätzlich, den Patio zu betreten. Denn es gab Maden wie auch Offiziere, die aus sadistischem Spaß behaupteten, ein Gefangener habe die Hände ins Becken gehalten, sich die Stirn mit Wasser gekühlt.

      Das Zimmer mit der Häftlingskartei, den Journalen für die Eingänge und für die Abgänge, wie man die Verstorbenen hierorts bezeichnete, lag im ersten Stock. Der amtlich bestallte Journalführer war wieder einmal nicht anwesend, das hieß, er erholte sich beim Brunnenplätschern vom schweren Tagewerk. Grousset verspürte keine Sehnsucht nach drei Tagen Arrest, also musste er warten. Er setzte sich so, dass er nicht überrascht werden konnte. Durch ein weitgeöffnetes Fenster drang das wohltuende Geräusch der Fontäne. Die Wasserkunst war ein Symbol dafür, was Hirne zu bewegen, Hände zu bewerkstelligen vermochten. Dass Ducos mehr Hölle als Oase wurde, lag nicht am Mangel von Arbeitskraft und Arbeitseifer. Bequemlichkeit und Schlamperei hatten jeden Tatendrang erwürgt. Nicht einmal die Gefangenenbaracken waren fertiggebaut worden.

      Grousset empfand Genugtuung darüber dass der weiße Kastenbau, diese Zwingburg der Bedrücker, zugleich deren schwächsten Punkt bedeutete. Die Gefangenen, die hier arbeiteten, waren die Augen und Ohren der Kommunarden von Ducos.

      Commissar Fenichon kam, und Grousset schnurrte seine Meldung herunter. Fenichon erkundigte sich voller Hohn, ob das Begräbnis etwa bis jetzt gedauert habe. Mit dem treuen Blick des erfahrenen Sträflings log Grousset dem Commissar ins Gesicht, seit einer Stunde sei er auf der Suche nach ihm; Fenichon war nicht dumm, hatte nur kein Gespür für versteckten Spott. Ständig forschte er nach einem doppelten Sinn in den Worten Groussets, manchmal, wenn er einen entdeckt zu haben glaubte, rächte er sich dafür mit wüsten Beschimpfungen. Heute war er zu allem zu träge. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass, wenn er seine Havanna aufgeraucht haben würde, für ihn Büroschluss sei. Diesen Genuss wollte er sich keinesfalls vergällen. Er hielt Grousset das Journal hin, der setzte seinen Schriftzug in die entsprechende Spalte, und Fenichon knurrte, er solle eilen, ihm aus den Augen zu kommen. Dieser Ärger mit den Abgekratzten stinke ihn so langsam an.

      Das ist nun die Schlusszeremonie für einen dahingegangenen Kommunarden, dachte Grousset. Cochet hatte nicht wenige Zeichen seines Wirkens in der Zwingburg der Maden hinterlassen, an kunstvoll gefugten Treppengeländern, an Rahmen und Türen, Möbeln und Holzgerätschaft, all dem, was ein Gebäude bewohnbar macht. Zugleich Möbel- und Bautischler, Zimmermann und Drechsler, hatte er eine gutgehende Werkstatt in Paris besessen, doch weil seine Fortschrittsgläubigkeit ebenso stark war wie seine Werkbesessenheit, war er auf die Barrikade gegangen. Die entsetzliche Überfahrt, Hunger und Durst, allem hatte er widerstanden, gestorben war er, Mitte Fünfzig erst, als seine Hände zum Nichtstun verurteilt wurden, als die Arbeitslosigkeit zur härtesten Strafe auf Ducos wurde.

      Grousset machte einen kleinen Umweg, vorbei an jener Plattform mit dem Göpelwerk. Der Esel, der es bewegte, hatte Bastkappen vor den Augen. Merkte er, dass er sich ständig nur im Kreis bewegte, er bliebe stehen, weder Schläge noch Schmeichelei brächten ihn von der Stelle, wusste Grousset, und er fand es nicht verwunderlich, dass es über den Esel vielerlei Fabeln gibt.

      Das Plateau erlaubte einen unbegrenzten Rundblick über Reede und Hafen von Nouméa. Sehnsüchtig schaute Grousset hinüber zur "Plymouth". Es wäre wie ein Märchen, segelte das Schiff gleich davon, nachdem wir aufgeentert sind, dachte er. Leider geschehen Wunder selten, aber wie auch dieser Kapitän Darnbridge beschaffen sein mag, es heißt, er sei kein Anhänger der Versailler. Es heißt...? Man soll gleichlautende Informationen nicht anzweifeln, sonst könnten wir unsern Plan begraben. Schließlich basiert er darauf, dass wir dem Kapitän keine andere Wahl lassen, als zwei Menschen zu retten oder sie dem Tod auszuliefern.

      Ein Offizier tauchte am Hauptweg zur Plattform auf, Grousset verschwand rasch in einen abschüssigen Seitengang, der in die Nähe des Strandes und von dort zum Lager führte. Die Sonne stand schon tief, Grousset traf einzelne Mitgefangene, tagsüber war das Lager eine menschenleere Einöde, alle hatten irgendeinen schattenspendenden Platz aufgesucht, der gegen die mörderische Tagesglut Schutz bot. Die Wüstenei machte auf den Uneingeweihten kaum den Eindruck eines Gefangenenlagers. Es stand nicht hinter jedem Gefangenen ein Wachtposten, man sah keine scherbengespickten Mauern, weder Stacheldrahtzäune noch Beobachtungstürme, das Areal der Frauen hatte lediglich eine symbolische Drahtumgrenzung.

      Ein Gefangener löste sich von einer Gruppe an jener Sonnenschutzmauer, die Deportierte aus Felssplittern, Steinen und großen Muscheln aufgeschichtet hatten. Er kam auf Grousset zu und sagte: "Ich bin Emile Bapaume. Natalie lässt grüßen. Es geht ihr besser. Eine Pflegerin im Hospital tut für sie, was nur möglich ist."

      "Natalie Lemel?" Grousset fragte, weil er Zeit gewinnen wollte, sich zu erinnern, woher ihm der Mann bekannt war.

      "Natürlich", erwiderte der Gefragte, "ist denn noch eine andere Natalie im Hospital?"

      "Du hast selber mit ihr gesprochen?"

      Bapaume machte eine Kopfbewegung zu den Männern hin. „Jean Poctoire hat gestern im Hospital ein paar