Spätvorstellung. Reinhold Zobel

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Название Spätvorstellung
Автор произведения Reinhold Zobel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752932348



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sei man Fremder im eigenen Haus.”

      “Jetzt spielst du wieder auf unser Alter an?”

      “In Teilen…Willst du sehen, was ich heute bei mir im Briefkasten fand?”

      “Du bekommst noch Post?”

      “Gelegentlich. Es ist eine Ansichtskarte… Hier lies einmal.”

      Tony setzt die Lesebrille auf und liest wunschgemäß. Und mit Stirnrunzeln:

      “…Schon eine geringfügige Verschiebung der Kinnlade bewirkt einen komplett anderen Ausdruck.”

      “Das wissen die wenigsten, nicht wahr?”

      “Mag wohl sein. Aber die wenigsten wissen auch, dass - wie unser früherer Biologielehrer gern sagte - im 19. Jahrhundert ein reger Handel mit Blutegeln im Schwange war…Apropos Mimik: Im Anfang war - bitte, korrigiere mich - nicht das Wort, sondern die Mimik.”

      “Zutreffend. Bei mir verhält es sich allerdings, wie ich glaube, eher umgekehrt.”

      “Ah ja?”

      “Rührt vermutlich daher, dass ich einer noch weitgehend unerforschten Spezies angehöre.”

      “Der Kellner kommt… Was trinken wir, Lux?”

      “Für mich Rum. Plus Mineralwasser.”

      Lux rollt sich eine Zigarette. Rauchwerk ist hier zulässig. Ja, das gibt es noch - an raren Orten auf diesem Erdball. Und es erfolgt unstatthafterweise kein Eintrag ins Klassenbuch. Kennt die Schule des Lebens doch nicht allein Streber, Statthalter und Sitzenbleiber, sondern ebenso Koautoren, Hofnarren und Querverweiser.

      “Und du hast, sagtest du, mehrfach den Beruf gewechselt?”

      “Weniger den Beruf. Mehr den Wohnort. Das Kostüm. Das Dressing. Die Regeln.”

      “Verstehe.”

      “Im Grunde ist es so, Lux: Ich mag es, immer wieder einmal von vorne zu beginnen.”

      “Im Leben? Im Spiel?”

      “Im Leben wie im Spiel.”

      “Hat untertage ein gewisses numinoses Aroma von Pathos.”

      “Warum nicht.”

      “Ja, warum eigentlich nicht.”

      “Und was ist mit dir, mein Freund - lebenshistorisch betrachtet?”

      “Nun ja, temporär wie phasenweise leide ich, und das meist ungepaart, unter Stimmungsschwankungen. Mir ist dann wie auf hoher See.”

      “Du leidest?”

      “Nun ja, deuten wir es volkstümlich: des einen Leid ist des anderen Freud.”

      “Und wer ist der andere?”

      “Nun ja, schätze, es ist mein zweites, tiefer gelegtes Ich.”

      Die Getränke sind da. Die Freunde stoßen an. Denn es sind ja Freunde. Freunde aus frühen Tagen. Man nannte sie auch Plisch&Plum. Nur konnte man sich nie einig darin werden, wer denn nun Plisch war und wer Plum. Die Auffassungen hierüber changierten, vergleichbar etwa dem unter Einwirkung von Sonnenlicht reflektierenden Farbenspiel in einem Goldfischglas. Vereinfachend gesagt: sie klafften auseinander.

      Lux war über Jahre ein dickes Kind. Tony ein dürres Gestell. Man nannte ihn auch: Skeletti. Heute ist es, den Leibesumfang betreffend, der Tendenz nach umgekehrt. Tony war blond, Lux hingegen dunkelhaarig. Heute sind sie beide grau, abendnebelgrau. Das verdankt sich keiner göttlichen Trinität. Denn sie bilden ja kein Dreigestirn.

      Und doch. Es existierte einst eine weitere Person (ein dritter Knabe) namens Sönke. Sönke hatte eine Schwester, in die beide, Lux und Tony, verknallt waren. Eine Romanze, wie es ihrer viele und sie immer wieder gibt, und eine mit tödlichem Ausgang. Das Mädchen hieß Marie. Sie hatte ein sonnenhungriges Gemüt, knallblaue Augen sowie ein knallbuntes Nervenkostüm, das entfernt nach Karneval duftete. Sie schenkte beiden Jungs abwechselnd ihre Gunst, was naturgemäß zu Verwicklungen führen musste. Eines Tages geriet sie mit dem Fahrrad unter einen LKW, und aus war es. Mit ihr. Und mit allem, was dazugehörte.

      Sönke, der Bruder, war bereits in sehr jungen Jahren eine Führerpersönlichkeit. Aber auch Führerpersönlichkeiten verlassen irgendwann die Weltbühne. Seine Spur verlor sich kurz nach der Geschlechtsreife im Halbdunkel der Menschheitsgeschichte. Auch Lux und Tony verloren sich eines Tages aus den Augen. So war das. Es hätte natürlich ebensogut anders sein können.

      “Du warst so etwas wie Sönkes rechte Hand, seinerzeit, nicht wahr, Lux?”

      “Und du sein Ausputzer.”

      “Jedenfalls waren wir beide Subalterne.”

      “Und wie hießen die Helden, die Idole unserer Adoleszenz?”

      “Albert Schweitzer, Robert Koch?”

      “Nein.”

      “Audie Murphy, Trini Lopez…Julio Cesar Chavez?”

      “Nein, nein, nein.”

      “Also, wie dann?”

      “Sebastian Konatz, Knut Weser.”

      “Ach, richtig, die meinst du. Ja, jetzt fällt es mir wieder ein.”

      “Nicht wahr. Jungs aus der Nachbarschaft. Große, starke, furchtlose Jungs.”

      Die Tür des Cafés klappt auf. Neue Gäste platzen herein. Und von draußen hört man verhalten Vogelgezwitscher. Tri Tra Tralala. Piep.Piep.

      “Kürzlich hörte ich auf einer Audioaufnahme meine eigene Stimme.”

      “Und?”

      “Es war das erste Mal, dass sie mir halbwegs gefiel.”

      “Warst du nicht immer schon ein großer Zweifler… insonderheit an dir selbst?”

      “Stimmt. Doch es ist besser geworden damit. Dich habe ich in frühen Tagen übrigens vor allem um eines beneidet, Tony: um dein Selbstbewusstsein…Soll ich uns eine Zigarette drehen?”

      “Bittesehr. Ich erinnere mich an eine Art Leitmotiv von dir aus jenen frühen Tagen: Ich wollt, ich wär ein Huhn, da hätt ich was zu tun und so weiter.”

      “Es gab dazu, eiertechnisch gesehen, einen Gegenentwurf: ein Hund lief in die Küche und stahl dem Koch ein Ei und so weiter. Das wiederum passte, denke ich, mehr auf dich.”

      “Ob man Texte wie diese wohl ins Chinesische oder ins Hebräische übersetzen könnte, ohne dass sie ihre Aura einbüßen?”

      “Nicht notwendigerweise ihre Aura, dann eher schon ihren Reim.”

      “So ist das mit der Grammatik der Hochkulturen. Mal etwas anderes: Spielst du noch Schach?”

      “Nein.”

      “Schade. Ich finde, es erlaubt zuweilen erholsame Ausflüge ins geordnet Geistige.”

      “Und du, bist du eigentlich nach wie vor viel auf Reisen?”

      “Nein. Es strengt mich doch zunehmend an. Im Alter zieht man, denke ich, weniger gern in die Fremde, schon deshalb, weil einem selbst zuhause die vertraute Welt mehr und mehr abhanden kommen kann. Woher weißt du übrigens, dass ich viel gereist bin?”

      “Vergessen. Irgendwer muss es mir gesteckt haben.”

      “Ja, man wird vergeßlich im Alter.”

      “Vergeßlicher.”