Название | Ich locke dich |
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Автор произведения | Wolf L. Sinak |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742758361 |
Jens’ Herz schlug wie das Ticken der falsch gehenden Wanduhr, die Renate bei ihrem Feldzug hängen gelassen hatte, weil die Restauration ein hübsches Sümmchen verschlingen würde. Auch wenn seine asketische Wohnung an die Zelle eines Mönches erinnerte, so herrschte doch eine mit dem Lineal gezogene Ordnung, und wer sich daran verging, stieß einen Voodoospeer in Jens’ Herz. Den Wühlgeräuschen nach zu urteilen beeilte sich Jurek mit seiner Aufgabe. Jedes Zimmer machte eigenständige Geräusche. Im Bad klapperten Spraydosen. Im Schlafzimmer zerschepperte das Glas der Bilderrahmen – Bilder aus guten Tagen, als er die Sportschule besucht hatte. Auf einem Foto stand er ganz oben auf dem Treppchen und zog die Medaille mit dem Band etwas vom Hals weg, dem Fotografen entgegen. DDR-Meisterschaft der Kanuten.
„Kräftiges Kerlchen.“ Der Dicke kam mit diesem Foto zurück und machte den Affen, ließ seine Brustmuskeln durch das enge Hemd zucken wie Schlagadern eines Dinosauriers und trommelte mit den Fäusten auf der Brust herum.
„Schluss jetzt,“ stach das Streichholz in die Luft wie ein Ausrufezeichen. „Wenn du die Polizei einschaltest, wird deine Praxis nur noch als Ersatzteillager für Zahnärzte der Dritten Welt taugen. Wir sind viele, sehr viele. Und am Ende steht der Tod.“
Das Streichholz, kam es Jens vor, schien dem Blonden das Sprechen erst zu ermöglichen. Es schwenkte lethargisch hin und her wie eine Schwungscheibe. Die Schwünge und die Mordandrohung narkotisierten Jens in dem Maße, dass er nicht mehr zuhören konnte und sich nur noch wünschte, aus diesem Alptraum zu erwachen.
Dann gingen sie endlich. Der Blonde kam noch einmal zurück. An seinem ausgestreckten Arm baumelte die Tasche mit der Videokamera. „Danke. Als Aufwandsentschädigung war das auch notwendig.“ Er spuckte das Streichholz weit ins Zimmer hinein, wo es vor Jens’ Füßen auf dem Teppich landete.
Jens konnte sich nicht bewegen. Nach einiger Zeit gelang es ihm, sich zu dem kleinen Sofa zu schleppen, das eine gute Biedermeierimitation war. Er legte den Handrücken auf die Stirn und versuchte abzuschalten, einfach abzuschalten, um später mit dem Denken fortzufahren. Irgendwann klingelte sein Handy. Er rappelte sich hoch mit leichter Genickstarre, machte Licht und holte es aus der Garderobe. Renate war dran. Die gab es ja auch noch, dachte er überrascht wie jemand, dessen verlorenes Gedächtnis zurückgekehrt ist.
„Wie ist das Wetter?“, fragte sie, und Jens fiel ein, dass sie ihn in Südtirol glaubte.
„Wenn du aus dem Fenster schaust, weißt du es. Ein anderes Wetter kann ich nicht bieten. Ich bin zurück in Gera.“
Renate sagte nichts und tat wieder mal so, als sei sie uninteressiert. Aber Jens spürte, wie ihre grauen Zellen die Neuigkeit abtasteten. Ihm fiel es schwer, den Vorwurf zurückzuhalten, dass sie ihm mit Bunsel Scheiße eingebrockt hatte. Sie fing an, davon zu reden, was Jens schon wusste, nämlich eine Beteiligung an der Praxis auszuhandeln, ansonsten wäre ihre Auszahlung fällig. Eine Summe, die den Verkauf der Praxis zur Folge hätte. Dann holte sie Luft und sprach von etwas Neuem, das Jens aufhorchen ließ. Das Miststück glaubte tatsächlich, wieder an der Rezeption arbeiten zu können. Jens dachte an die glücklichen Gesichter von Frau Eisentraut und von Frau Grünwald, als Renate die Praxisschlüssel abgegeben hatte.
„Das kommt nicht in Frage“, schmetterte er. „Nach deinem lautstarken Auftritt in der Praxis vorige Woche musst du froh sein, wenn dich die Patienten noch grüßen …“
„Ich kenne die Reserven der Praxis besser als du oder die Eisentraut.“
Genau das war der Punkt, warum er sie nicht haben wollte. Auf der Suche nach Patienten stilisierte Renate ihn zum Kopfgeldjäger. In den Augen dieses Nimmersatts war Hypnose kein medizinischer Segen, sondern ein Dorn. Ein therapeutischer Zeitfresser, dessen dürftige Honorare sie mit Rotstift markiert und ihm auf den Tisch geklatscht hatte.
„Übermorgen habe ich einen Termin bei meinem Anwalt“, sagte sie. „Da du in Gera bist, rate ich dir mitzukommen.“ Ihre Stimme setzte zum Sprung an, gleich würde sie ihre Stimmbänder durch die Leitung jagen und ihn damit erdrosseln. „Die Schenkel der Kleinen haben dir das Hirn zerquetscht, jetzt brauchst du jemanden, der für dich denkt.“
Aha, ihr Anwalt sollte das für ihn tun. Jens hielt ihn für imstande, Renate die Macht zuckersüß ausgemalt zu haben, um seinen Scheck aufzublähen. „Ich melde mich“, sagte er, legte auf und schaltete das Handy aus.
Anna hatte am häufigsten mit Bunsel gearbeitet. Ihre Angaben konnten Jens zu ihm führen, persönlich oder per Telefon, vielleicht per E-Mail. Er beorderte Anna zu sich ins Arbeitszimmer, wo sie sich ihm gegenüber setzte, eingepfercht zwischen Regal und Schrank.
„Ich hätte auch auf dieses Zimmer verzichten können, als damals die Praxis eingerichtet wurde“, sagte Jens. „Aber ein privates Fleckchen benötige ich – eine Tür, an die man anzuklopfen hat, selbst wenn man wegen des wenigen Sauerstoffs auf die Uhr schauen muss, um nicht zu ersticken.“
Anna nickte.
„Kommen wir zur Sache. Dass ich jetzt hier bin und auch deine Mutter den Urlaub abbrechen musste, ist das Werk von Doktor Bunsel, wie du sicherlich weißt. Schöner Mist, was? Wir hatten uns in Brixen gerade eingelebt. Nicht nur, dass Bunsel ein schlechtes Beispiel für eine Auszubildende abgibt – du für deine Person bist dem gefeit, da habe ich keinen Zweifel –, aber er hat auch Abmachungen in den Wind geschlagen und seine Befugnisse überschritten. Faktisch versucht er, an den Grundfesten der Praxis zu rütteln, also an meiner beruflichen Existenz und an der von euch Helferinnen. Und zeugt es nicht von geistiger Rückständigkeit, wenn sich jemand so einen Schabernack wie den mit dem Vertretungsschild ausdenkt?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ein wenig komisch war er schon.“
Jens erzählte Anna von dem Hypnose-Verbot und Bunsels Anrufen bei den Patienten, vermied aber Einzelheiten, und dass Bunsel demnächst wahrscheinlich mit einer Kanone anrücken würde.
„Was weißt du über die Hypnose, die er bei Frau Zarusch durchgeführt hat?“
Das Fenster hinter Jens’ Rücken wurde zum Ziel ihres Blickes. Nach einer Weile sagte sie: „Er hat es etwas anders gemacht als Sie, aber die Wirkung der Hypnose stellte sich auch ein. Dann hat er ihren Zahn behandelt.“
„Erteilte er ihr eine Aufgabe, die sie im Anschluss an die Hypnose ausführen sollte?“
„Ja.“
Jens vergaß seinen Rücken und reckte sich, bis eine Wand aus Schmerz ihn stoppte. Er hatte die Nacht auf dem Sofa geschlafen und heute früh geglaubt, sein Rücken wäre der exakte Abguss davon. „Was hat er von Frau Zarusch verlangt, ich meine, was hat er ihr suggeriert?“
„Das war vielleicht lustig“, sagte Anna und erzählte von einem Kugelschreiber, den Frau Zarusch von der Rezeption stehlen sollte.
„Gab es noch etwas anderes, was er von ihr wollte?“
„Nicht, dass ich wüsste. Ich habe nebenbei die Instrumente vorbereitet und nicht sonderlich aufgepasst.“ Sie rutschte etwas auf ihrem Hocker hin und her.
„Ein toller Typ für euch junge Leute, der Doktor Bunsel, was?“ Jens blieb ernst. „Sogar mit der Musik ist er auf dem Laufenden.“
„Wenn Sie das Radio meinen, das er an die Lautsprecheranlage angeschlossen hat, war das meines Erachtens nach kein Manko. Im Gegenteil: Sonst mokieren sich die Patienten über das Rauschen, weil sie glauben, die Audioanlage sei kaputt.“
„Hat Doktor Bunsel etwas geäußert, woraus man schließen könnte, wo er sich aufhält?“
„Am Dienstag nach seinem Laufpass zog er ein Gesicht, als wollte er mit dem Intercity aus der Stadt.“
„Ich hoffe, er hat das mittlerweile getan.