Mine-Dine-Use und andere Generationengeschichten. Matthias Deigner

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Название Mine-Dine-Use und andere Generationengeschichten
Автор произведения Matthias Deigner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754107690



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seinen Schenkel. Die Weinkisten knarzten. Paolo hielt einen Arm um Franco geschlungen. Da saß das Kind auf einem Sessel aus väterlichem Fleisch.

      »Warum bist du frei?«, fragte Franco wieder.

      »Weil meine Zeit um ist«, antwortete Paolo.

      »Welche Zeit?« – »Die 18 Jahre, die sie mir gegeben haben.« Achtzehn Jahre, dachte Franco, das war eine Kindheit und eine Jugend lang. Das war länger, als er selber lebte. Fast doppelt so lang, wie die meisten Hunde lebten. Der Junge sah runter zum Mischling. Sicher viel länger, als der da alt war. Unfassbar lang.

      »Und jetzt?«, fragte Franco weiter.

      »Jetzt überlegen sie, ob sie mir noch mehr geben sollen.«

      »Warum?« Noch länger? Er sah seinen Vater an. Zum ersten Mal im Sonnenlicht. Seine Augen waren schlammgrün mit schwarzen Punkten rund um die Pupillen. Wie kleine Extrapupillen. Ob man damit besser sehen konnte? Oder anders? Oder mehr? Ein Augenlid hing tiefer als das andere. So aus der Nähe, im Hellen, sah sein Papà noch müder als, als schräg über den Küchentisch, oder quer über den Besuchertisch.

      »Warum stellst du so viele Fragen?«, fragte Paolo. Franco wusste es auch nicht. An jedem seiner Gedanken klebte ein Fragezeichen. Sein Kopf explodierte vor Fragen. Seine Stimme ging hoch mit jedem Satzende. Er lechzte nach Antworten.

      »Kannst du nicht wegrennen?« »Ich bin nicht sehr schnell.«

      »Wegfahren?« »Ich kann nicht fahren.«

      »Wegfahren lassen?« »Nein.«

      »Mit dem Zug?« »Nein!« Franco verstummte. Paolo sah hinab in die Gasse. Durch die Geländerstäbe. Er mochte es niemanden anvertrauen, nicht einmal Silvio, doch Paolo vermisste sein Fenster in Lecce, mit seinen elf Stäben und dem Blick auf die Gasse zwischen Gefängnismauer und Zaun mit Stacheldrahtsaum. Dort fühlte er sich noch wohler als in Bari. Wenn er an seinen inszenierten Ausbruch von damals dachte, konnte er sich kaum des Grundes entsinnen. Die Draußenwelt war so voller Treppen und Trubel, voller Fremder und …

      Franco regte sich. Rutschte nur einen Zentimeter zur Seite. Da war er wieder, der Grund für seinen Ausbruch. Paolo streichelte den Oberschenkel des Jungen, den er sich gewünscht hatte. Die eine Sache, die er von Aurora verlangt hatte – für ein Leben, das ihr sonst verwehrt geblieben wäre. Ein Sohn. Paolo sollte sich, wollte sich mehr freuen darüber, ihm jetzt nahe sein zu können, Zeit mit ihm zu haben. Doch er war müde. Der Espresso half nicht. Die Sonne war nicht schuld. Es steckte in seinen Knochen. Eine alle Freude fressende, Kräfte kauende, Schlaf schluckende Müdigkeit. Als hätte er all die Last all der Leben, die bis hierher an ihm zerschellt waren, in sich aufgenommen. Er konnte nicht.

      »Was ist Mafia?«, platzte es Franco plötzlich heraus, »also … die Mafia?« Die Stimme unsicher, ob sie leise oder laut, fest oder weich sein wollte. Es klang nach einem Satz, den er minutenlang auf seiner Zunge hin und her geschoben hatte. Paolo hielt inne. Seine Hand hörte auf zu streicheln, blieb still auf dem Schenkel liegen.

      »Wo hast du das gehört?«, fragte Paolo, »das Wort?«

      »Im Fernsehen«, sagte Franco, »und in der Zeitung.« Paolo vergaß manchmal – meistens – dass sein Filius lesen konnte. Dass für ihn all die Zeichen einen Sinn ergaben.

      »Was steht denn da?«, fragte er. Der Hund pupste.

      »Da steht, dass organisierte Mafia-Kriminelle alle Menschen töten, die in der Antimafia sind«, sagte Franco, »damit sie nicht ins Gefängnis müssen. Wenn sie schon im Gefängnis sind, haben die Antimafia-Menschen eigentlich gewonnen, aber … ich glaube, jetzt haben sie verloren. Wegen der Bomben.«

      Dazu brauchte man keine Nachrichten zu sehen. Die Attentate auf die Richter waren bis in jede Gefängnisecke vorgedrungen. Paolo ahnte, dass auch für ihn neue Zeiten anbrechen würden. Verfahrensfehler, wie mit seiner jetzigen Freilassung in gefälliger Fahrlässigkeit einer gemacht worden war, würde es nicht mehr geben. Der Oberste Gerichtshof verhandelte dieser Tage Paolos Haftverlängerung neu, wegen seiner knastinternen Taten. Wenn sie ihn wieder festnahmen – nächste Woche, oder übernächste – dann würde er nicht mehr rauskommen … Ob Flucht vielleicht doch klüger war?

      »In der Schule sagen sie, dass du in der Mafia bist.« Franco rutschte wieder hin und her auf Paolos Bein, das längst eingeschlafen war.

      »Wer sagt das?«, fragte Paolo.

      »Ein paar Jungs«, antwortete Franco. Es waren auch Mädchen dabei, aber irgendwie wollte er das seinem Vater vorenthalten. Der packte ihn mit seinen Schaufelhänden an der Hüfte.

      »Deine Jungs«, brummte Paolo und hob Franco mit einem Ruck von seinem Bein, stellte ihn neben sich ab, »erzählen Mist.« Mit einem weiteren Ruck wuchtete sich der ganze, große Körper von den Weinkisten in den Stand. Stand schief. Mit seinem eingeschlafenen Bein schob Paolo den Hund zur Seite, sagte:

      »Hör auf, auf den Mist zu hören. Du kannst schlauere Sachen machen.« Damit stapfte er an seinem Sohn vorbei zur Balkontür, zog das schlafende Bein nach und beim Hereingehen die Gardinen mit sich, bis sie ihm von selbst von seinen Schultern streiften und zurück in die offene Tür flatterten wie ein sich schließender Vorhang. Das Stück 'Vater und Sohn, eine Annäherung unter freiem Himmel in Espressolänge war vorbei.

      Franco spuckte auf die Fliesen. Was für ein scheiß Ende.

       Sanfte Wellen

      Astrid Holzmann-Koppeter

      Würde nicht die goldfarbene Urne meiner Großmutter in dem Bio-Jutesack um meine Schulter baumeln – es wäre ein lang ersehnter Familienbesuch an dem Platz, an dem ich mich früher immer am wohlsten gefühlt habe.

      In Gedanken habe ich dieses wunderbare Fleckchen Erde fast täglich besucht, auch wenn ich mehr als fünf Jahre nicht mehr hier gewesen bin. Es ist eine Art Zufluchtsort, eine Quelle der inneren Energie und der Zuversicht, mein Kraftort, umgeben von einem Meer aus lieblich duftenden Blumen und dem satten Grün der Bäume. Fleißige Bienen, quietschfidele Schmetterlinge und neugierige Libellen tummeln sich um mich herum, während ich in die allgegenwärtigen Erinnerungen von damals eintauche.

      Nun sitze ich wieder auf der schmalen Bank, die meine Kindheit so stark prägte, zurückversetzt ins Jahr 1989, als sich noch niemand über den hohen Zuckergehalt in Limonaden oder den Feinstaub in der Luft beklagte. Sie kommt mir irgendwie kleiner vor, meine Bank, als hätte außer mir niemand mehr Platz, und auch die Einkerbung auf der Sitzfläche erscheint mir plötzlich viel zu winzig. Die Witterung hat ihr stark zugesetzt, der kastanienbraune Lack ist rundherum ab und ein paar Holzsplitter ragen gefährlich hervor, aber das stört mich nicht. Viel wichtiger – das fein säuberlich eingeritzte Herz mit den Initialen J und L prangt nach wie vor unverkennbar auf der letzten Sprosse der Lehne. J und L steht für Josef und Ludowiga, meine Großeltern. Es fühlt sich an, als wäre es gestern, dass ich zum ersten Mal hier gewesen bin. Vorsichtig fahre ich die Umrisse mit meinen Fingerkuppen nach. Das kitzelt.

      Vor über 60 Jahren haben sich meine Großeltern genau hier kennen und lieben gelernt. Es sei ein Zufall gewesen, hatte meine Großmutter immer beteuert, aber das Funkeln in ihren Augen ließ mich erahnen, dass dem Schicksal wohl etwas nachgeholfen wurde. Wie denn auch sonst hätte die hochwohlgeborene Tochter des Bürgermeisters einen einfachen Metzgersjungen näher kennen lernen sollen.

      »Wenn du wüsstest, was das für ein Kampf war«, erzählte mein Großvater mir im Laufe der Jahre immer wieder kopfschüttelnd. »Nicht nur, dass ich aus einfachen Verhältnissen stammte, dem Herrn Bürgermeister nicht gut genug war; ich war auch noch evangelisch. Zur damaligen Zeit war es eine echte Katastrophe, nicht katholisch zu sein. Nach der Hochzeit hat deine Großmutter konvertieren müssen.«

      Die Liebe meiner Großeltern war von allen Seiten auf Widerstand gestoßen, als nichtig abgetan worden, als bedeutungslose Schwärmerei eines jungen dummen Mädchens für einen zwei Jahre älteren Mann, als reine Trotzreaktion ihren Eltern gegenüber. Als meine Großmutter dann völlig unerwartet schwanger wurde, war das ein