Mine-Dine-Use und andere Generationengeschichten. Matthias Deigner

Читать онлайн.
Название Mine-Dine-Use und andere Generationengeschichten
Автор произведения Matthias Deigner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754107690



Скачать книгу

Auch jetzt steckte der Stift noch in ihrer Haarpracht und ließ sie vollkommen aussehen.

      Carolina warf ihre Schürze über die Rückenlehne des Stuhls, auf den sie stöhnend niederplumpste – an der Ecke zur Rechten ihres Mannes Alfredo und links von der Bediensteten Monica, die schwarzgelockte Jungfrau Ende zwanzig mit der Plastiknase und dem wenig schmeichelhaften Rufnamen »Pipa«.

      Wortlos, voll des Eifers einer Magd unter der Fuchtel ihres Herrn, machte diese sich daran, die Öhrchen-Nudeln aus der von Tante Teresa gereichten Schüssel mit einer Kelle auf die Teller zu verteilen, und ein Häppchen auf ein Extra-Tellerchen für Urgroßmutter Tilda, die nebenan schlief. In einem Bett, aus dem sie seit vier Jahren nicht aufgestanden war. Das Tellerchen mit der halben Portion stellte Monica hinter sich auf die Fensterbank, für später. Carolina behielt sie dabei im Auge und schwafelte weiter über die Hitze, die sämtliche Bewohner aus dem Ort vertrieben hatte. Wie jedes Jahr, Mitte August. Die saisonale Völkerwanderung führte von dem Städtchen im trockenen Inland an die Südküste, oder – noch näher – die Adriaküste im Osten. Hauptsache Meer. An keinem anderen Tag waren die Strände Italiens so gut besucht, wie zu Ferragosto.

      »Woher kommt der Fisch?«, bemühte sich Silvio Pedrone mit Blick auf die Filetplatte um einen Beitrag zur Plauderei. Doch sein dialektfreies Hochitalienisch kam wie eine Radioansprache daher. Plötzlich hörten alle zu. Dem Radio antwortet man nicht.

      »Ist der etwa«, Silvio sah von einem Augenpaar zum nächsten, »selbst gefangen?«

      Silvio war als Gast des Gastes mitgekommen, ein enger Vertrauter Auroras und der engste Paolos, mit dem er eigentlich nichts gemeinsam hatte, außer einem Hang zur Gesetzlosigkeit. Die beiden Männer waren einander im Gefängnis begegnet: Paolo, einst der stattliche Bursche mit dem Eisenherz, inzwischen ein Gangsterboss mit Globusbauch, doch damals wie heute fähig, einem Mann den Schädel einzuschlagen – und Silvio, der seine Lesebrille im Hemdkragen einhängte und lieber seinen eigenen Kopf zermarterte, als den eines anderen zu zertrümmern. So wie es Paolos Schläge waren, die ihn hinter Gitter gebracht hatten, war es bei Silvio sein Hirn. Er stimulierte es gerne mit komplexen Aufgaben.

      Zuletzt Fördergeldbetrug.

      »Den Fisch haben wir einem Nachbarn abgekauft«, sagte Tante Teresa, deren sonnengegerbte Haut mehr Falten warf, als es ihren dreißig-irgendwas Lebensjahren gerecht wurde, »der war heut' Morgen in aller Herrgottsfrühe noch in Bari, zum Glück. Nun dürften die Straßen dicht sein.« Sie setzte sich auf den freien Platz zwischen dem jungen Francesco und Silvio, jener Platz, der für Paolo angedacht war und nur eine klagende Lücke hinterlassen hätte. Teresa füllte diese Lücke und stattdessen blieb der Stuhl zwischen Monica und Nico frei, dem Bäckergesellen. Damit ließ sich leben.

      Zum Gebet senkten alle, die sie um den Tisch versammelt saßen, ihre Köpfe. Für eine Minute wurde es ruhig in der Küche der Familie Rossi – so ruhig wie im Rest der Geisterstadt. Von draußen drang kein Laut, kein Lüftchen herein. Die Gardinen hingen schlaff in der offenen Balkontür. Nichts außer dem gelegentlichen Knacken der abkühlenden Herdplatten und Paolos schwerem Schnaufen.

      Francesco – Kosename Franco – beobachtete seinen Vater aus dem Augenwinkel, ihn, der so wenig nach dem Helden aussah, zu dem seine Mutter ihn manchmal erkor – denn er hatte sie gerettet, damals, mehrmals, hatte auch die Bäckerei gerettet, später, und somit sie alle, die sie hier beisammensaßen ..., ja, ja. Wie er jedoch da auf dem Küchenstuhl hing, das Doppelkinn auf der haarigen Brust ruhend, über dem halboffenen Hemd mit Schweißflecken unter Armen und Männerbusen, machte er keinen heldenhaften Eindruck. Er sah müde aus.

      »Amen«, setzte Nonna Carolina dem Tischgebet ein Ende und breitete die Arme aus: »Greift zu, meine Lieben. Lasst es euch schmecken.« Sie streichelte die Schulter Alfredos, der seinen Kopf hob, fragte ihn: »Öffnest du den Wein, tesero?« Die Flasche, eine von drei edlen Tropfen, die Paolo und Silvio als Gastgeschenk mitgebracht hatten, wurde zu ihm herübergereicht. Ohne einen Blick auf das Etikett, ja auch nur auf die Flasche zu werfen, griff Alfredo nach dem Korkenzieher und öffnete den Wein mit einer routinierten Bewegung, schenkte in die Gläser seiner Nächsten, Carolina und Aurora aus. Das Gluckern des tiefroten Weines wurde übertönt von einer dunklen Stimme:

      »Danke«, sprach Paolo, über den Tisch hinweg, mit schwerer Zunge und Atempausen, »vielen Dank Ihnen, Frau Rossi – und Ihren Töchtern – für das Festmahl«, Luft holen, »und Ihnen, Herr Rossi, für die Gastfreundlichkeit – in Ihrem Hause.«

      Es reichte nicht, um in Alfredos Gunst höher zu rücken, den Tag aber rettete es allemal. Der Hausherr hob das Glas, nickte und sagte: »Salute!«

      Als das Festmahl im Gange war, vollen Mundes leere Worte gesprochen wurden, Konversation um der Konversation willen, kaute Franco jeden Bissen dreißig, vierzig Mal, mit den Gedanken weit weg von dem Fisch auf seinem Teller, von dem er sich blind bediente.

      Sein Blick haftete an dem seltenen Gast.

      Papà Paolo sah anders aus, als im harten Licht der Besucherräume. Es waren einige Wochen vergangen, seit der Junge seinen Vater gesehen hatte, bei ihrem jüngsten Ausflug nach Lecce. Seitdem schien er zugenommen und gleichzeitig abgebaut zu haben. Einmal ließ Franco sein Tafelmesser fallen, um heimlich unter den Tisch linsen zu können: Tatsächlich quoll der Hintern Papàs regelrecht über den Stuhl. Und auf den Terrakotta-Fliesen zwischen dessen Füßen lagen Erbsen, die sein stoßartiges Schnaufen vom Teller gepustet hatte. Erbsen, die dieser Mann vermutlich nicht eigenhändig aufheben könnte, weil sein Körper dabei vornüberkippen und der Aufprall ihm seine Rippen brechen würde. Wieder über dem Küchentisch musterte der kleine Franco seinen Papà mit kritischer Miene.

      Dieser Typ sollte laut Mamma allen Ernstes ein Held sein, dessen Eingreifen sie vor einem schmierigen Kerl gerettet hatte? Dessen Vermögen die Bäckerei vor dem Ruin bewahrt hatte? Dieser Typ sollte laut Onkel Silvio wirklich wahr dessen wichtigster Partner sein, der ihn im Gefängnis damals beschützt hatte und dessen viele Freunde dem Onkel bei der Arbeit halfen?

      Dieser Typ sollte laut tuschelnder und hänselnder Mitschüler gar der Boss einer 'Heiligen Liga' sein? Der Junge wusste, dass ihm viel Mist erzählt wurde. Als Kind gewöhnte man sich daran. Die Erwachsenen taten sich schwer damit, Dinge einfach so zu erklären, wie sie waren. Mal hielten sie das Kind für zu dumm, mal die Welt für zu übel – deshalb erzählten die Großen oft Schwachsinn. Manche Kinder nahmen das hin, Franco dachte nicht daran. Er war zwölf Jahre alt und hatte sich vorgenommen, endlich zu verstehen, was um ihn herum geschah und warum alles so war, wie es war.

      »Wenn du nicht bald aufisst«, drängte sich Tante Teresa von links in seine Gedanken, »dann haben die Fliegen bald Eier in deinen Fisch gelegt.« Und schon wieder Schwachsinn.

      Es reichte! Nach dem Essen trat Franco raus auf den Balkon, wohin sich Paolo und Silvio verzogen hatten, in der Hoffnung, ein laues Lüftchen abzufangen. Alfredo war schlafen gegangen. Carolina, Aurora und Teresa saßen am Bett der Urgroßmutter Tilda. Pipa räumte die Küche auf, bemüht, Nico nicht zu wecken, der beim Nachtisch eingenickt war und am Küchentisch hing. Silvio döste in seinem Liegestuhl, im Schatten eines eingetopften Strauchgewächses, einen Strohhut aufs Gesicht gelegt.

      Das war sie also, die Gelegenheit, seinen Papà mal unter vier Augen zu sprechen. Franco fürchtete, man würde ihm sein Herzklopfen durch das labbrige T-Shirt ansehen. Als sich die Gardinen hinter ihm schlossen, blieb er mit dem Rücken zur Balkontür stehen.

      Paolo hatte sich Weinkisten zu einem breiten Hocker zusammengeschoben. Darauf saß er, nah am Geländer, und lugte durch die Stäbe runter in die Gasse. In einer Pranke hielt er, wie Puppenspielzeug, ein Tässchen Espresso. Mit der anderen kraulte Paolo den Nacken des Mischlingsrüden, der zu seinen Füßen ruhte – die Schlappohren wie als Sonnenschutz vor die Augen gelegt, den Stupsschwanz hin und wieder eine Fliege wegwackelnd. Das Surren der Insekten, das Atmen des Vaters und sein Schlürfen am Espresso, aus dem Haus das Gemurmel der Frauen in Tildas Schlafkammer, ansonsten war es still.

      »Warum bist du frei?«, fragte Franco.

      Paolo drehte behäbig den Kopf, bis er seinen Sohn ansah.

      »Komm her«, sagte er. Franco zögerte, löste