Bestatter sind auch nur Menschen. Günther Seiler

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Название Bestatter sind auch nur Menschen
Автор произведения Günther Seiler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738080513



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Leute unter die Erde zu bringen. Den Rest machen doch seine Leute.“ Einige Kunden erwarteten nichts Nachhaltiges mehr an neuen Informationen und drängten an die Theke. Als Doris ihre Tüte mit den Brötchen in die andere Hand nahm, um die Ladentür schließen zu können, sah sie sich nach der alten Dame um: „Entschuldigen Sie bitte, ich habe gerade Ihre Worte zum Sturz des Herrn von der Reben in das Grab gehört. Dürfte ich Sie einen Moment sprechen?“ Die alte Dame Hedda Oltmanns sah sie misstrauisch an: „Wenn Sie von der Zeitung sind, sage ich kein Wort mehr.“ Doris lachte: „Nein, natürlich bin ich privat in der Bäckerei, beruflich bin ich bei der Polizei. Aber wenn ich etwas berufliches im privaten Bereich mitbekomme, muss ich schon aus gesetzlichen Gründen dem nachgehen, sonst mache ich mich unter Umständen strafbar. Erzählen Sie mir bitte, was war das genau mit dem Bestatter und was passierte nach dem Sturz.“

      Edda Oltmanns zögerte. Jetzt war sie wieder wichtig, man interessierte sich für das, was sie erlebte. Das war in den letzten Jahren nicht oft der Fall gewesen und Oma Edda, wie sie im Dorf genannt wurde, erzählte: „Ja, also der Bestatter Doktor von der Reben, ein netter Mensch, immer voller Verständnis für alle Menschen, also für die Lebenden meine ich, wollte wohl am Grab der seligen Maria Pohl, die ja ihr ganzes Leben hier verbracht hat und später zwei Geschäfte von Lebensmitteln und so weiter bis zur Blumenerde hatte, sehen, ob alles in Ordnung war. Das hatte er bestimmt auch schon vorher gemacht. Er war ja so ein Mensch der Sorte, der immer mehrmals zur Haustür zurückging, ob diese auch wirklich richtig abgeschlossen war. Er traute sich selber nicht ganz, vielleicht war er auch schon mit seinen Gedanken woanders. Ich nehme den Begriff der Demenz nicht gerne in den Mund. Wenn junge Menschen etwas vergessen und das kommt häufig vor, sagt keiner, der ist bestimmt schon dement. Wenn ich aber etwas vergesse, sieht es anders aus. Man lächelt dann immer so komisch und ich verteidige mich immer und habe das Gefühl, alles nur noch schlimmer zu machen. Ja, mit mir alter Frau redet ja auch keiner mehr vernünftig. Meine Enkelin hat nie Zeit, der Doktor fertigt mich immer schnell ab, da bleibt mir nur noch, mit mir selber zu reden, um überhaupt eine Stimme zu hören. Ich lasse manchmal den Fernseher die ganze Nacht laufen und wenn ich wach werde, bilde ich mir ein, es wäre wie früher. Bei uns war im Haus immer etwas los, immer Jubel, Trubel, Heiterkeit und nun habe ich das Gefühl, als hätten sich dicke Spinnweben auf mein Leben gelegt. Ja, man bekommt auch nicht mit, schwerer zu hören oder nicht mehr so gut zu sehen. Das Fatale daran ist, dass alles schleichend kommt. Ich fange manchmal etwas an zu erzählen, weiß am Anfang noch, was ich sagen wollte und verliere dann meinen Gesprächsfaden und überlege händeringend, wie ich den Satz irgendwie zu Ende bringe. Das ist fürchterlich, genau so wie jetzt. Ich weiß Ihre Frage nicht mehr richtig.“

      Doris sah sie fast liebevoll wie ihre eigene Oma an und dachte kurz, wie das wohl sein wird, wenn sie erst in dem Alter von Oma Edda wäre: „Keine Bange, Frau Oltmanns. Ich wollte wissen, wie das mit dem Sturz in das Grab des Bestatters genau abging und Sie sagten, er wollte etwas überprüfen, weil er wohl ein übervorsichtiger Mensch war. Er stand am Grab und stürzte plötzlich hinein?“ Sie nickte aufgeregt: „Ja, so war es, ach ja, er griff sich an die Brust, oder so. Er hatte ja seinen dicken Wintermantel an. Also er griff sich, ich glaube mit der rechten Hand, an sein Herz und war im leeren Grab verschwunden. Kein gutes Zeichen für das Dorf.“ Sie wollte ausschweifen, als Doris sie freundlich bestimmt in eine polizeilich erlernte Bahn drängte: „Er war im Grab und wer hat geholfen oder haben die Menschen nur zugesehen?“ Edda schien zu überlegen: „Ja, so war es. Dann war der Herr Pfarrer plötzlich auch weg. Ich drehte mich kurz um. Ob der in das Grab gesprungen oder langsam geklettert ist, weiß ich nicht. Springen wäre wohl schlecht gewesen, er wäre ja auch auf den Doktor Bestatter getreten. Dann rief er aus dem Grab nach dem Arzt aus dem Krankenhaus, also so nicht, sondern jemand möchte mit dem tragbaren Telefon das Krankenhaus in Norden anrufen. Das ist ja auch das nächste von hier und dann sagte der Pfarrer noch etwas zu den Leuten, die mit ihren neumodischen Telefonen Bilder, also Fotos anfertigen können. Es blitzte wie bei einem Fotoapparat mehrfach auf. Der Pfarrer ärgerte sich darüber, dass die Leute anstatt zu helfen, gleich lieber Bilder machten. Und dann kam noch das, was ich zu meiner Enkelin gesagt habe. Der Pfarrer war wohl im Grab dicht an den Mund des Bestatters gekommen. Ob er die Mundübung zur Wiederbelebung machen wollte, weiß ich nicht. Ich bin auch zu klein, um gut in das Grab hinein schauen zu können. Außerdem drängelten plötzlich die Trauergäste und schoben mich beiseite, um besser sehen zu können. Da nehmen die auf alte Leute keine Rücksicht. Der Pfarrer sagte also ‚der riecht so komisch aus dem Mund, so nach Mandeln‘. Mehr weiß ich nicht.“

      Doris gab ihr die Hand: „Ich bedanke mich bei Ihnen, mein Auto steht gleich auf dem Parkplatz hinter der Bäckerei, darf ich Sie nach Hause oder sonst irgendwohin mitnehmen?“ Sie schüttelte den Kopf: „Danke sehr, ich genieße es, ein wenig unterwegs zu sein, auch wenn ich immer den anderen Menschen im Wege stehe und zu langsam gehe. Ich kann mich aber nicht mehr so schnell wie früher auf meinen alten Beinen bewegen. Zu Hause bin ich am Tage noch lange genug, eigentlich viel zu lange und ich weiß nicht, was ich ändern kann.“ Doris lächelte sie verständnisvoll an und hatte große Hochachtung vor der alten Dame, die ihre Einschränkung einfach akzeptierte und eingestand.

      Nach dem Frühstück überlegte Doris in ihrer kleinen Wohnung, ob und was sie unternehmen sollte. Als Kriminalbeamtin wäre es ein Leichtes, den Dauerdienst im Präsidium anzurufen und Ermittlungen anzuordnen. Aber damit wäre sie den Fall wieder los. Also setzte sie sich an ihren Computer und schickte ihrer Freundin und Vorgesetzten, der Polizeipräsidentin Gudrun Mertens, eine E- mail. Es dauerte keine zehn Minuten bis ihr Telefon klingelte. Doris sah an der Nummer, dass es Gudrun war: „Doris, irgendwie bist du meine Rettung. Ich darf es im Amt ja nicht laut sagen, aber ich bewundere dich, dass du dir vorbehalten hast, trotz deiner Verwaltungstätigkeit in einen Fall einsteigen zu dürfen. Ich habe mir selber die Bitte auferlegt, dich zu fragen, ob ich mitspielen darf. Sage das aber bitte nicht im Präsidium weiter, die Kollegen sind gnadenlos und ich sehe mich schon auf der nächsten Weihnachtsfeier in einer Parodie wieder, wie die mir zeigen, wie ich im Heuhaufen die berühmte Nadel suche und dann ziehen die eine lange Stricknadel heraus und an der hängt ein fauler Apfel.“ Doris lachte: „Gudrun, du solltest die nächste Parodie über dich selber schreiben und spielen, toppe dich selber, überzeichne dich, damit auch dem größten Widersacher im Amt der Grünkohl mit Pinkel im Halse stecken bleibt.“ Gudrun lachte ebenfalls: „Ich wusste nicht, dass es überhaupt Widersacher gibt. Aber Spaß beiseite. Wenn du nichts dagegen hast, übernehmen wir diesen Fall, falls es denn einer ist. Wir sagen einfach, die Kollegen seien mit anderen Fällen gut eingedeckt und ein paar Fingerübungen könnten uns nicht schaden. Ist das in Ordnung? Du übernimmst natürlich die Führung.“ Doris meinte nach kurzem Überlegen: „Machen wir, wir halten aber alles auf kleiner Flamme. Treffen wir uns in einer halben Stunde bei dem Pfarrer?“ „Bis gleich, ich bin schon ganz aufgeregt und habe ein Kribbeln im Bauch wie damals, als ich meinen allerersten Fall bekam.“

      Am Ende von Holmerdingermoor, genau genommen schon etwas außerhalb, lag das Haus von Frau Alwine Uphoff. Das Haus war reetgedeckt, klein und duckte sich, so als erwartete es jeden Augenblick einen heftigen Sturm. In dem mit allerlei Sachen vollgestopften Haus war es dunkel. Es sah wie ein Museum aus, in dem man glauben konnte, die Zeit sei stehengeblieben, wäre da nicht die laut tickende, antike Standuhr, die mit ihren goldenen, ständig schwingenden Uhrentellern an einer Haltestange immer meldete, dass die Zeit unaufhörlich voran schritt. Alwine Uphoff sammelte immer noch, wenn es ihr geplagter Rücken zuließ, Kräuter aus dem Moor. Früher fuhr sie mit dem Fahrrad bis an das Ewige Meer, um Beeren und Kräuter für einen Tee gegen menschliche Beschwerden zusammeln. Früher hatte sie sich mit dem Dorfdoktor oft gestritten, welche Behandlungsmethode für die Menschen die Bessere wären. Heute akzeptierte und respektierte man sich gegenseitig und es kam schon vor, dass der Doktor erschöpft nach seinem letzten Patientenbesuch bei ihr noch kurz vor Mitternacht aufkreuzte, um sie um Rat zu fragen. Er wusste manchmal einfach nicht weiter. Und so gaben beide die Diskussion über das leidige Thema Schulmedizin gegen Heilkräuterbehandlung auf und arbeiteten ganz passabel zusammen.

      Nun saßen sich zwei alte Damen, die aus dem Dorf nicht wegzudenken waren, schweigend gegenüber. Der schwere Geruch einer Duftkerze hatte schon das dunkle Mobiliar durchzogen und das alte Holz war so im Laufe der Zeit gegen den Holzbock immun geworden. Edda Oltmanns war gleich nach dem Besuch aus der Bäckerei und dem Gespräch mit Doris