Название | Einen Verlängerten bitte |
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Автор произведения | Elisa Herzog |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738021011 |
Sues Herz raste. Dave endlich einmal live sehen. In Berlin! Endlich raus aus diesem Kaff, und wenn es nur für ein Wochenende war.
„Mike und Stefan fahren mit, Mike fährt.“
„Ich bin dabei“, rief Sue aufgeregt in den Hörer. „Wann genau ist das?“
„Nächsten Samstag.“
„Nein!“, rief Sue verzweifelt.
„Was ist?“
„Ich kann nicht!“
„Wieso?“
„Ich habe meinem Vater versprochen, im Geschäft zu bleiben, weil er auf Tour geht.“
Vanni schwieg. Solche familiären Verpflichtungen kannte die Tochter eines wohlhabenden Notars nicht. Vanni genoss alle Freiheiten, was sie auch weidlich ausnutzte.
„Kann der die Tour nicht eine Woche früher oder später machen? Dauernd hängst du in dem blöden Laden fest.“
Sue sah das genauso. Sie hasste den Fotoladen ihres Vaters am Marktplatz von Hallstatt. Dauernd musste man präsent sein, um ja keinen Schilling Umsatz zu versäumen. Vielleicht war sie auch ungerecht, denn ihr Vater arbeitete fast rund um die Uhr, damit es ihnen gut ging, und tat alles, um ihr die Mutter zu ersetzen, die einige Jahre zuvor an Krebs gestorben war. Franz Wallner, der gerne Fotografie auf einem anderen Niveau betrieben hätte als die Hallstätter auf ihren Familienfesten abzulichten, war an besagtem Wochenende wegen seines ureigensten Projekts unterwegs: Er machte Porträtaufnahmen von Bewohnern des Salzkammergutes. In der Art von Russell Lee in den 30er Jahren. Schwarzweiß, authentisch. Sue gefielen die Fotos, aber das Feuer der Begeisterung konnte sie nicht verstehen. Sie machte gerade eine Fotografenlehre, aber nur ihrem Vater zuliebe und weil sich nicht wusste, was sie sonst machen sollte. Sie wusste nur eins: Sie wollte weg, etwas von der Welt sehen, nicht lebendig begraben sein, eingeklemmt zwischen Felswänden und dem See.
„Nur zur Erinnerung“, meldete Vanni sich wieder. „Du bist achtzehn, volljährig und kannst machen, was du willst.“
„Ich glaube, volljährig bedeutet für meinen Vater etwas anderes als für das Gesetz.“
„Wird Zeit, dass sich das ändert“, sagte Vanni. „Du musst einfach mit. Depeche Mode. Berlin! Susi, das geht nicht ohne uns.“
Sues Vater sah das erwartungsgemäß anders.
„Es ist Hochsaison, wir können nicht das ganze Wochenende zusperren“, war sein knapper Kommentar.
„Wir werden schon nicht gleich tschari gehen“, schrie Sue verzweifelt.
„Was weißt du schon von Geld“, brummte er. „Wenn ich überall hingegangen wäre, wo ich hätte hin wollen ...“
„Dann sind wir ja schon zu zweit“, konterte Sue. „Dauernd muss ich in dem Scheiß-Laden stehen. Ich komme mir vor wie lebendig begraben. Und du haust ab in die Berge.“
„Als ob du freiwillig auf den Berg gehen würdest“, meinte Franz, nun etwas milder gestimmt. „Ich kann die Tour nicht absagen. Fünf Porträts sind drin, ich habe mich überall schon angemeldet. Ich halte mein Wort. Außerdem ist Berlin viel zu gefährlich. Da ist alles im Umbruch. Man hört da Dinge ...“
Sue schossen Tränen der Wut in die Augen. Wie sie das alles hasste! Diese dämlichen Fotos! Die waren doch nur bedrucktes Papier! Was war mit dem richtigen Leben? Sie wollte endlich etwas davon mitbekommen, aber ihr Vater erdrückte sie noch mit seiner Fürsorglichkeit. Sie wusste, dass er Angst hatte, sie nach ihrer Mutter auch noch zu verlieren. Aber merkte er denn nicht, dass er sie so zum Gehen zwang? Sie beschloss, nichts mehr zu sagen, denn ihr Entschluss stand sowieso fest: Sie würde fahren.
„Live-Konzerte von solchen Bands sind lange nicht so gut wie die Platten“, versuchte er sie zu trösten. „Ich geb’ dir Geld. Damit kannst du dir die neueste Platte von diesen Depeschlern kaufen.“
„Die habe ich doch schon längst“, gab Sue zurück und klebte die Tüte zu. Sie hatte gute Lust, diese ganzen Mistfotos zu zerreißen.
Zum Glück gab es einen Menschen, der irgendwie immer da war, wenn es zwischen Vater und Tochter ein Problem gab: Hilde, ihre Patentante. Sie verstand sofort, wie wichtig Sue dieses Konzert war, und bot an, den Dienst im Laden zu übernehmen. Hilde mit ihrer leutseligen Art war dafür sowieso besser geeignet als Sue, die sich nie sonderlich bemühte, ihre mangelnde Begeisterung zu verbergen.
Dave war großartig. Obwohl Sue viel zu weit von der Bühne entfernt war, spürte sie seine Präsenz bis in jede Faser ihres Körpers. Mit ihm verglichen waren Mike und Stefan zwei mickrige Bubis, die noch lange trainieren mussten, um Männer zu werden. Vanni, die mit ihren langen dunkelbraunen Haaren, ihrer Superfigur und ihrem Schmollmund wie eine Wiedergeburt von Uschi Obermeier aussah (sie selbst kannte diese Frau nicht, ihr Vater hatte sie auf Vannis Ähnlichkeit mit der Ikone der 68er aufmerksam gemacht) war bereits von einem Ring von Verehrern umgeben. Sue machte das nichts aus, denn mit Dave konnte es sowieso keiner der Typen hier aufnehmen.
Sie standen Körper an Körper gepresst in der Arena, alles war heiß und stickig und eng. Sue genoss jede Sekunde, bis sie völlig nassgeschwitzt gegen halb zwölf das Konzert verließen.
„Das war, das war...“ Sue fehlten die Worte.
„Und es ist noch nicht Schluss!“, rief Stefan aufgekratzt. „Jetzt wird gefeiert! Ich will rüber in den Osten. Da soll es so richtig abgehen.“
Sie landeten schließlich in einer Kellerkneipe irgendwo am Prenzlauer Berg. Die Musik dröhnte, die Luft war süß vom Geruch der Joints, und Sue fühlte sich leicht wie ein Vogel. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie tanzte, sie trank. Das war besser als alles, was sie bisher erlebt hatte. Irgendwann lachte sie nur noch, weil sie sich so frei fühlte.
Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie sich direkt auf die Schuhe eines Mannes im weißen Kittel übergab. Sie schämte sich so, dass sie keinen Ton herausbrachte. Außerdem wäre sprechen viel zu anstrengend gewesen. Ihr Körper fühlte sich an wie durch die Mangel gedreht.
„Na, haben Sie etwas zu heftig gefeiert?“ Der Mann im weißen Kittel sah sie prüfend an.
Er hatte wunderschöne Augen. Wie Bernstein mit Schokosplittern. Und auf seinen Schuhen thronte ihre gelbgrüne Kotze. Peinlicher ging es nicht mehr.
„Bin ich im Krankenhaus? Sind Sie ein Arzt?“, krächzte sie.
„Zweimal richtig geraten.“ Er fühlte ihren Puls. „Ich möchte Sie heute gerne zur Beobachtung hier behalten.“
„Das geht nicht!“
Er zog die Brauen nach oben.
„Ich muss unbedingt nach Hause.“ Ihr Vater würde sie umbringen.
„Warum?“
Sie biss die Lippen zusammen. Wenn sie jetzt noch sagte, dass ihr Vater sie eigentlich nicht hatte weglassen wollen, kam sie sich noch mehr vor wie ein dummes Kleinkind.
„Ich verstehe. Ein nicht ganz genehmigter Ausflug in die große Stadt.“ Er atmete tief durch. „Okay. Wir wollen nicht, dass Ihre Eltern sich unnötig Sorgen machen. Aber kein Alkohol und keine Joints mehr in den nächsten Tagen. Letzteres am besten gar nicht mehr.“
Sue nickte brav. Er hatte einen schnuckligen Akzent und war auch sonst irgendwie ganz süß. Und so jemandem versaute sie die Schuhe.
„Draußen sitzen drei Gestalten, die nur unwesentlich besser aussehen als Sie“, bemerkte er zum Schluss. „Ich nehme an, das sind Ihre Freunde.“ Er nickte ihr zu. „Passen Sie auf sich auf.“
Seltsamerweise bekam Sue Hunger, sobald sie das Krankenhaus verlassen hatten, und so landeten sie zwei Ecken weiter in einer Kneipe, die auf einer Tafel die besten Frikadellen der Stadt anpries.
Die faschierten Laibchen schmeckten auch wunderbar, bis zu dem Moment, als Sue bemerkte, dass der Arzt, IHR ARZT, das Lokal betreten hatte. Mit einem anderen Mann,